Weiller | Heitere Himmel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Weiller Heitere Himmel

Über Liebe, Trauer und das Paradies
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82863-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Über Liebe, Trauer und das Paradies

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-451-82863-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auch wenn der Tod nicht immer unerwartet kommt, als Trauernde trifft er uns aus heiterem Himmel. Stefan Weiller schildert anhand von dreizehn ungeschminkten Porträts die unterschiedlichen Versuche, mit Sterben und Verlust geliebter Menschen umzugehen, den absoluten Abschied zu ertragen. In zwölf Kapiteln wandern wir durch die vielen Monate eines Trauerjahres, mit all dem Schmerz im Gepäck, der unvermeidlich ist, aber auch mit einer Skizze von Hoffnung und Glück. So spendet das Buch Trost durch Geschichten, die – von leichter Hand geschrieben – den Blick aus den Tiefen der Trauer immer wieder Richtung Himmel lenken.

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Morgens um fünf klingelte das Telefon. Ich kniff die Augen zusammen und dachte: »Ich will nicht.« Dem Telefon war das egal. Als ich den Anruf endlich annahm, hörte ich, was ich innerlich schon wusste: Mama ist tot. 72 Jahre. Herzinfarkt. Aus heiterem Himmel. Es gab zwar keinerlei Vorzeichen, die wir als Familie hätten lesen können, aber ich wusste es beim ersten Klingeln. Keine Ahnung, warum. Also doch so was wie eine Ahnung. Meine Mutter wohnte 200 Kilometer weit weg. Zeitweise trennten uns Lichtjahre. Wir sahen uns vielleicht vier Mal im Jahr. Telefoniert haben wir einmal in der Woche. Sie hasste Ärzte. Man konnte sie nicht zwingen. Sie starb einfach. Eine Lektion meiner Trauer: Man fühlt sich schuldig und muss lernen, sich zu vergeben. Bei mir kam das Schuldgefühl nach einem Artikel in einer Zeitung, ein paar Monate nach ihrem Tod: »Mehr Frauen sterben an einem Herzinfarkt als Männer. Frauen spielen ihre Beschwerden als Hysterie herunter und behalten sie für sich. Männerherzen nimmt man ernster.« Zu spät. Mamas Beerdigung war seltsam. Vom Schicksal überrumpelt, stimmten wir den Vorschlägen der Bestatterin zu und begingen eine Trauerfeier, die rückblickend wohl nur eine rundum gelungen fand: die Bestatterin. Wir wussten nicht, dass wir eines Tages über diese seltsame Beerdigung sogar lachen können: über die auftoupierte Frisur, die dicke Schminke im Gesicht einer Frau, die zu Lebzeiten keinen Lippenstift kannte, über die niedlichen Putti rund um ihren Sarg und die ausgestreuten Täfelchen aus Kunststein, auf denen Sinnsprüche standen. »Liebe bleibt« war noch einer der besseren. Erbauliche Kalendersprüche für den Moment, wenn die Zeit stillsteht. Jede Menge Sakro-Kitsch. So kommt es, wenn man sich nicht vorbereitet. Heute, Jahre später, mag es okay sein und Mamas Trauerfeier ist immerhin ein Fest der Anekdoten geworden. Noch eine Lektion meiner Trauer: Ich weiß, dass ich tot bin, wenn ich mal gar nicht mehr lachen kann. Aber dazu muss ich nicht gestorben sein. Liebe bleibt und auch die Trauer: über versäumte Gesten, unausgesprochenen Dank, den letzten Streit, verpasste Chancen, entgangene Vergebung, schlechte Vorbereitung. So ist das Leben: nie perfekt. Der plötzliche Tod der Mutter war für mich Auslöser einer Recherchereise, der stärkste einer ganzen Reihe. Ich wollte von dem, was in unser Leben aus heiterem Himmel einbricht, eine Himmelskarte der Trauer zeichnen. Und ich wollte Ausschau nach Paradiesvorstellungen halten. Seit Jahren besuche ich Sterbende, um mit ihnen über Musik zu reden. Für mein Kunstprojekt »Letzte Lieder«. Sie können das googeln, wenn es Sie interessiert. In mehr als zehn Jahren, in denen ich mich mit Sterbenden treffe, habe ich gemerkt: Der