E-Book, Deutsch, Band 2, 292 Seiten
Weichert Zerstörung, 1947
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-949961-06-9
Verlag: edition krimi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin
E-Book, Deutsch, Band 2, 292 Seiten
Reihe: Adler, Weibliche Kriminalpolizei
ISBN: 978-3-949961-06-9
Verlag: edition krimi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Weichert, in Berlin geboren und aufgewachsen, studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Germanistik. Wenn er nicht schreibt, entwickelt er moderne Schulkonzepte und ist Dozent an der Freien Universität Berlin. Zu seinen besonderen Leidenschaften zählen geheime Orte der Vergangenheit und andere versteckte Kuriositäten seiner Heimatstadt.
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Zwei Jahre später.
Freitag, 1. August 1947
Es war die Katastrophe des Krieges, die Berlin in den letzten beiden Jahren gezwungen hatte, sich neu zu erfinden. Das Ausmaß der Zerstörungen war beträchtlich. Vielen Häusern fehlten Dächer, Treppenhäuser, ja sogar Hauswände, sodass man den Leuten wie in einem offenen Adventskalender beim Leben zuschauen konnte. So schälte in einer Wohnung eine alte Frau Kartoffeln, während der Nachbar nebenan mit der Zeitung auf dem Sofa saß. Zugleich war Berlin mit Militär nur so vollgestopft. Die alliierten Sieger hatten die Stadt untereinander aufgeteilt und jede Besatzungsmacht hatte ihre eigenen Interessen. Die Russen hatten den Ostsektor als Machtbereich übernommen und der Westteil wurde von Briten, Amerikanern und Franzosen zur Trizone erklärt. Doch während die Westmächte sich schnell auf eine Zusammenarbeit einigen konnten, kam es immer öfter zu Konflikten mit der anderen Seite.
Im westlichen Bezirk Neukölln sah es wie überall in der Stadt aus und es war schwer, sich den Weg bis zur Mietskaserne im Richardweg Nr. 3 durch die beispiellose Verwüstung der Straße zu bahnen. Trotz der wackeligen Fassade war im Vorderhaus noch vieles intakt. Auch in der Wohnung von Luise Adler, in der sie mit ihrem alten Vater, Walter Adler, zusammenlebte, schien alles in Ordnung zu sein. Es gab wieder Licht, das Telefon funktionierte und es herrschte Frieden in ihr. Auch gab es eine neue Liebe in ihrem Leben. Ein großartiger und sehr ungewöhnlicher Mann, den ihr Vater noch zurückhaltend als »Übernachtungsgast« bezeichnete. Der Gast schlief aber nicht mehr, die andere Seite des Bettes war leer. Sie aber schlief noch einmal ein.
Träume dauern in Wirklichkeit nie lange, auch wenn der Traum einem ewig vorkommt. Wie in einem Kinofilm fügen sich Szenen aneinander, aber das Zeitgefühl verliert die Orientierung. Luise Adler fiel noch einmal hinab in eine kuriose Traumsequenz und verlor sich in Bildern. Darin schritt sie elegant im edlen Kleid, Mantel und Hut durch einen Torborgen in eine gewölbte Halle riesigen Ausmaßes. Sie schaute hoch und erblickte eine monumentale Skulptur auf einem wagengroßen Sockel; es war ein Stier, der seinen Kopf zum Himmel streckte. Auf dem Stier saß eine Frau, eine Gottheit, barfuß und nackt. Sie hatte die Arme in Siegeshaltung, in der rechten Hand die Weltkugel, auf der linken saß ein Greifvogel, der seine Flügel ausstreckte, vielleicht war es aber auch eine Friedenstaube, man konnte es nicht genau erkennen. Sie wusste: Die Frau war Europa und der Stier war der verzauberte Zeus, der Gott der Götterwelt.
