Wenger | Bis zum nächsten Monsun | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 234 mm, Gewicht: 539 g

Wenger Bis zum nächsten Monsun

Menschen in Extremsituationen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7272-6156-5
Verlag: Stämpfli Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Menschen in Extremsituationen

E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 234 mm, Gewicht: 539 g

ISBN: 978-3-7272-6156-5
Verlag: Stämpfli Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hier bricht ein Gebäude ein, da herrscht Krieg, sonst wo wütet eine Drogenbande - wir lesen die Schlagzeilen und hören die News. Die Berichte machen uns betroffen, und trotzdem vergessen wir sie schnell, denn da sind ja schon die nächsten. Die Asienkorrespondentin Karin Wenger hat vor Jahren angefangen, Personen, denen sie bei ihrer Newsberichterstattung begegnet ist, erneut aufzusuchen. Die so entstandenen Reportagen zeigen die Folgen von Krieg, Korruption, Fundamentalismus und billiger Kleiderproduktion drastisch auf. Wie lebt jemand weiter, der nur knapp überlebt hat? Woher nehmen Menschen die Kraft, weiterzumachen, ohne zu zerbrechen - weder physisch noch psychisch -, obwohl sie Grausames erlebt haben? Wer überlebt einfach? Wer schöpft Kraft aus dem Erlebten und entdeckt die Welt neu, und was hilft ihm dabei?

