Weinland / Back Maddrax - Folge 369
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5506-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Kunst des Überlebens
E-Book, Deutsch, Band 369, 64 Seiten
Reihe: Maddrax
ISBN: 978-3-8387-5506-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer ist die blonde Frau, die so unvermittelt im CERN aufgetaucht ist?
Matt ahnt noch nicht, dass er ihr schon einmal begegnet ist - auf einem Dach in Glasgow, als er von einem Giftpfeil getroffen wurde. Und noch viel weniger ahnt er, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis er zu ihr steht.
Aber das hat er mit Xaana gemeinsam: Auch sie weiß nicht, dass Matthew Drax ihr Vater ist. Doch beider Begegnung könnte kurz werden, denn das CERN steht kurz vor einer Katastrophe, die halb Europa in den Abgrund reißen kann...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Tor spie sie aus wie ein Raubvogel das unverdauliche Gewölle seiner jüngsten Beute. Xaana schnappte nach Luft. Der Aufprall hatte ihr den Atem aus den Lungen getrieben. Während des Transfers hatte sie geglaubt, auf ein Licht zuzurasen. Doch nun fand sie sich in tiefer Nacht wieder, auf einem Boden, der gefroren war; von einer Kälte, die sich anfühlte, als würden sich unzählige Eisnadeln in ihre Haut bohren.
Mutter, dachte sie. Vater …
Während sie rücklings dalag, selbst so starr und kalt wurde wie der Raureif auf den mächtigen Steingebilden um sie herum, klammerte sie sich an die Vorstellung, dass ihre Erinnerung täuschte. Dass sich das Tor im zeitlosen Raum nicht endgültig geschlossen hatte, nachdem sie es gerade noch hatte passieren können. Sondern dass auch ihren Eltern – egal wie! – der Rücksturz in die Vergangenheit gelungen war, so wie sie es gemeinsam beschlossen hatten. Die Reise in eine Epoche, in der ihre Mutter Xij den Tod eines alten Freundes verhindern wollte.
Xaana krümmte sich, weil in ihrem Unterleib ein Schmerz wie nach einem Blinddarmdurchbruch tobte. Tränen schossen ihr in die Augen und ließen die Sterne hoch oben am Himmel verschwimmen. Die Gefühle gingen mit ihr durch.
Aber dann gab sie sich einen Ruck, richtete den Oberkörper ein Stück weit auf und stützte sich auf den Ellbogen ab. Der nächste Atemzug war der erste bewusste in dieser Welt, dieser Zeit.
Sie merkte sofort, dass die Luft anders schmeckte als dort, von wo sie kam. Anders roch. Und voll von fremden Lauten war.
Gerade noch hatte Xaana geglaubt, von völliger Stille umschlossen zu sein. Doch wahrscheinlich hatte auch ihr Gehör einen Moment gebraucht, um wie gewohnt zu funktionieren. Nun waren sie jedenfalls da: Töne, wie Xaana sie noch nie zuvor gehört hatte. Irgendwo, begriff sie, obwohl ihr diesbezüglich jeglicher Erfahrungswert fehlte, starb etwas.
Ein Tier, vermutete Xaana, während sich ihr die Nackenhärchen aufstellten und eine Gänsehaut die Innenseiten ihrer Arme hochkroch. Der Schmerz im Bauch wich dem Gefühl, einen faustgroßen Eisklumpen verschluckt zu haben, der jetzt seine betäubende Kälte bis in den letzten Winkel ihres Körpers strahlte.
Xaana lauschte angestrengt nach einer Wiederholung des Kreischens, das in einiger Entfernung erklungen und dann jäh abgebrochen war. Aber sie hörte nur ein feuchtes Schmatzen, und es bereitete ihr keine Schwierigkeit, sich auszumalen, was es wohl bedeutete.
Irgendwo fraß der Stärkere einen Schwächeren.
