E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: Classics To Go
Weiß Der Fall Vukobrankovics
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98744-473-9
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: Classics To Go
ISBN: 978-3-98744-473-9
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Elisabeth Thury, ursprünglich Milica von Vukobrankovics (1894-1973) war eine österreichische Journalistin. Vukobrankovics wuchs als Tochter eines höheren Beamten serbischer Herkunft in Wien und Niederösterreich auf und wollte zunächst Lehrerin werden. Die Familienverhältnisse waren allerdings problematisch: Der adelsstolze Vater litt an der Syphilis, hatte Tobsuchtsanfälle und starb früh, die strebsame Tochter wurde zur eigenwilligen Einzelgängerin. Die ausgebildete Volks- und Bürgerschullehrerin schloss sich im Ersten Weltkrieg eng der Familie eines Landesschulinspektors an. Zu Ende des Ersten Weltkriegs (1918) wurde sie in einem Indizienprozess wegen versuchten Giftmordes angeklagt, allerdings nur der Verleumdung schuldig gesprochen und war bis Juli 1919 in Haft. Als Verlagsangestellte des Konegen-Verlages geriet sie wenig später neuerlich unter den Verdacht der Giftmischerei. In beiden Fällen war der vermeintliche Einsatz des Giftes ein vermutetes Beziehungsdelikt in Liebesverhältnissen mit verheirateten Männern. Sie war 1922-1923 in Untersuchungshaft und wurde im Dezember 1923 verurteilt. Ihr Prozess erweckte internationales Interesse, Auch Karl Kraus engagierte sich für die unglückliche Frau.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der zweite Prozeß
In der Zeit vom 11. bis 15. Dezember 1923 fand vor den Wiener Geschworenen der zweite Prozeß Milica Vukobrankovics wegen Giftmordversuches statt. Die Presse betrachtete diesen Prozeß von vornherein als Sensationsangelegenheit, und bevor noch das Geschworenenkollegium zusammengestellt war, fanden sich in den großen Blättern ausführliche Aufsätze über das persönliche, das private Verhalten der Angeklagten, über ihre interessante Erscheinung und über ihren Namen, ihre fürstliche Abstammung. Ursprünglich schien die Durchführung des Prozesses gefährdet, nicht etwa, weil der Sachverhalt des neuen Vergehens noch unklar war, denn dieser, gleich dem ersten, war so einfach in den Tatsachen, daß es eines so lange dauernden Prozesses gar nicht bedurft hätte, sondern weil die Angeklagte, nach versuchtem Hungerstreik, durch verschiedene Maßnahmen von sich aus die Verhandlung als solche in Frage gestellt hatte. Sie war dieses Mal ebenso wie das erste Mal auf der Straße verhaftet worden und in den Polizeiarrest gekommen. Dort wurde sie für vollkommen gesund erklärt, obwohl sie, nach ihrer späteren Angabe, sich häufig erbrochen und sich so schlecht gefühlt habe, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte, offenbar hatte sie auch einen Hungerstreik begonnen. Außerdem handelte es sich um Nachwirkungen einer Bleivergiftung. Erst jetzt, als auf Antrag des Untersuchungsrichters die Gerichtsärzte sie untersuchten und die Bleivergiftung bei ihr festgestellt hatten, wurde sie als krank behandelt. Am 9. Juli kam sie in die psychiatrische Klinik, war klar und geordnet und befand sich nach Angabe der Ärzte in einer durchaus ruhigen Stimmungslage. Sie erklärte dem diensthabenden Arzte zuerst bestimmt, auch hier den Hungerstreik durchführen zu wollen; auf die Möglichkeit der Ernährung durch die Schlundsonde aufmerksam gemacht, entschloß sie sich, sogleich eine Tasse Milch zu sich zu nehmen, ebenso die Abendmahlzeit zu verzehren. Während der ersten zwei Monate befand sie sich dort körperlich wohl und nahm um 8 Kilogramm zu. Alsdann wurde sie wieder in das Landgericht II zurückgebracht, also in wesentlich strengere und schlechtere