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Alles nur für die Mutter
Eine schmale Treppe führt zu Youk Chhangs Büro empor. Licht flutet durch die grossen Glasfenster auf gut bestückte Bücherregale. Hinter dem Schreibtisch hängt ein Gemälde: ein Buddha im Lotussitz, die Hände im Schoss ineinandergelegt. Youk Chhang schaut auf. Ein Lächeln breitet sich über sein rundes Gesicht, die ­Augen sind leicht zusammengekniffen, darüber ein voller, aber grauer Haarschopf. Später werde ich mich fragen, wie es möglich ist, dass einer, der so viel Leid erfahren hat, eine so gütige Stimme, ein so warmes Lächeln hat. Noch später werde ich merken, dass seine Antworten einen gehässigen Unterton bekommen, wenn er glaubt, die Kontrolle zu verlieren oder zu viel preisgegeben zu haben. Youk Chhang ist ein Überlebender der Schreckensherrschaft der Roten Khmer, Journalist, Politologe und Direktor des Dokumentationszentrums von Kambodscha seit dessen Gründung Mitte der neunziger Jahre in Phnom Penh. Damals war das Zentrum, auch DC-Cam genannt, Teil des Kambodscha-Genozid-Programms der US-amerikanischen Yale University. Seit 1997 ist es unabhängig, wird aber weiterhin auch durch Regierungsprogramme der USA, andere Länder und private Spender finanziert. Über fünfzig Forscherinnen und Forscher arbeiten im Zentrum zu Themen rund um den Völkermord in Kambodscha. Youk Chhang steht auf und tritt zur Begrüssung vor seinen grossen Schreibtisch. Besucher zu empfangen und ihnen Geschichten zu erzählen, seine wie auch die von anderen Überlebenden, gehört fest zu seinem Alltag. Denn wer sich mit der Geschichte Kambodschas und der Roten Khmer auseinandersetzt, besucht früher oder später das Dokumentationszentrum und Youk Chhang. So auch ich an diesem Tag im Oktober 2016. Kaum jemand sonst weiss so viel über den Genozid, hat ihn selbst erlebt und überlebt, wie er. Ich wurde 1961, im Jahr des Büffels, in Phnom Penh geboren. Ich bin ein Überlebender der Roten Khmer, aber ein Opfer bin ich nicht mehr. Das sage ich allen, die in mir das Opfer sehen wollen. Ein Opfer zu sein, bedeutet, dass du eine unüberwindbare Barriere, eine Mauer zwischen dir und den anderen, errichtest. Wie aber willst du leben, andere verstehen, Beziehungen aufbauen, wenn du dich einmauerst? Wenn du wie ein Opfer lebst, gibst du alle Macht den Tätern. Ich aber lasse nicht zu, dass die Roten Khmer mein Leben bestimmen, dass sie mich von der Welt isolieren, deshalb habe ich meine Opferidentität abgestreift. Ich habe meinem Leben einen Sinn gegeben. Aber vielleicht sollte ich anders beginnen, denn alles, was ich mache, tue ich für meine Mutter. Meine Mutter war ein Bauernmädchen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. Aber sie kann Tabak zu Zigaretten rollen, Fisch zubereiten und Stoffe weben. Das hat uns später das Leben gerettet. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg, den Vietnamkrieg, den Staatsstreich, den Völkermord, die vietnamesische Invasion. Sie lebte in Armut, und als ihr Leben endlich stabiler wurde, kam die Globalisierung. Heute ist sie isoliert von dieser modernen Welt. Aber noch immer lebt sie, seit fast einem Jahrhundert. Glücklich war sie wohl nie wirklich. Selten habe ich sie lächeln sehen. Sie hatte zehn Kinder, ich war das jüngste. Als ich ein kleiner Junge war, schlief ich in ihrem Bett. Jeden Morgen schaute ich ihr nach, wenn sie wie alle Frauen ihren blauen Korb nahm und mit dem Bus zum Markt fuhr. Zuerst kaufte sie Fisch, dann Gemüse, dann einen kleinen Kuchen für die Kinder. Wenn sie zurückkam, rannte ich ihr entgegen, um den Kuchen in Empfang zu nehmen. Während des Monsuns bereitete sie frischen Fisch für mich zu. Früchte versteckte sie in den grossen Gefässen, in denen sie auch Reis aufbewahrte. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, suchte ich nach ihnen. Manchmal versteckte sie auch ihren Geldbeutel irgendwo in einer Ritze in der Wand. Sie wusste genau, dass ich danach suchen und ein paar Münzen rausnehmen würde. Meine Mutter und ich waren uns nahe, aber die Nähe war flüchtig und kurz. Ich habe mich oft gewundert, wieso sie so wenig Zeit mit mir verbrachte. Als ich sie viel später danach fragte, antwortete sie: «Sorge dich nicht um deine Zukunft. Als ich mit dir schwanger war, hatte ich einen Traum. Ich verlor dich im Wald, weinte und rief nach dir, bis ich dich schliesslich auf einer Bergspitze entdeckte. Du sassest dort oben und hast nach Osten geschaut. Da wusste ich: Irgendwann würdest du eine wichtige Person werden, aber dafür musste ich dich verlassen und im Wald verlieren.» Meine Mutter glaubt an die Kraft ihrer Träume, so wie alle Kambodschaner. Ich aber musste als Kind lernen, alleine zurechtzukommen. Ich wuchs in der Stadt auf, bastelte Drachen, pflanzte Blumen und war ein ziemlich unabhängiges Kind. Doch im Nachbarland Vietnam herrschte