E-Book, Deutsch, 206 Seiten
Wells / Schulze Der gestohlene Bazillus
Neu übersetzte Fassung
ISBN: 978-3-95418-884-0
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Und andere wundersame Geschichten
E-Book, Deutsch, 206 Seiten
Reihe: Science Fiction & Fantasy bei Null Papier
ISBN: 978-3-95418-884-0
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herbert George Wells (21. September 1866 - 13. August 1946) war ein englischer Schriftsteller und Vorreiter der Science-Fiction-Literatur. Als ausgebildeter Historiker und Soziologe schrieb er Romane, Kurzgeschichten und wissenschaftliche Abhandlungen. Seine größten Erfolge waren die beiden Science-Fiction-Romane'Der Krieg der Welten' und 'Die Zeitmaschine'.
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1. Der gestohlene Bazillus
»Dies wiederum«, sagte der Bakteriologe und schob einen Objektträger unter das Mikroskop, »ist ein Präparat eines gefeierten Bazillus – des Cholera-Bakteriums.«
Der bleichgesichtige Mann blinzelte mit einem Auge durch das Mikroskop. Er war offensichtlich nicht an dieses Gerät gewöhnt und hielt sich mit seiner schlaffen weißen Hand das andere Auge zu. »Ich sehe sehr wenig«, sagte er.
»Drehen Sie an dieser Schraube«, sagte der Bakteriologe, »vielleicht ist das Mikroskop für Sie nicht richtig eingestellt. Augen sind so verschieden. Nur ein kleines bisschen in eine Richtung – oder in die andere.«
»Ah! Jetzt sehe ich es«, sagte der Besucher. »Aber so viel ist gar nicht zu sehen. Kleine Streifen und rosa Fitzelchen. Und doch können diese winzigen Teilchen – bloße Atome – sich vermehren und eine ganze Stadt vernichten! Herrlich!«
Er stand auf, zog den Objektträger aus dem Mikroskop und hielt ihn gegen das Licht. »Kaum sichtbar«, sagte er und unterzog das Objekt einer gründlichen Musterung. Er zögerte. »Sind diese Bakterien – am Leben? Sind sie jetzt noch gefährlich?«
»Die hier wurden eingefärbt und abgetötet«, sagte der Bakteriologe. »Ich für meine Person wünschte, wir könnten alle Cholera-Bakterien des Universums einfärben und abtöten.«
»Ich nehme an«, sagte der blasse Mann mit einem leichten Lächeln, »dass es in Ihrer Umgebung kaum solche Dinge im lebendigen – im aktiven Zustand gibt?«
»Im Gegenteil, wir sind darauf angewiesen«, sagte der Bakteriologe. »Hier zum Beispiel …« Er ging durch das Zimmer und nahm eine von mehreren versiegelten Röhren in die Hand. »Hier sind lebende Bakterien. Es ist eine Kultur echter lebender Krankheitserreger.« Er zögerte. »Sozusagen Cholera in der Flasche.«
Ein Hauch von Zufriedenheit huschte über das Gesicht des blassen Mannes. »Es ist ein tödlicher Besitz«, sagte er und verschlang die kleine Röhre buchstäblich mit den Augen.
Der Bakteriologe sah die kranke Befriedigung in der Miene seines Besuchers. Dieser Mann, der heute nachmittag mit einem Empfehlungsschreiben eines alten Freundes zu ihm gekommen war, interessierte ihn gerade deshalb, weil er so anders war als er selbst. Das strähnige schwarze Haar und die tiefgrauen Augen, das zerfurchte Gesicht und das nervöse Auftreten, das übereifrige Interesse seines Besuchers waren eine Abwechslung von der phlegmatischen Nachdenklichkeit des normalen Wissenschaftlers, mit dem der Bakteriologe meistens zu tun hatte. Es war vielleicht kein Wunder, dass er einem Zuhörer, der so fasziniert von dem tödlichen Charakter des Themas war, eine dramatische Vorstellung bot.
