Wekwerth Das Labyrinth ist ohne Gnade
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-401-80194-0
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 3, 344 Seiten
Reihe: Labyrinth-Tetralogie
ISBN: 978-3-401-80194-0
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Jenna schrie. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, vor Schock, dass sie plötzlich durch die Luft geschleudert wurde.
Unter ihr erwartete sie eine stahlfarbene Oberfläche, und noch bevor Jenna begreifen konnte, wohin sie fiel, hatte sie Wasser geschluckt.
Um Jenna wurde es leicht, schwerelos. Dann war es schwarz.
Plötzlich, einen klammernden Druck auf ihrem Brustkorb lösend, strömte Luft in ihre Lunge. Gleichzeitig erbrach sie sich. Süße, frische Luft ließ ihren Brustkorb heben und senken. Sie atmete! Und musste gleich darauf husten. Trotzdem: Es war ein Gefühl, wie neu geboren zu werden.
Jenna hatte noch immer Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sie befand sich im Wasser. Sie lebte. Da sah sie Jeb wohlauf vor sich und ein warmes Glücksgefühl durchströmte sie. Jeb, er lebte, aber warum sah er sie so sorgenvoll an?
Ein weiteres hartnäckiges Husten schüttelte sie. Als sie sich gefangen hatte, war ihre Stimme nur ein Krächzen. »Oh Gott. Was ist passiert?«
Da erst spürte sie die Umklammerung um ihre Brust. Panisch versuchte sie, sich aus dem Griff zu befreien, dann vernahm sie Marys Stimme hinter sich. Und begriff, dass es Mary war, die sie über Wasser hielt. Wasser, das sich links und rechts und in alle Richtungen um sie herum ausbreitete. Wo waren sie nur gelandet? Aber zumindest waren sie alle hier. Alle … die von ihnen übrig geblieben waren. Da war Jeb. Sein Lächeln beruhigte ihre angespannten Nerven. Und da war Mary, die ihr das Wasser aus der Lunge gepresst hatte. Die ihr das Leben gerettet hatte.
Wieder hustete Jenna heftig und sie war froh, dass Mary sie kräftig strampelnd unter den Armen hielt.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Mary, als Jenna sich gefangen hatte.
Jennas Blick suchte Jeb und er schwamm nun heran. Liebevoll sah er sie an. »Alles okay?«
Sie versuchte sich an einem Lächeln. »Na ja, meine Lunge brennt wie Feuer.«
»Weißt du, wo wir sind?«, fragte Mary nun Jeb.
»Ich sehe nur Wasser um uns herum. So weit das Auge blickt«, sagte er. »Wir müssen mitten in einem Ozean gelandet sein.«
»Dann sind wir verloren«, flüsterte Mary tonlos. Jenna bekam eine Gänsehaut, denn Mary hatte genau den Gedanken ausgesprochen, der auch ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte.
Jeb jedoch, das sah Jenna in seinem Gesicht, war noch nicht bereit aufzugeben. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen geformt und immerzu drehte er sich schwimmend um sich selbst und suchte, den Horizont ab. Jenna war ihm dankbar dafür und versuchte die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit, die in ihr aufsteigen wollte, zu ersticken. Der Kloß in ihrem vom Salzwasser angerauten Hals brachte sie erneut zum Husten, und so hörte sie nur Jebs Worte, als er seinen Satz beinahe beendet hatte. »… kann es nicht enden. Es gibt einen Ausweg, eine Chance, die gab es bisher immer.« Er schaute Jenna und Mary eindringlich an, und sosehr Jenna an diese Chance glauben wollte, sie empfand genau das Gegenteil. Instinktiv wusste Jenna, dass sie eine mehr als miserable Schwimmerin war.
Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Jeb. Er stand mit dem Rücken zum Meer. Die Arme weit ausgebreitet lachte er zum wolkenlosen Himmel. Er rief sie, aber das Rauschen der Wellen verschluckte seine Worte. Dann wandte er sich um, rannte los und stürzte sich mit einem Hechtsprung in die Wogen. Jenna beobachtete, wie er mit kräftigen Armzügen ins Meer hinausschwamm. Sie wäre ihm gern gefolgt, aber irgendetwas hielt sie zurück.
Angst.
Woher kommt dieses Bild? Warum ist es mir so vertraut? Ist das wirklich geschehen oder nur ein Traum? Warum bin ich ihm nicht nachgelaufen?
Und dann erinnerte sie sich an einen Badeunfall in ihrer Kindheit. Sommerferien an der Nordsee. Sie war noch klein gewesen, als sie von ihren Eltern unbeobachtet mit ihrem Sandeimer zum Wasser ging, in die Wellen hineinstapfte und umgerissen und dann unter die schaumige Oberfläche gezogen wurde. Die Hand ihres Vaters hatte sie hochgerissen und sie wusste noch, was er als Erstes zu ihr gesagt hatte. »Wenn wir daheim sind, lernst du schwimmen. Das passiert dir nie wieder.«
Aber sie hatte nie richtig schwimmen gelernt. Ihre Angst vor dem Wasser war zu groß gewesen. Es reichte, um sich eine Weile über Wasser zu halten, aber weite Strecken konnte sie schwimmend nicht zurücklegen.
Ihr Vater hatte gesagt, sie würde nie mehr in eine so hilflose Lage kommen.
Und nun war es doch passiert.
