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E-Book, Deutsch, 168 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm, Gewicht: 205 g

Wenger Verbotene Lieder

Eine afghanische Sängerin verliert ihre Heimat
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7272-6154-1
Verlag: Stämpfli Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine afghanische Sängerin verliert ihre Heimat

E-Book, Deutsch, 168 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm, Gewicht: 205 g

ISBN: 978-3-7272-6154-1
Verlag: Stämpfli Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Afghanische Frauen erhielten das Wahlrecht acht Jahre vor den Schweizerinnen. In den siebziger Jahren war Kabul eine Metropole, wo Frauen in kurzen Röcken und ohne Kopftuch durch die Strassen flanierten. Jetzt ist alles anders. Wie wurde der ehemalige Sehnsuchtsort Afghanistan zu einem Land, geprägt von Krieg und Hoffnungslosigkeit? Karin Wenger sucht auf ihren Reisen durch das Land nach Antworten. Sie erzählt von der einst angesehenen Sängerin, Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Mina, die sie seit zehn Jahren begleitet. Minas Leben war voller Hoffnung und Musik - bis sie ihre Heimat verlor. Die SRF-Korrespondentin berichtet auch von ihren Einsätzen mit der US-Armee und ihren Erlebnissen in den Drogenanbaugebieten - Afghanistan ist weltweiter Hauptlieferant von Opium. Der NZZ-Journalist Andreas Babst war vor Ort, als die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan erneut übernommen haben. Im Nachwort schildert er seine Eindrücke vom Leben in diesem «neuen» Afghanistan.

