Buch, Deutsch, 180 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 140 mm
Buch, Deutsch, 180 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 140 mm
ISBN: 978-3-910948-10-5
Verlag: Dagyeli Verlag
In einem gottverlassenen Fischerdorf am Kaspischen Meer trifft der Geist einer toten jungen Frau auf die Nachfahren ihrer Mörder, die ihrerseits noch gar nicht recht glauben wollen, dass sie für ein Sanatoriumsprojekt in die Stadt zwangsumgesiedelt werden sollen. Einzig der stolze Fischer Araz wehrt sich und gerät prompt in die Fänge des allmächtigen Sicherheitsapparates. Während Aypi auf Geisterart für mysteriöse Todesfälle unter Bonzen und Mitläufern sorgt, legt sich Araz in seiner Sturheit ausgerechnet mit ihr an und bekommt die Gewalt des Meeres zu spüren.
Der exilturkmenische Schriftsteller Ak Welsapar verbindet in seinem Roman die deutliche Kritik an Frauenfeindlichkeit und Xenophobie mit einer burlesken Schilderung (post-)sowjetischer Furcht und Gleichgültigkeit. »Die Legende von Aypi« wurde 2016 mit dem Schwedischen Kulturpreis ausgezeichnet.
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Für Aypi auf dem Meeresgrund hatte sich in den drei Jahrhunderten die Vorstellung von Zeit verändert, die Ewigkeit umgab sie. Sie wollte verstehen, was mit den Bewohnern von Balykli war. Warum waren sie so niedergeschlagen, warum lebten sie so ärmlich? Die Frau aus der Vergangenheit erinnerte ihr kurzes Leben, das grausame Urteil und ihren tragischen Tod …
Vielleicht wäre sie nahe daran gewesen, so wie sich aus den Wellen erhoben und gesehen hatte, was ihr alles einst lieb und teuer gewesen war, ihre tödliche Verachtung für die Menschen zu vergessen, die ihr ein bitteres Schicksal bereitet hatten. Vielleicht wäre sie bereit, die Geschehnisse zu überdenken, gar ihre Schuld einzugestehen und es als notwendig hinzunehmen, dass ihr Leben für das Glück der anderen geopfert worden war. Sie wollte die Grausamkeit der Menschen vergessen, sie wollte ihnen vergeben. Doch das, was sie an der heimatlichen Küste erblickt hatte, spendete keinen Trost. Sie war wohl vergebens geopfert worden. Wenn die Realität so aussah, dann wäre es besser gewesen, auf dem Meeresgrund zu bleiben. Obgleich selbst der kein Ort der ewigen Ruhe war. Doch hatte sie keine Wahl, die hatten andere getroffen: machtbesessene Männer. Fallen sie nicht vom Anbeginn aller Zeiten übereinander her und vernichten gnadenlos jeden, der schwächer ist? Regiert die menschliche Gesellschaft nicht deshalb die Furcht, die wiederum Unrecht, Krieg und Zerstörung gebiert?
Aypis widerständiger Geist war erfüllt von Zorn auf die Männer. Auch gegen ihren eigenen Mann hegte sie einen tiefen Groll. Dadeli war damals zu einem willigen Werkzeug in der Hand intriganter Herrscher und tatsächlich zu ihrem unbarmherzigen Henker geworden. Warum waren diese Herrscher so grausam? Was ließ sie so werden? Vielleicht die sorgsam verborgene Furcht vor Frauen, die sie nicht einmal sich selbst eingestehen wollten? Oder spielte ihnen ihre körperliche Stärke einen bösen Streich? Wie heißt es so schön: Wo Kraft ist, braucht es keinen Verstand …
Ob zugegeben oder nicht, tief im Herzen jeden Mannes lauert die Furcht, sich als ohnmächtig zu erweisen und seine Frau bei Gefahr nicht schützen zu können. Denn das heißt, sie zu verlieren. Genau diese urewige Beunruhigung treibt ihn nicht selten in eine unbeherrschte Aggressivität, die leicht in grundlose Rohheit umschlägt. Und wenn das passiert, von welcher Würde und Ehre des Mannes ist dann noch zu sprechen?