Behandlung. In der Zelle soll es trotz des Sommers kalt gewesen sein, so daß sie ständig fror und von der Mutter warme Kleidungsstücke erbat. Ganz unberechtigt müssen ihre Klagen also nicht gewesen sein, wie auch aus ihren eigenen Aufzeichnungen hervorgeht. Die Zeitungen sprachen aber mit Voreingenommenheit »von einer wahren Passion, die das Landgericht II, und zwar Richter, Beamte, Ärzte, die Funktionäre des Gefangenenhausdienstes, keiner ausgenommen, mit diesem Häftling zu erdulden hätten, der sich seit anderthalb Jahren im Gewahrsam des Gerichts auf dem Hernalsergürtel in Wien befand. Die Frage der Schuld der Vukobrankovics, schreibt eine Zeitung, ist das Thema des beginnenden Prozesses, aber es hat wohl kaum jemals in Wien einen Untersuchungshäftling gegeben, der seiner Umgebung soviel Unannehmlichkeiten und Scherereien bereitet hätte. Die Haft ist gewöhnlich eine unvermeidliche Unbill gegen den Beschuldigten, aber in diesem Falle scheint es nach übereinstimmenden Berichten, daß das Gerichtspersonal, immer in Atem gehalten, auch einen Teil davon tragen mußte. Eine Probe ihres heftigen Temperamentes, des Eigensinns und unzähliger weiblicher Ränke hat die Vukobrankovics allerdings auch schon in ihrem ersten Prozeß gegeben. Die Öffentlichkeit hat eigentlich nur von dem Hungerstreik erfahren, den sie in der Haft inszenierte, und der erst nach einer Reihe von Tagen, mühsam durch Zuspruch ihres Verteidigers, Dr. Kraszna, und des Gefangenenhausdirektors zu Ende kam. Wiederholt hat sie verschiedene Exzesse begangen, insbesondere beschimpfende Äußerungen gegen die Psychiater ... Ganz anders wird der Ton der Presse, als die Vukobrankovics am ersten Verhandlungstage vor dem zahlreich erschienenen vornehmen Publikum sich persönlich zeigt. Ich lasse den Bericht desselben Berichterstatters folgen: »Wenn die lohende Flamme der Sensation nicht wäre, von der die Szene immerzu wie mit rotem Theaterlicht übergossen wird, es gäbe vielleicht einen merkwürdigen, aber stillen Prozeß ... Nun aber belagert die Neugier die Persönlichkeit der Angeklagten, die es in allen Nerven spürt. Milica Vukobrankovics als Weib. Sie ist sicher ein eigenartiger Frauentypus jugoslawischer Rasse. Ein längliches, energievolles Gesicht, das in reizvollem Gegensatz steht zu üppigen, braunen Haarflechten, die kronenartig aufgebaut sind. Eine hübsche Frau, gut gewachsen, elegant. Ein Schimmer von Geistigkeit, der über dem Gesicht liegt, sich in jeder Kopfbewegung und in den eigentümlichen, kleinen Rucken der Hände ausspricht, fällt auf, und dieser harte Wille, mit dem sie sich selbst in Zucht hält, ihre blitzschnellen klugen Reden formt. Ja, sie ist erstaunlich klug, eine Dialektikerin, die mit gefährlichen Pointen, mit einem raffinierten Zickzack von Antworten das System eines Verhöres in Verwirrung bringen kann...« Man sieht also, es ist ein ganz anderer Eindruck, den die geständige Giftmörderin, die wegen des gleichen Deliktes rückfällige Verbrecherin erweckt. – Die feuilletonistische Stimmungsmache, die einem Wiener Prozeß vorangeht, wäre dieser ausführlichen Darlegung nicht wert, wenn sie nicht etwas Bezeichnendes enthielte: den Beweis für den außerordentlich begütigenden, bezaubernden Eindruck, den Giftmörder und Giftmörderinnen bei den Richtern und bei anderen Menschen oft erwecken und der, wie ich später ausführen will, sich bei der berühmten Brinvilliers, bei der Gesche Gottfried in Bremen und anderen findet, auch bei einem männlichen Giftmörder, Georg C. Diese Verbrecher verstehen sich das Wohlwollen der Richter und der Zeugen in einem Maße zu erwerben, das man um so weniger psychologisch erklären kann, als bei jedem doch die Befürchtung bestehen müßte, er könne, wenn der Täter oder die Täterin freigesprochen würde, selbst ein