Er hielt die Röhre gedankenvoll in der Hand. »Ja, hierin ist die Pest gefangen. Man muss nur so eine kleine Röhre wie diese zerbrechen und ins Trinkwasser schütten – und zu diesen winzigen Partikeln Leben, die man nur mit den besten Mikroskopen sehen und die man nicht riechen oder schmecken kann – und zu ihnen sagen ›Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Zisternen‹, und der Tod – ein geheimnisvoller Tod ohne Spuren, schnell und schrecklich, voll Schmerz und Erniedrigung – würde auf diese Stadt losgelassen und überall seine Opfer suchen. Er würde der Frau den Mann entreißen, der Mutter das Kind, den Staatsmann von seiner Pflicht abberufen und den Arbeiter von seiner Mühe. Er würde durch die Wasserleitungen fließen, durch die Straßen pirschen, hier und da ein Haus heimsuchen, wo die Leute ihr Trinkwasser nicht kochen, in die Brunnen der Mineralwasserhersteller kriechen, Salat würde mit ihm gewaschen werden, und er würde im Eis schlummern. Er würde darauf lauern, von Pferden aus dem Trog getrunken zu werden, und von ahnungslosen Kindern aus den öffentlichen Brunnen. Er würde in den Boden sickern, um aus Quellen und Brunnen an tausend Orten unerwartet wieder hervorzusprudeln. Setzen Sie ihn nur einmal im Trinkwasser aus – bevor wir ihn umzingeln und wieder einfangen könnten, hätte er die Bevölkerung deutlich dezimiert.« Er brach jäh ab. Man hatte ihm gesagt, dass Rhetorik nicht seine Stärke sei. »Aber hier ist der Bazillus sicher – ganz sicher.«
Der bleichgesichtige Mann nickte. Seine Augen leuchteten. Er räusperte sich. »Diese Taugenichtse von Anarchisten«, sagte er, »sind Dummköpfe, blinde Dummköpfe – verwenden Bomben, wenn so etwas erhältlich ist! Ich glaube –«
Ein sachtes Klopfen, nur ein leichtes Antippen mit den Fingernägeln ertönte an der Tür. Der Bakteriologe öffnete. »Nur eine Minute, Liebling«, flüsterte seine Frau.
Als er wieder ins Labor kam, schaute sein Besucher auf die Uhr. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich Sie eine Stunde aufgehalten habe«, sagte er. »Es ist zwölf vor vier. Ich hätte gegen halb vier aufbrechen sollen. Aber es war einfach zu interessant. Jetzt kann ich leider keinen Moment länger bleiben. Ich habe eine Verabredung um vier.«
Er verließ den Raum und bedankte sich nochmals. Der Bakteriologe begleitete ihn zur Tür und begab sich dann nachdenklich wieder in sein Labor. Er fragte sich, welcher Herkunft sein Besucher sein mochte. Der Mann war sicher kein teutonischer und auch kein römischer Typ. »Jedenfalls ein morbides Geschöpf, fürchte ich«, sagte der Bakteriologe zu sich selbst. »Wie hingerissen er von diesen Kulturen von Krankheitserregern war!«
Plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke. Er ging zu der Bank bei dem Dampfbad und dann eilig zu seinem Schreibtisch. Dann suchte er hastig in seinen Taschen und stürzte zur Tür. »Vielleicht habe ich es auf dem Tisch in der Halle liegengelassen«, sagte er.
»Minnie!«, rief er heiser in die Halle.
»Ja, Liebling?«, kam eine ferne Stimme.
»Hatte ich etwas in der Hand, als ich gerade eben mit dir gesprochen habe, Liebling?«
Pause.
»Nichts, Liebling, denn ich erinnere mich –«
»Jetzt ist alles aus!«, schrie der Bakteriologe. Er rannte kopflos zur Haustür, die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus.
Minnie hörte die Tür knallen und eilte aufgeschreckt zum Fenster. Am Ende der Straße stieg ein dünner Mann in eine Kutsche. Der Bakteriologe – ohne Hut und in Hausschuhen – lief hinterher und gestikulierte heftig. Dabei verlor er einen Schuh, aber es kümmerte ihn nicht.
»Er ist verrückt geworden!«, sagte Minnie. »Das kommt von seiner schrecklichen Wissenschaft!« Sie...