Ihre Mum hatte sie darauf vorbereitet. Aber was waren Worte gegen das tatsächliche Erleben? Sie spürte die Furcht, die sich wie ein bleierner Mantel um sie legte, der sie daran hinderte, endlich aufzustehen und den Steinkreis zu verlassen, in dem sie gelandet war.
Allein gelandet. Sie durfte sich nichts vormachen. Wenn sie sich nur darauf konzentrierte, dass doch noch alles gut würde, dass ein Wunder geschehen war, das allem widersprach, was sie während ihrer letzten Momente in der Zukunft gesehen hatte, beraubte sie sich der eigenen Stärke.1
Sie hoffte, dass die Beute ausreichen würde, um den Hunger des nächtlichen Jägers zu stillen, und er nicht auf die Idee kam, weiter zu jagen.
Langsam schüttelte sie die Angst ab, die ihren Puls beschleunigt hatte. Und während andere Geräusche wieder einsetzten, die der Todeskampf zum Verstummen gebracht hatte, merkte Xaana, dass ihre rechte Faust immer noch geschlossen war – und sich etwas darin befand.
Es handelte sich um ein Röhrchen. Ihre Mutter hatte es ihr in die Hand gedrückt, bevor sie sie über die Schwelle des Tores gestoßen hatte. Nun war es das Einzige, was ihr von Xij geblieben war.
Sollte sie es öffnen?
Sie entschied sich dagegen – vorerst. Was nicht zuletzt der Müdigkeit geschuldet war, die sie nun überkam. Der Schock des Transfers war überwunden; nun verlangte ihr Körper nach Erholung.
Sie ging zu den Steinmegalithen hinüber und kauerte sich in eine windgeschützte Nische. Der Platz erschien ihr sicherer, als den Steinkreis zu verlasse und der Bestie über den Weg zu laufen.
Bald nickte sie ein -
– und schrak wieder hoch. Im ersten Moment schien es ihr, als hätte sie nur einen kurzen Moment geschlafen, doch es musste mehr Zeit vergangen sein. Am Horizont zog bereits erste Helligkeit empor.
Nun war es bittere Gewissheit: Sie war allein. Ihre Eltern würden nicht mehr kommen.
Ein Gefühl des Verlorenseins überkam Xaana; sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Als sie sich wieder beruhigt hatte, holte sie das Röhrchen aus ihrer Tasche und öffnete es. Ein zusammengerollter Bogen fiel aus dem Behältnis und entfaltete sich selbstständig. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter.
Xaana las aufmerksam. Als sie fertig war, wusste sie, was ihre Eltern vorgehabt hatten. Was der hauptsächliche Grund gewesen war, in diese Zeit zu reisen. Sie wusste nun, wann, wo und unter welchen Umständen Matthew Drax, der alte Freund ihrer Mutter, sterben würde.
Es war nicht schwer zu erraten, warum Xij ihr das Röhrchen in die Hand gedrückt hatte: Sie wollte, dass ihre Tochter ausführte, wozu sie nun nicht mehr in der Lage sein würde. Außer der Nachricht enthielt der fingerlange Zylinder eine vorbereitete Spritze mit Gegengift, deren Nadel nur noch in eine Vene der Zielperson gestochen werden musste. Das – und ihre Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einer genau definierten Zeit – würde genügen, um Matthew Drax zu retten.
Xaana schwor sich, diesem Wunsch ihrer Mutter nachzukommen, ihr Menschenmögliches zu tun, die Rettungsaktion auch allein in die Tat umzusetzen.
Sie wunderte sich, wie geschmeidig ihre Muskeln und Sehnen trotz der Kälte noch waren, als sie sich vom Boden erhob. Das lag vermutlich an der Thermokleidung, die sie trug und die für eine gleichbleibende Körpertemperatur sorgte. Xaana stützte sich mit den Händen an den Megalithen ab, die sie überragten. Ohne zunächst den Kreis zu verlassen, spähte sie auf die dämmrige Ebene hinaus. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich selbst durch die Sohlen hindurch hart an – hart gefroren.