Opfer ihres Gifttriebes werden. Rationale Betrachtung versagt am ehesten beim Giftmord. Wäre es denn anders erklärlich, daß Giftmörder wie die Gottfried ihre Taten bis an dreißigmal in typischer Weise wiederholen können, ohne daß der persönliche Zauber, der sie schützend umgibt, gebrochen wird? Die Vukobrankovics kam aus dem Gefängnis, aber sie war nicht wegen Giftmordversuchs, sondern nur wegen Verleumdung darin gefangen gewesen, und der Richter, von einer in Österreich damals ganz ungewohnten Milde, hatte seinerzeit mit großem Wohlwollen den ersten Prozeß geleitet, der Staatsanwalt hatte am Ende seines Plädoyers gesagt: »Ich will es nicht allein auf mein Gewissen nehmen, daß eine Unschuldige verurteilt werde. Prüfen Sie den Fall nüchtern und überlegen Sie das Für und Wider!« Dabei lagen die Arsenproben, das Opium und der Phosphor auf dem Verhandlungstisch! Selbst zu der Verurteilung wegen Verleumdung wäre es nicht gekommen, wenn nicht die Angeklagte selbst durch einen schriftlichen Verleumdungsbrief an den Kardinal Piffl dem Gerichte ein nicht umzustoßendes Beweismittel ihrer Schuld wenigstens nach dieser Richtung gegeben hätte. Auch jetzt, vier Jahre nach der ersten Verurteilung, lag ein schriftliches Bekenntnis der Vukobrankovics vor, das sie ihrem »Opfer« und Mitschuldigen in einer Person, dem Verlagsbuchhändler Ernst Stülpnagel »spontan« übergeben hatte. Ich komme noch darauf zurück. Der Tatbestand, der jetzt vorlag, war folgender: Am 31. Oktober 1918 war das erste Urteil, wie oben erwähnt, gefällt: Milica Vukobrankovics wurde wegen Verleumdung des Sohnes ihrer Opfer, des jungen Piffl, zu zwei Jahren schweren Kerkers und zum Verlust des Adels verurteilt. Gegen Ende des Jahres 1919 wurde sie von staatswegen begnadigt und kam wieder nach Wien. Sie suchte und fand Arbeit zuerst bei einer Modistin, war dann Sekretärin in einer Schuhfabrik und kam dann durch eine Annonce zu der Verlagsanstalt Konegen, deren Chef Ernst Stülpnagel war. Sie trat am 1. Mai 1920 in das Geschäft ein, avancierte sehr schnell zur ersten Sekretärin, knüpfte ein intimes Verhältnis mit dem Chef an, wurde nach ungefähr einem Jahre schwanger und erlitt eine Fehlgeburt. In diese Zeit, Sommer 1920, fallen die Vergiftungen. Vergiftet sollten werden: Die Frau des Chefs, Dorothea Stülpnagel, und die beiden Söhne. Aber auch der Mann bekam von dem Gift, es war Bleiweiß, sie selbst mußte auch davon nehmen, die Dienstboten wurden ebensowenig verschont wie die Haustiere, Katze und Hund, weil eben die gesamten Lebensmittelvorräte der Familie von ihr mit Bleiweiß versetzt waren. Ein Angestellter Stülpnagels machte nun dessen Schwiegermutter auf die Vorgeschichte der Milica Vukobrankovics zur selben Zeit aufmerksam, als eben der Arzt, spät genug, den Charakter der sonderbaren Krankheit erkannt hatte, die alle Familienmitglieder betroffen und bei dem älteren Knaben bereits bedrohliche Formen angenommen hatte. In diesem Augenblick machte die Angeklagte ihrem Geliebten ein Geständnis erst mündlich, dann in schriftlicher Form, und beide gingen daran, die vergifteten Lebensmittel wieder beiseite zu schaffen. Ein Teil mußte untersucht werden, wurde als vergiftet befunden, und die Angeklagte wurde verhaftet. Sie versuchte erst zu beweisen, daß sie das Bleiweiß als Abtreibemittel für sich hatte verwenden wollen und daß durch Zufall das Gift in die Lebensmittel hineingekommen sei. Raffiniert, aber nicht eben so klug, als es dem oberflächlichen Beurteiler erschien, war das ausgeklügelte Verfahren, daß sie den in der Küche verwendeten Staubzucker in einer Drogerie eingekauft hatte, die auch Bleiweiß führte, um die Schuld an den Vergiftungen im Notfall auf die Unachtsamkeit des Drogisten abzuwälzen. Von der Unsinnigkeit dieses Versuches...