E-Book, Deutsch, 560 Seiten
Wellm Morisco
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-356-02142-4
Verlag: Hinstorff
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-356-02142-4
Verlag: Hinstorff
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Lenk ist erfolgreich. Schon nach kurzer Zeit ist aus dem Studenten ein Architekt geworden, der beim Bau einer Großsiedlung eine leitende Funktion einnimmt, sich fast mühelos zu den Privilegierten hocharbeitet. Lenk hat eine Frau, bald zwei Kin- der, ist anerkannt. Und wird doch erkennen müssen, dass sein Leben einer Großbau- stelle mit »beschädigtem Gelände« gleicht.
1987 erschien Alfred Wellms »Morisco«, ein Roman, der bald in Vergessenheit geraten sollte. Trotz seiner literarisch hohen Qualität, trotz einer bewegenden Geschichte, die jeden angeht. Denn Morisco erzählt über Träume, von denen sich die Realität immer mehr entfernt. Über Anpassung in große und vermeintlich unumstößliche Abläufe, über Anerkennung im Kleinen und Verkennung im Grundsätzlichen, über gesellschaftliche Mechanismen, die sich in einst grandiose Lebensentwürfe schleichen ... Ein fast 30 Jahre junger Roman, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Autoren/Hrsg.
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ERSTES KAPITEL
1 Ich zeichne manchmal eine Volute in meinen Schreibblock, weil eine Sitzung ewig dauert und ich auf eine Rede horche.
Das ist nicht erwähnenswert. Doch zeichnete ich in letzter Zeit oftmals ein Ornament auf den Rand meines Notizblattes, und vor Tagen zeichnete ich die Kuppel eines Turmes, die aus der Schräge eines alten Daches ragte. Unter die Kuppel zeichnete ich ein Belvedere. Mit toskanischen Säulen, mit Bogenfenstern in den Nischen. Im übrigen war es ein unscheinbares Belvedere, das wohl auch früher nie eine Bedeutung hatte; aber es lag eine seit je bestehende Unruhe in seiner Architektur, da die Säulen eine Schwellung hatten. Als widersetzten sie sich nun der Last der schweren Kuppel. Es schien, als wäre dieses kleine Turmgeschoß dem Druck der Kuppel nicht gewachsen, das Spiel der Kräfte war noch nicht entschieden, man sah betroffen in den Augenblick – das schon seit Hunderten von Jahren.
Der Hufschlag der Pferde auf dem Pflaster. Sechs Reiter, die, mit stolzen Rücken, auf ihren Pferden saßen. Sie schnalzten, unhörbar für uns, so daß eine schöne Unruhe über die Pferdekörper kam. Autos fuhren, rechts standen die Platanen. Hinter den Reitern führte ein Mann in Arbeitskleidung das siebente Pferd, ein junger Hengst, mit schmalem langem Hals, und das dünne Fell zuckte nervös. Die Nüstern waren breit geöffnet und waren innen völlig rot. Mein Leben war seinen Weg gegangen, aber ohne daß es eine Berührung mit Pferden hätte haben können, und der Anblick eines Pferdes hatte mir nie etwas bedeutet. Zwei Lastkraftwagen fuhren auf die Gruppe zu, so war zu fürchten, daß der junge Hengst nun steigen würde; aber der Mann, der ruhig neben dem Pferd herging, redete ständig mit ihm. Er hielt die Zügel kurz und streng, da Morisco nach der Herde drängte; er klopfte mit der freien Hand den dünnen Hals – nur mit der halben Hand, sah ich, soweit die Finger reichten.
Für mich hatte ein ungewöhnlicher Sommer angefangen. Ich wohnte in einem alten Schloß, ja in einem Turm des Schlosses. Unter mir hörte ich die Stadt. Anfangs wohnte ich alleine in dem sehr weitläufigen, alten Haus, und es hatte einen unheimlichen Reiz, erinnere ich mich, im Dämmerlicht des Abends durch die verödeten Trakte zu gehen, die Säle, die Flure und die Treppengänge.
2 Das Atelier war im Dachgeschoß des Schlosses, mit altem Gebälk im Raum, vier Fenstern, die nach Westen gingen. Auf den Tischen war immer eine Unordnung von Aufrissen und flüchtigen Skizzen. Wir hatten ein paar Gegenstände an die Wand gehängt, einen Hammer aus Jahrhunderten, eine Kachel aus dem Großen Saal, einen Türbeschlag; im Grunde waren es wertlose Dinge, und es lag kein eigentlicher Sinn darin, diese Gegenstände an die Wand zu hängen, nur, daß es uns gefiel. Matthias (er ist vor einem Jahr an einer chronischen Leberzirrhose gestorben, hörte ich) saß an der Maschine und addierte, während ich am Reißbrett zeichnete. Oder ich blickte auf das Durcheinander auf den großen Tischen. »Und wie alt sind die Jungen jetzt?« fragte mich Matthias.
»Der eine ist sechs Jahre, aber der andere wird achtzehn.«
Später sagte ich: Ich habe nie mit ihnen einen Drachen steigen lassen. Dieses Versäumnis war mir am Morgen eingefallen, und es ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hätte mir das immer vorgenommen, sagte ich, wir wollten ein sehr ungezogenes Gesicht auf unseren Drachen malen, und wir hätten es uns vorgestellt, wie der Drachen auf uns niederblicken würde, wir wollten sehr viel Schnur mitnehmen, und wir wollten ihn immer höher steigen lassen. Wir wollten zu den Hügeln der blauen Felder gehen, sagte ich, aber ich hätte es nie getan.
Wir hatten die Fenster offenstehen, so daß wir die Beilschläge der Zimmerleute hörten. »Und der Ältere?« fragte mich Matthias.