Krieg. Davon blieben auch wir nicht verschont. Der kambodschanische Albtraum beginnt auf der anderen Seite der Grenze in Vietnam, oder präziser in Washington D. C. Der Vietnamkrieg ist schon seit den 1950er Jahren in vollem Gang, ohne die amerikanischen Kriegshandlungen hätte es die brutale Herrschaft der Roten Khmer wohl nie gegeben. Die Amerikaner schaffen es nicht, den Vietcong in Vietnam zu besiegen. An einem Sonntag im März 1969 nach dem Kirchgang beschliessen Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger, ihre Angriffe auf Kambodscha auszuweiten. So wollen sie die Versorgungsrouten und die Verstecke des Vietcongs zerstören. Die geheime Bombenkampagne, von der nicht einmal der Kongress etwas weiss, trägt den Codenamen Menu, aufgeteilt in Frühstück, Mittagessen, Snack, Abendessen und Dessert. Ein Jahr lang bombardieren amerikanische B-52 den Osten Kambodschas fast flächendeckend. Doch der Erfolg bleibt aus. Deshalb ruft Präsident Nixon am 9. Dezember 1970 Kissinger an. Das Gesprächsprotokoll wurde inzwischen freigegeben und ist auf der Website des National Security Archive zugänglich. Nixon befiehlt seinem Sicherheitsberater Folgendes: Nixon: Ich will, dass alles, was fliegen kann, in Richtung Kambodscha startet und ihnen die Hölle heiss macht. Es gibt kein Limit bezüglich Meilen oder Kosten. Ist das klar? Kissinger: Verstanden, Herr Präsident. Nixon: Ich will, dass sie auf alles schiessen. Sie sollen die grossen Flugzeuge nehmen und die kleinen und alles, was wir haben. Wir müssen ihnen einen kleinen Schock versetzen. (…) Das ist unsere Chance, diesen gottverdammten Krieg zu gewinnen, denn am Konferenztisch werden wir nichts erreichen. Die US-Luftwaffe bombardiert weite Teile Kambodschas. Lange kann diese Kampagne nicht geheim gehalten werden. Deshalb wendet sich Präsident Nixon am 30. April 1970 in einer Fernsehansprache an die Nation – mit einer Lüge: «Guten Abend, liebe Landsleute. (…) Um unsere Männer in Vietnam zu schützen und einen erfolgreichen Abzug zu garantieren, habe ich beschlossen, dass jetzt die Zeit reif ist zum Handeln. (…) Kambodscha ist ein kleines, neutrales Land mit sieben Millionen Menschen. Als Amerikaner haben wir die Neutralität von Kambodscha immer respektiert. Nicht so die Nordvietnamesen. Sie haben in den letzten fünf Jahren militärische Stützpunkte entlang der gesamten kambodschanischen Grenze errichtet, auch auf kambodschanischer Seite.» Deshalb habe er beschlossen, die Verstecke des Feindes anzugreifen und zu zerstören. Kambodscha ist auf einmal mitten im Krieg – mit katastrophalen Folgen. Der Vietnamveteran Micheal Clodfelter schreibt in seinem Buch «Vietnam in Military Statistics: A History of the Indochina Wars, 1772–1991», dass die Amerikaner von Oktober 1965 bis August 1973 rund 7,7 Millionen Tonnen Bomben auf Südostasien abgeworfen hätten – mehr als im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg zusammen. Laut einer Studie von Taylor Owen und Professor Ben Kiernan im Rahmen des Yale Genocide Studies Program an der Yale University bombardieren die Amerikaner im selben Zeitraum mehr als 100 000 unterschiedliche Orte in Kambodscha mit 2,7 Millionen Tonnen Bomben – viel mehr Bomben, als auf Nordvietnam abgeworfen werden. Die Bombardierung von Kambodscha begann laut der Yale-Studie lange vor Nixons Präsidentschaft, unter Präsident Lyndon Johnson. Nach Schätzungen sterben Hunderttausende im amerikanischen Bomben­hagel. Die Landwirtschaftsproduktion des Landes wird weitgehend zerstört. Die Bevölkerung hungert. Der kambodschanische König Sihanouk, der das Land seit 1953, seit der vollständigen Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht, regiert, wird 1970 von einer proamerikanischen Regierung gestürzt. Diese schafft die Monarchie ab, verbreitet jedoch nicht Hoffnung, sondern Korruption. Die Frustration über die neue Regierung und die amerikanischen Bomben sind der Nährboden, auf dem die Roten Khmer und ihre Guerillabewegung, die bislang aus dem Untergrund agiert, gedeihen und immer mehr Unterstützung in der Landbevölkerung finden. Die Flächenbombardements der USA hinterlassen auch Zehntausende von Kriegswaisen, die von den Roten Khmer aufgenommen und zu Kindersoldaten ausgebildet werden. Sie und weitere ihrer Anhänger werden im Kampf gegen kambodschanische Regierungssoldaten eingesetzt – ein Kampf, der in einen grausamen Bürgerkrieg mündet, der die Stadt- und Landbevölkerung zerreisst und das Land zerstört. Wer aber alles verliert, wie viele in Kambodscha, wird anfällig für Heilsversprechen, für Ideologien, für Diktatoren. Die Roten Khmer und ihr Anführer Pol Pot, oder Saloth Sar, wie er mit richtigem Namen heisst, bieten all das. Mit dem Ende des Vietnamkriegs am 30. April 1975 verändert sich auch die Machtdynamik in Kambodscha....



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