E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Wells Die Zeitmaschine
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43061-6
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-423-43061-6
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
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H(erbert) G(eorge) Wells wurde am 21.9.1866 in Bromley/Kent geboren und starb am 13.8.1946 in London. Nach einer Kaufmannslehre absolvierte er ein naturwissenschaftliches Studium mit Prädikatsexamen; nach nur wenigen Jahren als Dozent lebte er als freier Schriftsteller. Sein Gesamtwerk umfaßt etwa hundert Bände. Zu Weltruhm gelangte er mit seinen Romanen und Erzählungen, die ihn als Begründer der modernen Science-fiction, als genialen phantastischen Utopisten und als kritisch-humorvollen Gesellschaftssatiriker ausweisen.
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1
Der Zeitreisende (so nennt man ihn wohl am einfachsten) erklärte uns eine komplexe Materie. Seine grauen Augen funkelten und strahlten, und sein für gewöhnlich blasses Gesicht war gerötet und angeregt. Das Feuer im Kamin brannte hell, und das weiche Licht der lilienförmigen Leuchter spiegelte sich in den Bläschen, die in unseren Sektkelchen aufstiegen und platzten. Die Sessel, die er sich hatte patentieren lassen, duldeten nicht nur, dass wir auf ihnen saßen, sondern umfingen uns geradezu zärtlich, und es herrschte jene komfortable After-Dinner-Entspanntheit, in der die Gedanken, von den Fesseln der Logik befreit, anmutig schweifen. Und so – indem er die wichtigsten Punkte mit seinem mageren Zeigefinger betonte – stellte er uns die Sache vor, während wir träge dasaßen und seinen Ernst und Einfallsreichtum hinsicht- lich dessen bewunderten, was wir für sein neuestes Paradox hielten.
»Hören Sie bitte genau zu, denn ich werde ein, zwei Vorstellungen widersprechen müssen, die praktisch allgemein akzeptiert sind. Die Geometrie, die man uns in der Schule beigebracht hat, beruht zum Beispiel auf einem Missverständnis.«
»Ist das nicht schon zu Beginn eine ziemlich steile Behauptung?«, fragte Filby, ein etwas streitsüchtiger Rothaariger.
»Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie irgendwas ohne vernünftigen Grund akzeptieren. Sie werden gleich sehen, worum es mir geht. Sie wissen ja, dass eine mathematische Linie, eine Linie der Stärke in Wirklichkeit nicht existiert. Hat man Ihnen das beigebracht? Das Gleiche gilt für eine mathematische Fläche. Das sind reine Abstraktionen.«
»Das ist richtig«, sagte der Psychologe.
»Auch ein Würfel, der lediglich Länge, Breite und Höhe hat, kann in Wirklichkeit nicht existieren.«
»Da muss ich widersprechen«, widersprach Filby. »Natürlich existiert ein solider Körper. Alle realen Dinge –«
»Das denken die meisten. Aber warten Sie. Kann es einen Würfel ohne Dauer geben?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, erklärte Filby.
»Kann ein Würfel real existieren, der keinerlei zeitliche Dauer hat?« Filby wurde sehr nachdenklich.
»Offensichtlich«, fuhr der Zeitreisende fort, »muss sich jeder real existierende Körper in Dimensionen erstrecken: Er muss Länge, Breite und Höhe haben, aber er muss auch von Dauer sein. Nur auf Grund einer naturgegebenen menschlichen Schwäche, auf die ich gleich kommen werde, übersehen wir diesen Umstand meist. Tatsächlich gibt es vier Dimensionen, drei davon nennen wir die Dimensionen des Raumes, die vierte ist die der Zeit. Allerdings neigen wir dazu, zwischen den erstgenannten drei Dimensionen und der vierten einen Unterschied zu machen, der so gar nicht existiert, und zwar deshalb weil sich unser Bewusstsein – mit Unterbrechungen – vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens immer in derselben Richtung daran entlangbewegt.«
»Das«, sagte ein sehr junger Mann, der sich krampfhaft bemühte, seine Zigarre an einer Lampe neu zu entzünden, »das ist tatsächlich sehr klar.«
»Ja, es ist wirklich erstaunlich«, sagte der Zeitreisende mit einem leichten Anflug von Ironie, »dass es so konsequent ignoriert wird. Genau das ist nämlich mit der vierten Dimension gemeint, obwohl manche Leute, die von der vierten Dimension reden, das gar nicht wissen. Der Begriff ist nur eine andere Art, die Zeit zu betrachten. Manche törichten Leute haben das allerdings falsch verstanden. Sie haben sicher schon gehört, was sie über die vierte Dimension sagen?«
»Ich nicht«, sagte der Provinzbürgermeister.
In einfachen Worten: Der Raum hat drei Dimensionen, wie unsere Mathematiker sagen, die man Länge, Breite und Höhe nennt. Mit diesen drei Ebenen, die senkrecht aufeinanderstehen, ist er stets definierbar. Einige philosophische Menschen haben sich nun gefragt, warum es gerade Dimensionen sind – warum nicht noch eine weitere Dimension im rechten Winkel zu den bisherigen drei? Sie haben sogar versucht, eine vierdimensionale Geometrie zu entwerfen. Erst vor einem Monat oder so hat Professor Simon Newcomb das vor der New York Mathematical Society erläutert.
Sie wissen ja, dass man auf einer flachen Oberfläche, die nur zwei Dimensionen hat, einen dreidimensionalen Körper abbilden kann. Dementsprechend glauben diese Leute, dass sie mit Hilfe dreidimensionaler Modelle vierdimensionale Dinge darstellen können – wenn es ihnen gelingt, mit der Perspektive zurechtzukommen. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon«, murmelte der Provinzbürgermeister, verknotete seine Augenbrauen und versank in einen Zustand der Selbstprüfung, während sich seine Lippen bewegten, als wiederholten sie mystische Worte. »Ja, ich glaube, jetzt verstehe ich es«, sagte er nach einer Weile, und sein Gesicht hellte sich auf, allerdings nur vorübergehend.