Von Weitem hörte sie hinkende Schritte, die widerhallend auf dem kalten Marmor näherkamen. Sie gehörten ihrem alten Gegenspieler, der ihr schon mehrere Male das Leben zur Hölle gemacht hatte. Vor knapp sieben Jahren war er leidvoll durch eine tragische Explosion verunglückt, nun kam er über den glänzenden Boden gehumpelt und ging direkt auf sie zu. Ein lebender Toter mit narbigem Gesicht, der zwischen seinen knochigen Fingern einen halb gefüllten Cognacschwenker hielt. Das Bild war grotesk, doch sie erkannte ihn sofort.
»General Görnitz!«, sprach sie, blickte ihm ins zerstörte Gesicht, zündete sich eine duftende Zigarette der Marke Nestor Orient Gold an und nahm ihm dreist das fragile Glas aus der Hand. »Ein Mann, den man gleich erkennt, trotz der schlimmen Blessuren. Sie sehen ausgesprochen schlecht aus, schön, freut mich. Ich hätte nämlich meine Zweifel, ob ich Sie erkannt hätte, wenn Sie auf einem weißen Schimmel aus dem Paradies geritten wären. Ich hoffe, die Hölle bleibt der Ort, an dem Sie schmoren. Warum tragen Sie eigentlich noch Ihre Uniform?«, fragte sie frech, trank ihm den Cognac weg und schmiss das Glas hinter sich, das zerbrach. Danach noch ein kräftiger Zug an der Nestor, um ihm provokativ den Rauch genüsslich ins Gesicht zu hauchen.
»Ich habe für mein Land gekämpft, ich habe dem Führer gedient und ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«, antwortete er kühn und wedelte sich den Qualm aus dem Gesicht. »Warum sollte ich diese Uniform nicht weitertragen, Fräulein?«
»Sie sehen ein bisschen aus wie Hanswurst«, antwortete sie. »Ich meine, Sie sind gestorben, Hitler hat sich erledigt und der Krieg ist vorbei. Ihr Weltbild wird aussterben, zumindest in Deutschland, also was soll noch der Mummenschanz, General Hinkebein?«
»Ach Adler, Sie neunmalkluges, dummes Ding«, spottete er niederträchtig mit den altbekannten Beleidigungen. »Schauen Sie doch genau hin! Ihr Kampf für das Gute ist unsere Chance, die Wahrheit zu kontrollieren. Sie kämpfen für Ideale, die nicht existieren, nie existiert haben. Wir werden uns zurückholen, was uns zusteht. Die Deutschen werden uns abermals nachlaufen. Unser Gift hat sich so tief in ihre Seelen gefressen, dass Sie es schwer haben werden, dieses Gift aus ihren Gedanken zu tilgen. Und auch wenn unser Dasein beendet zu sein scheint, werden wir uns in verschiedenen organischen und anorganischen Formen wieder bemerkbar machen. Die Ordnung unserer Volksgemeinschaft ist unveränderlich. Es ist das wertvollste Konzept von Recht und Gerechtigkeit für die kommenden Jahrhunderte. Sehen Sie sich nur das zersplitterte Glas an!« Er deutete auf den zerbrochenen Cognacschwenker am Boden. »Es enthält ein System von Atomen und Elektronen. Sie können es wegwerfen, zerstören und zerbrechen, doch die Ordnung des Materials bleibt unverändert. Und so ist es mit der deutschen Gesinnung. Daher kann ich Ihnen eines absolut versichern, Fräulein Adler: Es ist nicht vorbei. Ich bin und bleibe:
U N S T E R B L I C H!«