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Minas Kindheit zwischen Afghanistan und Iran
Mina erwartet mich an diesem Morgen des 22. April 2011 in einer Ecke des Hotelempfangsraums, eingehüllt in einen schwarz-weissen Tschador mit einem Muster, das an eine Tapete erinnert. Neben ihr steht ein Mann, etwas grösser als sie, in weisser, traditioneller Kleidung. Er eilt uns mit langen Schritten entgegen, sie aber rührt sich nicht vom Fleck. Den Tschador hat sie eng um den Körper gewickelt, über den Kopf und bis unters Kinn gezogen. Trotz dieser Verhüllung ist ihre Schönheit sofort erkennbar, ihre fein geschnittene Nase, das kleine Grübchen unter dem sanft geschwungenen Mund und ihre dunklen Augen, die Entschlossenheit ausstrahlen. Als ob die mädchenhafte Leichtigkeit noch nicht ganz gewichen und die Ernsthaftigkeit des Frauseins noch nicht ganz in ihr Leben eingezogen wären. Sie hebt den Kopf, nickt, sagt: «Salam», Frieden. Ein kriegsversehrtes Land, in dem man sich nichts mehr wünscht als das, es bei jeder Begrüssung wiederholt: Frieden. Erst im kleinen Restaurant dieses unscheinbaren Hotels in Herat legt Mina ihren Tschador ab. Jetzt kommt ihr lockiges, schwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille reicht, unter dem bunten Kopftuch zum Vorschein. Sie trägt enganliegende Jeans und spitze Schuhe, staubig von Herats Strassen. Der Mann hat ihr einen Stuhl vor einen Tisch gerückt, ausser Hörweite von anderen Gästen. Er heisst Mustafa. Die beiden haben erst vor kurzem geheiratet. Mustafa sagt wenig, sitzt still da und schaut seine Frau bewundernd an, als sie mit sanfter, melodiöser Stimme ihre Geschichte zu erzählen beginnt. Ich heisse Mina Amani, bin Schauspielerin, Sängerin und Fernsehmoderatorin. Geboren bin ich am 21. August 1989, aber wie viele Afghaninnen und Afghanen habe ich keinen Geburtsschein. In meinem Pass steht deshalb der 31. Dezember 1988 als Geburtsdatum. Viele Afghanen kennen ihr Geburtsdatum gar nicht. Sie sagen einfach: «Ich bin im Jahr der grossen Flut geboren» oder «als der grosse Schnee kam». Schon als ich fünf Jahre alt war, stand ich oft vor dem Spiegel und stellte mir vor, ich sei Fernsehmoderatorin. Ich sagte dann zu meinem Spiegelbild: «Hallo, erfreut, Sie hier begrüssen zu dürfen, bitte stellen Sie sich vor.» Ich träumte davon, auf der grossen Bühne Theater zu spielen, Fernsehshows zu moderieren und zu singen wie die Sängerin Googoosh. Im Iran ist sie die Popikone schlechthin, eine mutige Frau mit einer traurigen Kindheit und einem Leben voller Schwierigkeiten. Nach der iranischen Revolution 1979 durfte sie zwanzig Jahre lang nicht singen und auftreten, weil das Frauen verboten war. Ich habe jetzt auch schon lange nicht mehr gesungen und bin nicht mehr aufgetreten. Aber ich denke immer an Googoosh, wie stark und unbesiegbar sie war, wie sie alles still durchlitten hat und am Ende wieder auf der Bühne stand. Ich bin sicher, dass ich irgendwann wieder singen werde. Genau wie Googoosh wusste auch ich schon früh, dass ich es eines Tages schaffen werde. Doch was ich als kleines Mädchen noch nicht ahnte, war, dass Frauen in Afghanistan immer einen Preis für ihren Erfolg zahlen. Davon kann ich ein Lied singen. Meine Eltern wurden beide in Herat geboren, ich jedoch kam in der iranischen Stadt Mashhad zur Welt, im Mehrabad-­Viertel, in der Nähe des heiligen Schreins. Meine Mutter Rahima wollte mich unbedingt Mina taufen, aber mein Vater Ghollam Sarwar erlaubte das nicht. Er sagte, ich müsse einen Namen aus dem Koran bekommen. Deshalb steht in meiner Geburtsurkunde Ameneh, was etwa bedeutet: jemand, der einen tiefen Glauben hat. Dabei bin ich nicht besonders religiös, bete selten und lese nur ab und zu im Koran. Trotzdem glaube ich an Gott und spreche mit ihm. Immer wieder frage ich ihn, was er mit mir vorhabe, aber noch hat er mir nicht geantwortet. Seit ich mich erinnern kann, nennt mich niemand Ameneh. Mein Vater hat zwar bestimmt, welcher Name in meinem Pass steht, aber am Ende waren es meine Mütter, die meinen Rufnamen bestimmten. Ich habe zwei Mütter, eine leibliche und die, die mich aufgezogen hat. Beide sind stark, und beide hatten ein schwieriges Leben. Starke Frauen mit grossen Leidensgeschichten gehören zu meinem Leben, ja wahrscheinlich gehören sie ganz einfach zu Afghanistan und dem Iran. Manche Lebens- und Leidensgeschichten wiederholen sich von Generation zu Generation. Als ob wir willenlos die Spur verfolgten, die andere für uns gezogen haben, unfähig, unseren eigenen Weg zu finden. Manchmal frage ich mich, ob es nur meiner Familie nicht gelingt, diesen Kreislauf zu durchbrechen, oder ob das auch anderen so geht. Als meine Grossmutter meine Mutter in Herat zur Welt brachte, war ihr Mann Soldat in der afghanischen Armee. Damals herrschte kein Krieg in Afghanistan, aber mein Grossvater war ein Hitzkopf, und bei einem Streit mit anderen Soldaten wurde er erschossen. So wurde meine