E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Wenner Patientenedukation revisited
2. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-6639-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Plädoyer für eine pädagogisch gerahmte Beratungspraxis
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7534-6639-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pflegerische Patientenedukation ist eine kommunikative Strategie zur Stärkung von Alltagskompetenz chronisch Kranker. Doch unter optimierten Bedingungen und angesichts der Not der durch Krankheit zermürbten Identitäten könnte sie wesentlich mehr leisten. Hierfür ist ein pädagogisches Framing der pflegerischen Patientenedukation erforderlich. Der Band stellt einen Vorschlag zur Diskussion, wie pflegerische Patientenedukation pädagogisch fundiert und als Ermöglichungsraum die Entwicklung von Selbstlern- und Selbstermächtigungskompetenzen unterstützen kann. Hierzu greift der Autor auf Engeströms Theorie expansiven Lernens als heuristische Schablone für die Analyse und Gestaltung einer Patient-Pflege-Begegnung zurück.
Der Autor Markus Wenner arbeitet als Pflegefachkraft, freiberuflicher Dozent und Fachmedienredakteur. Sein staatl. Examen zum Krankenpfleger legte er 1995 ab. Es folgten berufliche Etappen in Mainz, Stuttgart, Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen, verbunden mit zahlreichen Fort- und Weiterbildungsaktivitäten sowie einem Studium der Politikwissenschaft (Magister Artium) und dem Studium der Erwachsenenpädagogik (Master of Arts). Mehr zum Autor: https://markuswenner.de
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2.2 Strukturelle Versorgungslücken Die folgenden Kapitel werden die herausfordernde Situation mit chronischer Krankheit aus Subjektperspektive umfassend analysieren. Für einen Überblick sollen an dieser Stelle nur die wichtigsten strukturellen Defizite benannt werden, um weiterführend die historischen und normativen Implikationen für die pflegerische Versorgungsgestaltung plausibel zu machen. Diese strukturellen Mängel, die seit Jahrzehnten diskutiert und bislang nur ansatzweise kompensiert werden konnten, lassen sich schlagwortartig zusammenfassen: Mangel an interprofessioneller und intersektoraler Kommunikation (Stichwort: „insulare Arbeitsweise“ [Schaeffer 2006; vgl. auch Klingler/ Marckmann 2014]), desintegrierte, inkohärente Versorgung; insuffiziente Schnittstellenversorgung zwischen unterschiedlichen Versorgungssettings und korrespondierenden Kostenträgern (vgl. Lang et al. 2019), unzureichende quantitative und qualitative Information des Patienten zu Versorgungsangeboten, Therapiealternativen und Unterstützungsleitungen (vgl. Vogt/ Berens/Schaeffer 2020), Minderbewertung der subjektiven Bewältigungserfordernisse der chronisch kranken Person mit der Konsequenz ihrer Schematisierung und Objektivierung (vgl. Klingler/ Marckmann 2014). Kapitel 2.1 konnte herausarbeiten, dass o.g. systemimmanente Defizite hohe Kosten verursachen. Uns sollen jedoch nachfolgend die in Summe resultierenden persönlichen Anpassungs- und Bewältigungskosten bzw. die Minderbewertung der subjektiven Bewältigungserfordernisse von chronisch kranken Menschen mit der Konsequenz ihrer Schematisierung und Objektivierung interessieren. 2.3 Implikationen für Pflegende und für die pflegerische Patientenedukation Professionell Pflegende begegnen chronisch kranken Menschen in allen Versorgungssektoren; mittlerweile machen sie die Mehrheit der zu betreuenden Patienten aus. Die hiermit verbunden Aufgaben sind komplex und anspruchsvoll; sie beinhalten neben technisch-instrumentellem Pflegehandelns (sog. Hands-on-Pflege oder Verrichtungspflege): das Monitoring/ die Krankenbeobachtung bzw. die Einleitung von Erstmaßnahmen, die Aktivierung von Patienten und den langfristigen Erhalt vorhandener Ressourcen, auch die des sozialen Umfeldes, die Ermittlung und Förderung von Selbstmanagementkompetenzen, die Synchronisation der Versorgung, an der i.d.R. unterschiedliche Institutionen und Professionen mit divergierenden Zielen beteiligt sind; Ziel ist, dass alle Leistungen „zu einem integrierten Versorgungspaket zusammenfließen“ (Schaeffer 2006, S. 198), die Unterstützung des chronisch kranken Menschen zu sozialer Teilhabe und „eigenverantworteter Lebenspraxis“ (a.a.O., 199). Schaeffer konstatiert, dass Unterstützungs- und Versorgungsbedarfe von chronisch Kranken maßgeblich an professionell Pflegende herangetragen würden. Ein Grund hierfür könnte sein, dass Pflegende mehr Zeit mit Patienten und deren Angehörigen verbringen, Verlaufsschwankungen kontinuierlicher wahrnehmen sowie im Vergleich zu Medizinern eher einen systemischen Blick auf Patienten und deren Umfeld haben. Schaeffer befürwortet, dass Pflegende eine „Schlüsselrolle für die Versorgungsgestaltung“ von chronisch Kranken innehaben sollten (a.a.O., S. 197), auch wenn die Steuerungshoheit weitestgehend durch Mediziner beansprucht wird (vgl. a.a.O. 196). Trotz dieser Widrigkeit und fehlender Rückfinanzierung durch die Kostenträger entstanden auf der Grundlage von engagierten Einzelinitiativen erste Erfolge. So wurde 2004 erstmalig ein nationaler Expertenstandard „Entlassungsmanagement in der Pflege“ konsentiert und verabschiedet (vgl. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege), der durch flächendeckende Aufmerksamkeit zunächst innerhalb der Berufsgruppe der beruflich Pflegenden letztlich dazu beitrug, dass der Paragraf 39 SGB V seit 2017 die Kliniken gesetzlich auf einen geordneten Patientenübergang von der stationären Krankenhausversorgung in eine weitergehende medizinische, rehabilitative oder pflegerische Versorgung verpflichtet5. Auch die pflegerische Patientenedukation ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich auf der Grundlage inoffiziellen Engagements Innovationen verankern konnten (vgl. https://patientenedukation.de/der-verein/historie). Die Idee der pflegerischen Patientenedukation entstand Ende der neunziger Jahre (des 20. Jahrhunderts) vor dem Hintergrund defizitärer Schulungs- und Beratungseinrichtungen für chronisch Kranke, zunächst informell und ohne expliziten Auftrag. Mittlerweile hat sich die pflegerische Patientenedukation in weiten Teilen der Praxis etabliert und ist als genuine Pflegetätigkeit im Pflegeberufegesetz beschrieben (vgl. Deutscher Bundestag 2017)6. Trotz dieser bemerkenswerten Entwicklung geschehen Maßnahmen der pflegerischen Patientenedukation in der Praxis eher zufällig und unstrukturiert, nicht zuletzt aus leistungsrechtlichen Gründen (vgl. Gröning und Gerhold 2016, S. 48). Darüber hinaus erfolgt sie bevorzugt unter medizinischen, am Körper bzw. an Pathologie orientierten Vorzeichen (vgl. Schroeter 2005b, S. 394 f.). Häufig ist pflegerische Patientenedukation mit einer instruktionistisch gefärbten Wissensvermittlung assoziiert, verknüpft mit der (implizit) behavioristischen Annahme, mehr Wissen aufseiten des Patienten führe eo ipso zu erwünschten Verhaltensanpassungen im Sinne einer erhöhten Compliance (vgl. Hurrelmann 2001, S. 102). Der vorangegangene Abschnitt konnte eine parallele Entwicklung von Bedeutungszuwachs chronischer Erkrankungen in Deutschland und pflegerisch-professioneller Interventionen, u.a. manifestiert in Form einer pflegerischen Patientenedukation, plausibel nachzeichnen (wenn auch nicht im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Determinismus begründen). Doch trotz forcierter Professionalisierungsbemühungen der Berufsgruppe Pflege scheint diese für die anspruchsvollen Anforderungen hinsichtlich der Versorgung chronisch Kranker nur bedingt gerüstet zu sein (vgl. Schaeffer 2006, S. 192). Versorgungsqualität zu optimieren, ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes Ziel, um Alltagskompetenz von chronisch Kranken zu steigern. Ein solches Ziel erfordert mehr „Sicherheitsarbeit“ (a.a.O., S. 194) und Unterstützung der Betroffenen zur Kontrollwahrung über ihr Leben (vgl. a.a.O., S. 195). Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für eine gelingende Versorgungsgestaltung haben daher: „Maßnahmen zur Förderung der personalen Adaptions- und Bewältigungskompetenz, zur sozialen und emotionalen Unterstützung und vor allem zur Stärkung des Kontrollvermögens und der Selbstmanagementfähigkeit.“ (ebd.) Insofern muss der Anspruch an professionell Pflegende so formuliert werden, dass eine ernst gemeinte Stärkung der Alltagskompetenz – wie diese nun einmal explizites Ziel der pflegerischen Patientenedukation ist (vgl. Zegelin 2015, S. 24) – ohne synchrone Betonung von Partnerschaftlichkeit nur eingeschränkt realisiert werden kann. Mit der pädagogisch unterfütterten Belebung von Partnerschaftlichkeit in der Patient-Pflege-Interaktion korrespondiert die Unterstützung zur Veränderung von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern, sowohl bei Patienten als auch bei den Pflegenden. Eine solche Lernaufgabe und ihre -ergebnisse erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Gelingen eines identitätsstützenden Alltags7. Die in dieser Erörterung vorgestellte Lösung für dieses praktische Problem lautet daher, pflegerische Patientenedukation als Ermöglichungsraum für expansives Lernen im Verständnis von Yrjö Engeström zu entwickeln. Die Theorie des expansiven Lernens trägt insbesondere dem Auftauchen von Ambivalenzen und Perturbationen als Lernanlass Rechnung, aber auch der Veränderung von Systemen in der Dialektik von Miteinanderarbeiten und Lernen. Der Weg dorthin wird in Kapitel 4 und 5 geebnet. Zur Veranschaulichung und weiteren Bezugnahme zum Praxisfeld muss nachfolgend die sehr heterogene Gruppe der chronisch Kranken eingeschränkt werden. Im impliziten und expliziten Fokus der weiteren Analyse und Entfaltung einer modifizierten pflegerischen Patientenedukation stehen daher Menschen aus einer besonders vulnerablen Patientengruppe, bei denen Defizite der Versorgung bedrohlich kulminieren können und die intensive, sektorenübergreifende Unterstützung benötigen, auch wenn die Erkenntnisse aus dieser Studie auf alle chronisch kranken Menschen mit Unterstützungsbedarf übertragbar sein sollen. Gemeint sind Menschen mit infauster Diagnose, v.a. jedoch an malignen Neubildungen erkrankte Menschen in einer Palliativ-Therapie-Phase8. Laut S3-Leitlinie Palliativmedizin soll einem Patienten bereits ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung eine Palliativversorgung zumindest angeboten werden, auch parallel zur laufenden Tumortherapie (vgl. Leitlinienprogramm Onkologie 2020, S. 46 ff.). In der Praxis gestaltet sich der Übergang in die Palliativversorgung jedoch fließend bzw. hängt u.a. davon ab, ob der Patient unter schwer...