Das Echo des Wortes hallte zwar noch eine Ewigkeit nach, jedoch erwachte sie vom Knall einer entfernten Explosion und der Traum riss ab. Sie sprengten dauernd gefährliche Ruinen draußen und so fiel sie aus der Ruhmeshalle Europa in die Wirklichkeit zurück. Sie war erleichtert über den erlösenden Wachmoment, wollte in diesem Film nicht weiter mitspielen. Wie sie jedoch diesen schrägen Traum mit seiner Hauptfigur aus dunklen Tagen deuten sollte oder ob er überhaupt eine Bedeutung für sie hatte, darüber dachte sie besser nicht nach. Noch mit müden Augen sah sie zum Frisiertisch hinüber. Bevor sie gestern Abend mit ihrem Übernachtungsgast ins Bett gestiegen war, hatte sie dort feinsäuberlich ihre Nylons abgelegt. Ansonsten standen da nur ein paar Tiegel; nichts Atemberaubendes weit und breit. Nivea-Dose, Kölnisch Wasser, Lippenstift, aber nirgendwo ein Pillengläschen mit ihrem altbewährten Pervitin. Sie hatte es gut versteckt. Die Zeiten, in denen sie das aufputschende Mittel wie Hustenbonbons gefuttert hatte, waren lange vorbei. Ihre neue Droge war er, der Franzose: Elian Bouxwiller. Der Mann, der ab und zu bei ihr im Bett schlief und mit dem sie schon öfter geschlafen hatte. Er war kaum älter als sie und seines Zeichens Adjutant de corps, also Oberfeldwedel des 11. Régiments de Chasseurs der französischen Division. Auf dem Gang hörte sie ihn und ihren Vater schon tuscheln. Sie kicherten immerzu und zählten »Zwo, drei, vier«, als wollten sie ein Lied einstimmen. Sie ahnte, was die beiden ausheckten, und stellte sich schlafend, um friedlich abzuwarten, dass sie die Zimmertür öffneten.
»Joyeux Anniversaire! Äppi Birthday to you!«, sang Elian und erschien mit einem kleinen Kuchen mit einer brennenden Kerze in der Mitte.
»Nun ist sie wieder ein Jahr älter!«, begleitete ihr Vater den frankophonen Singsang seines Vordermanns und strich sich über den grau melierten Bart. Er steckte in seinem Lieblingspyjama, war wach und außerordentlich gut gelaunt. »Und? Hast du was Schönes geträumt?«, fragte er. »Dann geht es hoffentlich bald in Erfüllung. Aber nun steh mal endlich auf oder willst du etwa deinen ganzen Geburtstag verschlafen?«
»Du musst erst die Kerze auspusten, Chérie!«, ergänzte Elian in fehlerfreiem, aber französisch akzentuiertem Deutsch. »Das bringt Glück, Chérie!«
Sie richtete sich auf, gähnte und freute sich über die nette Geste und den schönen Moment.
»So habe ich ja meinen Geburtstag noch nie begonnen, dass mich gleich zwei Kavaliere umgarnen. Na, da kann ja nichts mehr schiefgehen.« Auch wenn ihre Stimme dabei fröhlich und warm klang, packte sie schon ein Hauch von Wehmut in diesem Moment, was aber nichts weiter war als ein kurzer Gedanke des Bedauerns. Ihr war klar: das Pendel der Lebensuhr machte auch bei ihr keine Pause, sie würde nicht jünger werden. Das Altern sah sie aber weniger als Kerker, eher als einen hohen Balkon, von dem man Jahr um Jahr immer weiter blicken konnte.
»Mit dem Alter ist es wie mit dem Elsässer Wein, Louise …«, scherzte Elian. »Es muss ein guter Jahrgang sein.« Während ihr Vater dastand und in sich hinein schmunzelte, nahm Elian auf der Bettkannte Platz und hielt ihr den Kuchen vor die Nase. Sie setzte sich aufrecht und pustete die Kerze aus.
»Noch einmal alles Gute, Chérie!«, sprach er und legte eine herabhängende Haarsträhne hinter ihrem Ohr zurecht. Immer wenn er das tat und so redete, klang es wie eine Liebeserklärung. Und ganz besonders sein sanftmütig gehauchter Akzent führte dazu, dass sie Wachs in seinen Händen war. »Und naturellement werde ich heute für meinen Liebling kochen, Chérie«, lullte er sie weiter mit Worten ein und verwickelte schließlich ihren Vater in das Vorhaben. »Soupe à l›oignon … eh … Zwiebelsupp‘. Und Sie werden mir gefälligst dabei helfen, Monsieur Adler! Non, non, heute keine...