»Nun, ich kann Ihnen sagen, dass ich mich schon eine ganze Weile mit dieser Geometrie der vier Dimensionen befasse. Meine Ergebnisse sind teilweise sehr eigenartig. Nehmen wir zum Beispiel das Porträt eines Menschen im Alter von acht Jahren, ein anderes mit fünfzehn, eins mit siebzehn, mit dreiundzwanzig und so fort. Alle sind offenbar dreidimensionale Ausschnitte aus seinem vierdimensionalen Sein, das eine beständige, kontinuierliche Tatsache ist.«
»Die Wissenschaftler«, sagte der Zeitreisende nach der Pause, die nötig war, um diesen Gedanken zu absorbieren, »wissen sehr gut, dass die Zeit nur eine Art Raum ist. Hier sehen Sie ein gängiges wissenschaftliches Diagramm aus der Wetterkunde. Die Linie, die ich jetzt mit dem Finger nachzeichne, zeigt die Schwankungen des Luftdrucks. Gestern stand er hier oben, letzte Nacht ist er gefallen, heute Morgen ist er wieder gestiegen, bis er hier oben angekommen ist. Aber die Quecksilbersäule hat diese Linie doch wohl in keiner der anerkannten Dimensionen des Raums aufgezeichnet? Andererseits ist diese Linie aber vorhanden, woraus wir schließen müssen, dass sie in der Dimension der Zeit verläuft.«
»Aber«, sagte der Mediziner und starrte intensiv auf ein Stück Kohle im Kamin, »wenn die Zeit wirklich nur eine vierte Dimension des Raums ist, warum wird sie dann seit jeher als etwas anderes angesehen? Und warum können wir uns in der Zeit nicht so bewegen wie in den anderen Dimensionen des Raumes?«
Der Zeitreisende lächelte. »Sind Sie sicher, dass wir uns im Raum frei bewegen können? Nach rechts und links können wir gehen, vorwärts und rückwärts genauso, und das haben die Menschen auch immer getan. Ich gebe zu, dass wir uns in zwei Dimensionen frei bewegen können. Aber wie sieht es mit aufwärts und abwärts aus? Da setzt die Schwerkraft uns Grenzen.«
»Nicht unbedingt«, sagte der Mediziner. »Es gibt doch Ballons.«
»Aber vor den Ballons hatte der Mensch nicht die Freiheit, sich vertikal zu bewegen, wenn man von gelegentlichen Sprüngen und den Unebenheiten der Erdoberfläche mal absieht.«
»Aber ein bisschen konnte man sich schon auf und ab bewegen«, beharrte der Mediziner.
»Viel leichter abwärts als aufwärts.«
»Und in der Zeit kann man sich überhaupt nicht bewegen. Vom gegenwärtigen Zeitpunkt kommt man nicht weg.«
»Das, mein lieber Herr, ist ein Irrtum. Da haben nicht nur Sie, sondern die ganze Welt sich geirrt. Wir entfernen uns ständig vom gegenwärtigen Zeitpunkt. Unser geistiges Dasein, das nicht materiell ist und keine Dimensionen besitzt, bewegt sich von der Wiege bis zur Bahre mit gleichförmiger Geschwindigkeit entlang der Zeit-Dimension. Genauso, wie wir uns abwärts bewegen würden, wenn wir unser Dasein fünfzig Meilen über der Erdoberfläche beginnen würden.«
»Und doch besteht der Unterschied«, unterbrach ihn der Psychologe, »dass man sich im Raum in alle Richtungen bewegen kann, aber nicht in der Zeit.«
»Eben das ist die Keimzelle meiner großen Entdeckung. Aber Sie irren, wenn Sie sagen, wir könnten uns in der Zeit nicht hin und her bewegen. Wenn ich mich zum Beispiel sehr intensiv an ein Ereignis erinnere, dann kehre ich zum Augenblick zurück, in dem es geschehen ist: Ich bin, wie man sagt, geistesabwesend. Für einen Augenblick springe ich in die Vergangenheit. Natürlich haben wir keine Möglichkeit, lange da hinten zu bleiben. Auch ein Wilder oder ein Tier haben ja keine Möglichkeit, zwei Meter über dem Boden zu schweben. Aber der moderne Mensch ist in dieser Hinsicht schon besser dran als der Wilde. Gegen die Schwerkraft kann er in einem Ballon vorgehen. Warum sollte er also nicht hoffen, dass er eines Tages auch sein Dahintreiben auf der zeitlichen Dimension anhalten oder beschleunigen, ja, dass er es vielleicht sogar umkehren und sich in die andere Richtung bewegen kann?«
»Also, das ist doch alles –«, fing Filby an.
»Warum denn nicht?«, fragte der Zeitreisende.
»Weil es gegen die Vernunft ist«, sagte Filby.
»Welche Vernunft?«, fragte der Zeitreisende.
»Sie haben vielleicht Argumente, dass Schwarz nicht schwarz ist, sondern weiß«, sagte Filby. »Aber Sie werden mich nie überzeugen.«
»Kann schon sein«, sagte der Zeitreisende. »Aber Sie sehen jetzt, worum es mir bei meinen Untersuchungen zur Geometrie der vierten Dimension geht. Schon seit langem habe ich eine vage Vorstellung von einer Maschine –«
»Mit der man durch die Zeit reisen kann!«, rief der sehr junge Mann.
»– die sich ungehemmt in alle Richtungen durch Raum und Zeit...