»Der Ältere ist sehr sensibel, sie sind beide sehr sensibel, aber der Ältere wird es einmal schwer haben.«
»Aber du denkst, sie werden damit fertig?«
»Ich weiß es nicht. Mein Gott, ich weiß es nicht!«
Zwischendurch hörten wir die Zimmerleute auf der Rüstung; es ging wohl ein Bekannter unten in der Straße, und die Zimmerleute riefen nun zu ihm hinab.
Oder Matthias riet mir, einen Arzt aufzusuchen. Ich wußte, ich hatte einen Tick, es zuckte links unter dem Auge, und manchmal zuckte mir die ganze Wange, dann drückte ich sie gegen meine Hand, um sie zu beruhigen. Er wüßte einen guten Arzt, sagte er. Gewiß, rief ich, aber was hat ein Arzt damit zu tun.
Einmal ging ich durch die Straße, ich hatte nichts bei mir als meine schwarze Tasche, darinnen ein paar Blätter, ich ging nur durch die Straße und horchte auf die Schritte, die sich näherten und sich wieder entfernten, Schritte, wie man sie hundertmal am Tage hört. Aber sie prägten sich seltsamerweise in mir ein. Ich lag nachts wach und dachte, was aus den Schritten zu entnehmen wäre. Nicht, daß ich etwas von den Menschen wußte, ich hatte ihre Schritte ja das erste Mal gehört.
3 Die Stadt war zurückhaltend gegen mich und öffnete sich nicht sofort, das vergrößerte den Reiz. Es gab auch Winkel, Gassen, die ich noch nicht betreten hatte; ich schob das mutwillig hinaus, um meine Neugierde zu steigern. Sonntags wanderte ich durch die Wiesen, auf dem Steig am Fluß. Links aus dem Nebel ragte eine Esse, und zur rechten Seite war der Garten einer Anstalt, aus dem Nebel blickten rote Ziegelhäuser. Manchmal traf ich einen Angler, ich grüßte ihn oder ging vorüber, je nachdem. Bei den Wildgehegen überquerte ich die Straße und ging über die bewaldeten Berge, zurück ging ich den Weg am See. Ich wollte an nichts denken …
Wir warten auf den Zug nach N., der sich verspätet. Wir sitzen beide auf der Bank und sehen immer zu dem einen Mann, der auf dem anderen Bahnsteig steht: ein alter kleiner Mann mit seinem Koffer. Der Alte ist schon vorzeitig gekommen, er ist in dunkelblauem Mantel, aus dem ein wenig Rot von seinem Schal vorleuchtet. Vielleicht ist es die erste ordentliche Reise, die der Alte unternimmt, vielleicht auch seine letzte. Er mustert insgeheim die fremden Menschen, er blickt sehr oft zur Bahnhofsuhr. Dann fällt ihm ein, er könnte einen Gegenstand vergessen haben, und wir verfolgen, wie er nach dem Koffer blickt und wie ihn jetzt hartnäckig der Gedanke quält. Danach kniete der Mann nieder, legte den Koffer flach auf die Erde und öffnete ihn, um in seinen Sachen nachzusehen, nahm Wäschestücke heraus, Wollstrümpfe und braune Tüten und stapelte das alles neben sich. Wir kamen nie dahinter, welchen Gegenstand er suchte und ob er ihn gefunden hätte; wir sahen, wie er Stück um Stück zurück in seinen Koffer legte. Dann stand er auf und richtete den Koffer hoch, und eine Zeit war er zufrieden und beherrscht, stand da und sah nur hin und wieder nach der großen Uhr. Aber wir kannten ihn nun schon und warteten darauf, daß ihn die Ungewißheit wieder foppte. Er ruckt unwillig mit dem Unterkiefer. Er dreht sich um und will sich selbst den Rücken zeigen. Wir sehen, wie er sich dem Zweifel eine Zeitlang standhaft widersetzt. Dann kniete der Alte nieder und öffnete seinen Koffer, legte Wäschestücke, braune Tüten auf den Bahnsteig, um sich zu vergewissern. »Ich habe manchmal solche Angst«, sagte Jan zu mir.
»Ich weiß, als wir auf dem Ellenbogensee geschwommen sind.«
Er gibt mir keine Antwort.
»Ich hatte auch Angst. Als der Wind immer stärker wurde und die Wellen uns in die Gesichter schlugen, es ging mir gar nicht besser.«
Er schweigt.
»Man konnte deutlich die Kühe zwischen den Erlen sehen, es sah ja aus, als wären sie ganz nahe, aber es waren doch noch ein paar hundert Meter bis zur anderen Seite.«
Er blickte mich nicht an. »Das mein ich nicht«, sagte er.
»Dann denkst du an die Brücke?«
Jan war damals viel zu sehr gewachsen, er sah mager aus, keines der Kleidungsstücke wollte ihm recht passen. »Ich hab dir das angesehen«, sagte ich, »aber ich freute mich, daß du damit fertig wurdest.«
»Sind es tatsächlich elf Meter?«
Ich hätte das mit David ausgemessen, vom Geländer bis zum Wasserspiegel wären es genau elf Meter.
»Ich spring nicht gerne von der Brücke.«
»Aber du wolltest es. Ich hab dir gesagt, daß du es nicht tun solltest.«
»Ja, ich wollte es selbst. Ich will es immer selbst, weil ich sehen will, ob ich feige bin.«
»Ach, du bist doch nicht feige, Jan.«
»Ich schaffe es jedesmal, und danach sage ich mir auch, daß ich es nicht bin.«
»Es sah gut aus, wie du gesprungen bist. Und außer dem Athleten hat es niemand mehr...