Mutter, kaum geboren, zur Halbwaise. Die Schwiegereltern duldeten meine Grossmutter mit ihrem Baby noch eine Weile, aber dann sagten sie zu ihr: «Du bist jung und hast ein Kind, wir haben keinen Platz mehr für dich in unserem Haus. Geh und such dir einen anderen Ort.» Es gab viele verwitwete Frauen, weil es schon damals viele Konflikte gab. Und es gab auch genügend verwitwete Männer, weil Frauen oft bei der Geburt ihrer Kinder starben. Nach dem Tod ihrer Männer dauerte es oft nicht lange, bis die Frauen wiederverheiratet wurden. So war das auch bei meiner Grossmutter. Der Witwer, der ihr Mann wurde, war viel älter als sie und hatte bereits Kinder. Als meine Mutter noch ein Mädchen war, sagte ihr Stiefvater zu ihr: «Du bist ein Waisenkind und brauchst einen Mann. Du heiratest jetzt meinen Sohn.» Sie wollte das nicht, doch die Hochzeit stand bereits fest. Mit elf Jahren wurde meine Mutter die Frau ihres vierzehn Jahre älteren Stiefbruders, als 13-Jährige brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Das war 1979, kurz nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, dem Beginn von jahrzehntelangen Kriegen. Mein Vater war zuerst Regierungssoldat, doch dann schloss er sich den Mudschaheddin an und kämpfte gegen die Eindringlinge. Das Paar zog in den Iran nach Mashhad, und mein Vater pendelte zwischen dem Iran und Afghanistan hin und her. Im Iran fuhr er Lastwagen, um Geld zu verdienen, in Afghanistan kämpfte er. Als meine Mutter 22 Jahre alt war, wurde sie mit mir schwanger. Sie wollte längst keine Kinder mehr und schlug sich immer und immer wieder auf den Bauch. Doch es half nichts, ich wollte auf diese Welt. Der Arzt fragte sie: «Wie viele Kinder haben Sie?» – «Sechs.» – «Sechs Kinder in Ihrem Alter, das ist doch Selbstmord!», empörte er sich und sterilisierte sie, ohne ihr Einverständnis. Im Dezember 1979 marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Das Land wird zum Opfer im Stellvertreterkrieg zwischen der Sowjetunion und anderen Staaten wie den USA und Saudi-Arabien. Die sowjetische ­Besatzung dauert ein Jahrzehnt. In dieser Zeit werden verschiedene islamistische Rebellengruppen, die sogenannten Mud­schaheddin und ihre Kriegsfürsten, im Kampf gegen die Sowjets von den USA, anderen NATO-Staaten, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützt. Auf den Abzug der Sowjets 1989 folgt jedoch nicht Frieden, sondern ein jahrelanger und grausamer Bürgerkrieg, in dem die unterschiedlichen Kriegsfürsten und Mudschaheddin-Gruppen um die Vorherrschaft im Land kämpfen. Dabei legen sie Kabul und andere Städte zu grossen Teilen in Schutt und Asche, sie treiben das Land in den Ruin und die Menschen in bittere Armut oder ins ausländische Exil. Der Bürgerkrieg in Afghanistan war für mich weit weg. Wir lebten ja im Iran. Mein Alltag war von einer anderen Art Bürgerkrieg geprägt – dem Krieg zwischen meinen Eltern. Es war, als hätte sich mein Vater ein neues Schlachtfeld, einen neuen Gegner gesucht, nachdem er den Krieg in seinem Heimatland hinter sich gelassen hatte. Das Schlachtfeld war unsere Wohnung, meine Mutter war der Gegner, sie versteckte sich jedes Mal, wenn Vater nach Hause kam. Sie bat ihre Eltern immer wieder, sich scheiden lassen zu dürfen, aber weder meine Grosseltern noch mein Vater willigten ein. Erst nach sechs Kindern und mehr als zehn Jahren Ehe, als sie drohte, sich umzubringen, trennten sich meine Eltern. Ich war damals ein Jahr alt. Natürlich wollte uns Mutter bei sich behalten, welche Mutter gibt ihre Kinder schon freiwillig her? Sie flehte ihn an: «Nimm alle anderen Kinder, aber lass mir wenigstens Mina, sie ist so klein.» Aber mein Vater verliess Mashhad und nahm uns alle mit. Ich glaube, die Gerüchte über ihn und die Scheidung haben ihn aus der Stadt vertrieben. Wir zogen nach Ahvaz, nicht weit weg von der Grenze zu Kuwait. Doch Vater konnte nicht auf sechs Kinder aufpassen, so heiratete er kurz nach der Scheidung die 17-jährige Fateme, eine Iranerin. Sie hatte noch keine Kinder und sollte sich um uns kümmern. Von nun an lebten wir in ihrer Heimat, einer kleinen Stadt in der Nähe von Ahvaz. Wir nannten Fateme Mutter, da sie es war, die uns grosszog, unsere richtige Mutter verschwand ganz aus unserem Leben. Mein Vater arbeitete für die staatliche ira­nische Ölfirma und fuhr Tanklaster von Ahvaz nach Mashhad. Wir sahen ihn nur selten, meist war er unterwegs. Als wir Jahre später nach Afghanistan zurückkehrten, war er dankbar, dass er gelernt hatte, grosse Lastwagen zu fahren. Vater sagte uns immer, er werde nicht zulassen, dass wir unsere richtige Mutter jemals wiedersehen würden. Doch auch wenn er ihren Namen nicht mehr aussprach und sie unter unserem Dach nicht mehr dulden wollte, war sie immer präsent wie ein dunkler Geist, der bei allen möglichen Gelegenheiten aus seinem Verlies kroch. Mein Vater war äusserst reizbar, und wenn ich ihn...



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