Tod ist kein Tabu. Gut so. Er fasziniert uns, weil er jeden begleitet und irgendwann einholt. Egal, wohin wir uns flüchten: Der Tod ist da. Da kann man wohl nichts machen. Das eigentliche Tabuthema ist die Trauer. Man würde ja darüber reden. Aber wie? Auch Trauer begleitet dich überallhin. Sie rennt hinter dir her, tippt dir auf die Schulter oder haut dir in die Magengrube und verlangt, dass du dich ihr stellst. Schwer, sie zu ignorieren. Für Angehörige ist sie unangenehm. Sie fordert. Man will sie lindern, aber sie stellt Fettnäpfchen auf, in die man in bester Absicht hineintappt, wenn man Trostworte sucht, aber nur Phrasen findet. Als Betroffener soll man die Trauer irgendwie selbst in der Hand haben. So scheint es, und so erzählen es mir viele Trauernde. Man bekommt nach dem Tod eines Angehörigen ein paar Tage Urlaub gratis. Das ist Gesetz. Tradiert ist auch eine Schonzeit in Form eines Trauerjahres. Besser, man kriegt sein Leben schon vorher wieder auf die Kette, sonst verliert mancher Angehörige und Freund dann doch die Geduld und überweist den Trauernden an einen Facharzt weiter. Nicht alle machen das. Aber manche. Und alle ohne Böswilligkeit. Sie gehen mit bis zur Reiß-dich-endlich-zusammen-Grenze. Man muss auch ihre Grenzen respektieren. Darüber gehen Freundschaften zu Bruch. Trauer impliziert Machbarkeit. Ich spüre Druck. Mancher verbirgt sich hinter Floskeln und bestimmten Vokabeln. Einige davon machen mir Angst. Ich denke an einen ganz gängigen Begriff: »Trauerarbeit«. Das klingt nach einem Job, den ich nie haben wollte, aber machen muss, und für den morgens um fünf der Wecker klingelt. Jeden Tag. Wie an dem Tag, an dem meine Mutter starb. Was ist mit dem Menschen, der diesen Job einfach nicht packt? Und wie macht man ihn richtig? Gibt es ein Richtig? »Trauerprozess« ist noch so ein Wort, das mich stresst. Ich fühle mich wie ein Angeklagter vor Gericht. Am Ende steht ein Urteil. »Trauergestaltung«, das Wort fände ich schöner, denn darin steckt, dass sich die Trauer formen wird, um mich herum und aus mir heraus. Manches geschieht einfach. Es gibt derzeit geschätzt acht Milliarden Arten der Trauer, genauso viele wie Menschen auf diesem Planeten. Meine Prognose: Die Zahl wird proportional zur Weltbevölkerung steigen. Sicher zeigen sich Überschneidungen und Ähnlichkeiten in der Art, wie wir trauern. Trotzdem: Jeder macht es anders. In der Trauer der anderen sind wir immer nur zu Gast. Allein in der eigenen sind wir zu Hause. Trauer darf kein Tabuthema bleiben. Sie erlaubt es nicht, sondern stößt uns in ein Meer aus Gefühlen. Jedes offene Wort kann ein Rettungsboot sein und leider auch einen neuen Sturm entfachen, der uns taumeln lässt. Aber wenn wir sie totschweigen, gehen wir sicher unter. Reden wir also über unsere Trauer und lernen sie kennen, denn sie ist die dunkle Schwester der Liebe. Wir trauern nur um das, was wir lieben. Deshalb, liebe Trauergäste: Dieses Buch ist eine Einladung in dunkle Räume. Kommt mit in die Trauer der anderen und versteht vielleicht eure eigene ein wenig besser. Das Buch ist kein Ratgeber, versammelt aber Impulse und Gedanken, die den Trauernden auf meiner Reise geholfen haben – oder eben auch nicht. Das muss der Himmel sein
Ich habe eine zusätzliche Perspektive gesucht, eine fantastische, spirituelle, eine, die an das anknüpft, was man in jedem christlichen Gottesdienst – Sie erinnern sich, da war mal was – murmelt: »Wie im Himmel, so auf Erden.