Das beklemmende Gefühl in Jennas Brust ließ sich nicht abschütteln. Sie mahnte sich zur Ruhe, dann schaute sie sich um. »Dann zeig sie mir, diese Chance.«
»Der Stern«, sagte Jeb. »Um Mitternacht wird er aufgehen. Bis dahin müssen wir durchhalten. Er wird uns den Weg weisen.«
Den Weg aus dieser Wasserwüste? Aus dem Nichts, in dem wir verloren sein werden, wenn wir nicht bald Land erreichen oder gefunden werden? Wie lange dauert es, bis wir zu erschöpft zum Schwimmen sind? »Aber wohin, Jeb? Wohin soll er uns führen? Da ist nichts. Nur Wasser und Leere.«
Da hörte sie erneut Marys Stimme hinter sich. »Kannst du schwimmen?«
Jenna hatte diese Frage befürchtet. Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. Sie hatte einen Entschluss gefasst: Sie würde hier so lange vor sich hin paddeln, bis es zu Ende ging. Sie durfte nicht aufgeben.
»Ich lasse dich jetzt los«, vernahm sie Marys leise Stimme. Dann schwebte Jenna und begann, Wasser zu treten.
»León ist tot«, sagte Mary da leise. »Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Besser mit ihm sterben als das hier.«
Jenna schwieg und auch Jeb brachte kein Wort heraus. Er sah aus, als wäre er tief in Gedanken versunken. Und als würde auch er kämpfen. Darum, die Hoffnung nicht aufzugeben. Jenna wusste, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Es gab genau einen Grund. Und der war Jeb.
Wind war aufgekommen. Das Wasser begann, sich zu kräuseln, dann drängten leichte Wellen heran, die auf und ab stiegen. Ihre Körper schaukelten mit ihnen. Vom Himmel brannte die Sonne auf sie herab, das Wasser glitzerte. Am liebsten hätte Mary sich von dem funkelnden Schauspiel schläfrig werden lassen, irgendwann die Augen zugemacht … aber Mary spürte, wie die Angst langsam von ihr abfiel.
Wasser. Das war ihr Element.
Nirgends war Land zu sehen. Und doch beunruhigte Mary dies nicht. Wenn nur Jenna durchhielt. Mary hatte bemerkt, dass die andere, seit sie sie losgelassen hatte, sich mühsam über Wasser hielt. Immer wieder musste Jenna ihren Kopf weit über die Oberfläche recken, damit sie beim Wassertreten nicht unterging. Um Jeb machte sich Mary keine Sorgen. Er schwamm in kurzer Entfernung wiederholt um seine eigene Achse, hob den Oberkörper aus dem Wasser. Immer mit Blick auf den Horizont.
»Jenna, versuch, dich mit den Armen auszubalancieren und nicht nur mit den Beinen zu strampeln.« Mary wusste, dass Jenna dringend energiesparender schwimmen musste, wenn sie überleben wollte. Als sie sah, dass Jenna jetzt stabiler im Wasser stand, sagte sie: »Halte durch, Jenna. Das ist nicht das Ende.«
Jenna keuchte neben ihr auf. »Wieso denkst du das …«, sie spuckte Wasser aus. »Hier ist nichts, falls dir das noch nicht aufgefallen ist! Nichts, das uns retten könnte!«
Mary überlegte, ob sie Jenna von ihrer Ahnung erzählen sollte – aber welche Worte sollte sie dafür finden? Alles, was sie Jenna zum Trost sagen konnte, waren Floskeln. Vermutungen. Aber diese Vermutungen waren ihr so klar und deutlich vor Augen. Mary spürte, dass sie wahr werden würden. Sie kannte dieses Meer, diesen Ozean. Sie waren hier zwar nicht sicher. Aber ertrinken, nein, das wusste Mary, ertrinken würden sie nicht. Rettung würde kommen.
Gerade wollte sie ansetzen, Jenna ihre diffusen Gedanken zu schildern, als Mary etwas an ihren Beinen spürte. Instinktiv schaute sie unter sich, konnte aber nichts erkennen. Oder war die Bewegung von Jennas Beinschlag im Wasser gekommen?
Mary musste sich zusammenreißen, nichts zu sagen, um Jenna nicht noch zusätzlich zu verängstigen, wo diese doch gerade einen regelmäßigen Schwimmrhythmus gefunden hatte.
Da schrie das blonde Mädchen plötzlich neben ihr auf.
»Was ist?«, fragte Mary.
Jennas Stimme war laut und voller Angst. »Etwas … etwas hat mich am Bein berührt.«
Mary schluckte.
Jeb war nach Jennas Schrei zu ihnen geschwommen. Er sah sehr besorgt aus. Jenna blickte die beiden fragend an.
»Ich war es nicht, aber ich habe es auch gespürt – unter uns.« Marys Stimme zitterte und sie vergaß einen Moment, weiter auf der Stelle zu paddeln, um sich über Wasser zu halten. Sie tauchte kurz unter, doch sofort machte sie einen kräftigen Beinschlag und kam wieder nach oben. Sie schnappte beim Auftauchen nur ein Wort auf, das Jenna geradezu ungläubig aussprach: HAI.
Eben noch war sie fest davon überzeugt gewesen, alles würde gut werden.
Haie flößten Mary mehr Angst ein, als sie sich in diesem Moment eingestehen mochte. Scharfe Zähne, die starrenden Augen, die Erbarmungslosigkeit, die diese Tiere ausstrahlten. Dies war ihre Welt, hier waren sie die...