In der Zeit, aus der sie kam, waren Verhältnisse wie diese nur in Reservaten zulässig, die Forschungszwecken oder Freizeitvergnügungen dienten.
Xaana fürchtete, dass dies nicht das größte Handicap in diesem Game bleiben würde, in das sie eingetaucht –
Ihre Gedankenkette riss.
Habe ich gerade Game gedacht?
Hatte sie sich tatsächlich dabei ertappt, diese ganze Situation wie eines der Spiele einzuschätzen, die sie zu Hause in der Imago-Sphäre spielte?
Verdammt – sie hätte nicht weiter von dem entfernt sein können, was sie als ihr Zuhause betrachtete! Und das sollte ich auch ganz schnell meinem Unterbewusstsein klar machen, sonst –
Etwas berührte ihr linkes Auge und ließ sie zusammenzucken. Einen Moment lang dachte sie, dass ein vorsintflutliches, mit Bakterien verseuchtes Insekt ihr Auge getroffen hätte. Doch dann erkannte sie, dass es nur eine Schneeflocke gewesen war.
Immer mehr Flocken fielen jetzt auf sie herab. Xaana fühlte sich peinlich berührt von ihrer Schreckhaftigkeit, tröstete sich aber damit, dass wahrscheinlich jeder in ihrer Situation so reagiert hätte. Sie nagte an ihrer Unterlippe, bis sich Kupfergeschmack in ihrem Mund ausbreitete.
Wieder schrak sie zusammen. Sie hatte sich die Lippe blutig gebissen. Wenn jetzt ein gefährliches Tier die Witterung aufnahm …
Ihre Fantasie schlug eine Kapriole nach der nächsten. Das musste sie unbedingt in den Griff bekommen!
Xaana schob das Röhrchen in ihre Tasche zurück und machte sich auf, die nähere Gegend zu erkunden. Im ersten Licht des neuen Tages glitzerte eine hauchdünne glitzernde Schicht über der Landschaft.
Eine Waffe, dachte sie. Was ich am dringendsten bräuchte, wäre etwas, das sich als Waffe verwenden lässt. Das hier ist feindliches Terrain. Früher oder später treffe ich auf jemanden oder etwas, das mir nach dem Leben trachten wird. Dann muss ich vorbereitet sein!
Während ihre Blicke über die windige Ebene wanderten, mischte sich in ihre Empfindungen von Verlorenheit, Sorge und Angst auch erstmals ein Hauch von … ja, was? War es allmählich erwachende Abenteuerlust? Etwas, das die Archivare in ihrer reglementierten Welt nie erleben würden; von den Reisenden abgesehen, die in anderen Welten und Zeiten nach Artefakten suchten. Selbst die Luft, die sie atmete, schmeckte anders als die der Zukunft. Im Zusammenspiel mit Wind, Kälte und der Verlassenheit des gewaltigen Areals stimulierten die ungewohnten Wahrnehmungen Bereiche von Xaanas Gehirn, deren hormonelle Ausschüttungen sie ins nächste Gefühlschaos stürzten. Irgendwo angesiedelt zwischen Glückseligkeit und Bäume ausreißen wollen.
Und ebenso übermächtig wurde der Wunsch, all das mit jemandem zu teilen …
„Mum! Dad! Lasst mich hier nicht allein! Ihr kennt euch hier aus – für mich ist das alles neu …“
Ihre Stimme verlor sich im Wind. Und aus den Augenwinkeln glaubte sie eine Bewegung zu bemerken. Sie ruckte herum.
Nichts. Nur Gras, das sich in der Brise wiegte.
Xaana entschied, sich getäuscht zu haben, wollte aber die Probe aufs Exempel machen. Sie ging langsam in die Richtung, die der vermeintlichen Sichtung...




