E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Weidenholzer Finde einem Schwan ein Boot
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95757-818-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-95757-818-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, Der Platz des Hundes (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman Der Winter tut den Fischen gut war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.
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1 : 18
Wir müssen das Trocknen von Wüsten auf später verschieben, mit diesem Satz liege ich neben dir. Ich schlage die Decke zurück, deine Hand auf deinem Brustkorb, als ob du schwören würdest.
Ich habe Sand gesehen, Sand, der das ganze Haus hier füllen könnte und das Nachbarhaus noch dazu, vom vierten Stockwerk bis ins Erdgeschoß, er würde nach unten rieseln, bis er oben angekommen ist. Woher ich weiß, wie viel Sand das war?
Du hast den Kopf zur Seite gedreht, ich sehe deine Augenlider nicht, deine Wimpern, deine Nase, deinen Mund. Aber ich kenne dich auf der anderen Seite des Bettes, ich weiß, welche Fragen du stellen würdest, und ich weiß, wie viel Sand es braucht, um das alles hier zuzuschütten. Die Wüste war groß genug, so groß, dass der Mensch darin kleiner als ein Streichholz wirkte.
Wir müssen das Trocknen von Wüsten auf später verschieben, sagte sie mit einem Fön in der Hand. Sie ging einen Schritt zurück und schaute in die Ferne.
Wüsten, wiederholte ich und schüttelte den Kopf: Aber wir haben doch gerade noch Wurst gemacht, wir waren dabei, den Darm zu füllen, es sollte die beste Wurst im Umkreis von hundertfünfundzwanzig Kilometern werden, erinnern Sie sich nicht?
Ich wollte meine Hände an der Schürze abwischen, die ich umgebunden hatte, aber da war kein weißer Stoff mehr, ich trug einen schönen Anzug und auch sie. Wir sehen aus wie die feinen Herren, dachte ich, das ist ein Aufzug, in dem man einer Präsidentin begegnet, aber keinem Darm.
Es muss mehr von uns geben, hörte ich mich sagen, es braucht einfach mehr von uns.
Sie schwieg, aber es war keine unangenehme Stille. Es war die Stille eines Nachmittags im Park, wo Hunde Bälle jagen und Krähen über die Wiese hüpfen und vielleicht auch weit oben ein Flugzeug fliegt, eine große Ruhe, die pausenlos in Bewegung ist. Sie stand dicht neben mir, sie nickte. Dann zog sie das Kabel aus dem Stecker, sie wickelte es um den Fön – Achtung, wollte ich noch sagen, manche Hersteller raten davon ab – und da sah ich es, ein weites Land, unheimlich viel Sand und am Horizont ein Gefühl von hier.
WAS DIESES ZUHAUSE IST: ES IST EIN RAUM VOLLER SÄTZE, DIE NICHT GEFALLEN SIND, UND ES SIND DREI BILDER, AUF DEM EINEN EINE EULE, AUF DEN ANDEREN WIR BEIDE. Vier Fenster in den Hof, wo an manchen Tagen Wäsche trocknet, aber nur, solange der Schatten des Nachbarhauses nicht auf die Leine trifft. Wir alle wissen: Richter ist schnell darin, ihre Wäsche abzunehmen, und sie ist die Einzige, die den Weg nach unten geht. Sobald der Schatten sich der Leine nähert, steht sie dort mit ihrem Korb, als ob sie die ganze Zeit am Fenster darauf gewartet hätte, dass es endlich dunkler wird. Weiße Wäsche, immer nur weiße, sie hofft, die Sonne brennt den Gelbstich heraus.
Es ist der Blick in den Hof, auf die Äste der Trauerweide, die manchmal Vögel tragen und nur selten Schnee. Es ist die Stadt, die noch nie das Meer gesehen hat und doch unablässig Wasser dorthin weiterschiebt, Wasser, das uns Tag für Tag vor Augen hält: Nur schnell weg von hier. Hier, wo aus den Hochöfen Rauch aufsteigt, wo abends Feuer in den Himmel geblasen wird, hier sind wir.
Über unserer Stadt erhebt sich ein Berg, der für manche wie ein Hügel wirken mag. Oben wurde eine Befestigungsanlage errichtet, vor fast zweihundert Jahren schon, darin ist unsere Stadt in Miniaturform nachgebaut. Wir können dort durch das Zentrum schlendern und fühlen uns plötzlich richtig groß, weil wir mühelos die Fenster im ersten Stockwerk öffnen könnten, an denen wir so oft vorbeigegangen sind, wir kennen sie, die Marktmenschen, die dort zu sehen sind. Gleich beim Eingang wartet eine kleine Frau geduldig neben einem Korb voller Pilze, auf ihrem Gesicht ein freundliches Lächeln, das erst bei genauerer Betrachtung gezwungen wirkt. Ein paar Schritte weiter hält ein ebenso kleiner Mann Würste in die Luft, als ob er sie gerade erst mit seiner Zange aus dem Kessel gefischt hätte, aber wir alle wissen, er macht das seit Jahrzehnten schon. Ein Großteil der Menschen hier hat die Würste einmal berührt, wir alle sind durch unsere Kindheitstage verbunden. In unserer Höhle werden wir zu Riesen, hier denken wir für einen kurzen Moment, wie klein das Draußen ist.