« Wie im Himmel? Himmel und Paradies liegen locker und oft unhinterfragt im Volksmund: Man fühlt sich wie im siebten … blabla … Man bekommt Menschen von selbigem geschickt. Man kauft sich das Paradies als Instantpulver von Dr. Oetker, der mich für diese Nennung leider nicht bezahlt. Aber was ist der Himmel, was das Paradies? Muss man dazu gläubig werden? Oder noch schlimmer: fromm? Muss man dafür etwa sterben? Suchen wir also Antworten. Ich habe Menschen in der Hölle ihrer Trauer getroffen und mit ihnen in das geblickt, was ihnen der Himmel wäre. Wo war ich überall? Man hat mir an zugigen und behüteten Orten die Türen geöffnet. In Hospizen, Trauerberatungsstellen, Obdachsloseneinrichtungen und in Privatwohnungen habe ich Menschen und ihre Trauer kennengelernt. In meinen Worten, Gedanken und Bildern habe ich irdische Abgründe und paradiesische Welten beschrieben. Sehnsuchtsorte, die hinter den Tränen liegen. Sehr frei nach Platon lade ich dazu ein, sich neue, ideale Himmelsbilder vorzustellen, um sich zu einer besseren Welt inspirieren zu lassen. Ich bin kein Philosoph. Leider. Nicht, dass ich es nicht mal versucht hätte … Vorsichtige nehmen also auf dem Weg durch die heiteren Himmel besser einen Schirm mit und wehren manche meiner Gedanken ab, wenn es ihnen zu viel wird. Bücher darf man schließen und später wieder öffnen. Und um eins bitte ich Sie schon jetzt: um Verzeihung. Lektion der Trauer: Wer wagt, über Trauer zu reden, wird Gefühle verletzen. Aber: Reden hilft! Immer! Man merkt es nur nicht gleich. Mehrere Himmel spannen sich über dieses Buch. Verteilt auf Menschen und zwölf Monate. Ich ordne die Trauer in Phasen ein und verteile die Phasen auf Monate. Feste Phasen sind ja allseits beliebte Leitplanken auf dem Weg durch die Trauer. Leider tauchen die Monate und damit auch die Phasen in meinem Buch aber nicht in der gewohnten Abfolge auf. Auf Juli folgt in diesem Buch der Februar. Erstarrung kommt auf Wut. Verzweiflung folgt auf Akzeptanz, die vielleicht in Verleugnung mündet. Psychotherapeuten stehen die Haare jetzt schon zu Berge. Astronomen vielleicht auch. Denn der Mai ohne Wonnen geht hier in einen Oktober ohne Gold über und der September verdoppelt sich. So ist das mit der Trauer, wie ich sie sehe: Sie kommt, wann sie will, hebelt Naturgesetze aus und raubt manchem das Zeitgefühl. Monate, Jahre und Gefühle sind in diesem Buch wie vom Wind zerfetzt und auseinandergewirbelt. Lektion der Trauer: Trauer ist nicht messbar. Zwölf Monate sind noch lange kein Trauerjahr, sondern nur die Anhäufung von Zeit unter wechselnden Himmeln. Komischer Einstieg, finden Sie? Das respektiere ich, zumal wir uns schon mittendrin befinden. Aber noch können Sie, liebe Trauerreisebegleiter:innen, an dieser Stelle einfach aussteigen. Falls nicht: Dankeschön und herzlich willkommen! Steigen Sie mit hoch, manchmal bis hinter die Sterne, wo manche ihre Liebsten wähnen. Wenden wir uns der allerallerersten Lehre der Trauer zu: Trauer ist ein unfreiwilliger Einzug in ein finsteres Haus, in dem man sich ganz neu einrichten muss, aber die Lichtschalter nicht findet. Ein Rätsel, wie man da hineingeraten konnte. Man sucht die Wände ab und nirgendwo scheinen Fenster zu sein. Es braucht Zeit, sich zu orientieren. Aber dunkel bleibt es...


Stefan Weiller greift in seinen Büchern und Hörspielen existenzielle Grenzerfahrungen von Menschen in extremen Lebenssituationen auf. Er hat Diplom-Sozialpädagogik studiert und als freier Journalist gearbeitet. Einige Jahre war er als Pressereferent für Caritas und Diakonie tätig. Stefan Weiller arbeitete für verschiedene Zeitungen (Frankfurter Rundschau, Wiesbadener Kurier, Mainzer Allgemeine u. a.). Seit 2009 ist er freischaffender Autor.
Yani Wang galt als Wunderkind chinesischer Malerei. Bereits mit vier Jahren hatte sie in Shanghai ihre erste Ausstellung. Bei Herder erschienen ihre Illustrationen zuletzt in dem Erzählband "Das Feuer und der Kolibri. Geschichten, die beflügeln". Neben ihrer eigenen künstlerischen Arbeit gibt Yani Wang in ihrem Münchner Atelier Kurse in chinesischer Tuschemalerei.



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