Elisabeth und Peter schlendern durch die Stadt, sie lassen sich Zeit. Peter trägt ein Hemd, zur Feier des Tages, wie er Jahre später sagen wird. Ein kariertes, blau und rot, wie der Mann mit den Würsten, sie ähneln einander in ihrer Kleidungswahl, nur dass der aus Kunststoff sein Hemd schon seit Jahrzehnten trägt und der andere es erst am Nachmittag übergestreift hat. Es ist Sommer, es ist heiß, es sind die wenigen Tage, an denen Peter zweimal täglich duscht, an diesem Tag vielleicht sogar ein drittes Mal. Elisabeth hat ihn hierhergebracht, Jahre danach wird er sagen, er wusste von Anfang an, es falle ihr schwer, ein Konzept für Romantik zu finden.
»Ich hatte das anders in Erinnerung«, sagt Peter zu ihr, »ich könnte schwören, dass der Mann mit den Würsten früher eine Frau gewesen ist.« »Du schwörst oft«, sagt Elisabeth und sieht sich schnell um, ehe sie die Würste berührt, die auf dem Verkaufsstand des kleinen Mannes hängen. Sie geht weiter, streicht über das Gitter, das die Brote und Gurken vor Kinderhänden schützt. Sie hört ihre Großmutter, spürt den festen Griff am Arm: »Das Essen anderer Leute fasst man nicht an, wisch deine Finger ab.« Das Stofftaschentuch ihrer Großmutter, das Taschentuch, das sie immer eingesteckt hatte und selten wusch, sie riecht es, fühlt es auf den Händen, auf ihrem Gesicht. Elisabeth wischt die Hände an der Hose ab und sieht zum kleinen Mann hinüber, der aus diesem Blickwinkel sehr freundlich wirkt, ihr als Kind aber stets Angst einjagte. Sie geht zurück, stellt sich direkt vor ihn hin. »Hallo Wurstmann, schau, wie groß ich bin, schau, was aus mir geworden ist.« Kleine Augen, ein Schnauzer, der nach unten hängt, er stützt sich auf den Verkaufswagen und sieht unendlich müde aus. Müde von all den Kindern, die seit Jahrzehnten versuchen, seine Würste zu stehlen, von all den Tagen, an denen kein Licht zu sehen ist.
Elisabeth dreht sich um, Peter steht hinter ihr, die Hände in den Hosentaschen. »Ich habe hier immer einen Mann gesehen, keine Frau«, sagt sie und tritt einen Schritt zurück, sie spürt Peters Wärme. »Es ist angenehm hier«, sagt er und verschränkt seine Arme vor ihrem Bauch. »Jetzt verstehe ich, warum du hierherkommen wolltest.«
Elisabeth und Peter verlassen die Grotte, draußen schlägt ihnen die schwüle Luft entgegen. »Ich möchte die Hirsche sehen«, sagt er, »ich hoffe, sie sind heute hier.« »Du magst Hirsche?«, fragt Elisabeth. Peter zuckt mit den Schultern. »Was ist dein Lieblingstier?«, fragt sie.
Es kommt ihr ewig vor, bis er antwortet, er wisse nicht, was ihres sei. »Du zuerst.« Sie gehen schweigend Arm in Arm den Graben entlang, in dem die Hirsche gehalten werden, zwischen ihnen eine Stille, die schwer einzuordnen ist. Sie findet die Stille unangenehm, sie denkt, das ist kein gutes Zeichen. »Hasen«, sagt sie nach einer Weile, er nickt.
Der Zaun ist höher als in ihrer Erinnerung, Peter steht dicht am Gitter und wendet seinen Blick nicht vom Graben ab. Sein Schuhband ist offen. Elisabeth überlegt, von ihrer Großmutter zu erzählen, die bei einer Wanderung an einem sonnigen Tag im Spätsommer über eine Wurzel stolperte und stürzte, wobei sie sich den Arm brach, den linken, der ihr bis zum Lebensende bei Wetterumbruch Schmerzen bereitete. Sie versucht den Gedanken zu verjagen, aber die Großmutter gehört hierher, in diese Umgebung, weil alles hier mit ihr verbunden ist. Elisabeth folgt Peters Blick in den Graben, es ist nicht der Tag, um über Unfälle zu sprechen. Sie hört ihre Freundin sagen, sie solle sich gut überlegen, welche Geschichten sie dieses Mal erzähle.
Elisabeth sagt: »Jetzt sind wir keine Riesen mehr.« Peter nickt, sie ist nicht sicher, ob er sie verstanden hat. Jetzt sind hier keine Wiesen mehr. Er würde genauso nicken, aber vielleicht denken, sie hänge zu sehr der Vergangenheit nach. Manchmal kommt es zu solchen Missverständnissen, manchmal hören Leute falsch und fragen nicht nach. Ich lebe hier, ich lege hier. Diese Momente, in denen man versäumt nachzufragen, denkt Elisabeth, und kurz darauf ist es zu spät, überhaupt noch etwas zu sagen. »Dein Schuhband ist offen.« Peter nickt und pfeift den Hirschen, es tut sich nichts, er greift in seine Hosentasche und holt einen Stein hervor, den er zwischen seinen Händen hin und her fallen lässt. Er pfeift erneut. Sie zieht ihre Tasche nach vorn, sucht etwas, nur was, Sonnencreme, sie geht ein paar Schritte zur Seite und öffnet die Tube, für Außenstehende könnte es so wirken, als ob sie nichts mit ihm zu tun hätte, zu viel Creme, wohin damit, da hört...