E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm, Gewicht: 1 g
1968 und die Welt von heute
E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-03810-315-8
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Terrorismus, Religiöser Fundamentalismus
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Fragen & Probleme
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Anarchismus
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Marxismus, Kommunismus
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Revolutionäre Gruppen und Bewegungen, Bewaffnete Konflikte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Sozialismus
Weitere Infos & Material
1. Vorspiel Ich musste lernen zu stricken, was nicht dem Rollenbild eines zehnjährigen Knaben in den 1950er-Jahren entsprach. Der äussere Anlass für diese Aktion zerstreute allerdings alle Zweifel. Sowjettruppen waren in Ungarn eingefallen und hatten die aufkeimende Revolution gegen den Kommunismus brutal unterdrückt. Deshalb strickten wir quadratische Wollplätzchen, die zu Decken zusammengenäht wurden. Tausende Pakete mit diesen Decken und anderen Gaben wurden nach Ungarn verschickt. Zehntausende Flüchtlinge strömten in den Westen. Istvan wurde uns als neuer Mitschüler vorgestellt und herzlich willkommen geheissen. Einige Monate später, am 1. Mai 1957, begleitete ich meine Mutter in die Stadt, als wir einem Umzug mit roten Fahnen begegneten. «Das sind Kommunisten, die, die in Ungarn einmarschiert sind», erklärte sie mir. Es war das erste Ereignis der Weltgeschichte, das ich bewusst wahrgenommen habe. Es stand für die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Welt, die in zwei Blöcke aufgeteilt war. Auf der einen Seite die in unserem Denken freie Welt, auf der anderen der Kommunismus mit seiner geknechteten Bevölkerung. Beide Systeme durch den Eisernen Vorhang streng getrennt. Diese Bipolarität prägte die Weltgeschichte. Der Wettbewerb zwischen den Systemen war unerbittlich und fand auf den verschiedensten Ebenen statt. Der Wettlauf um neue Vernichtungstechnologien, der sich in den letzten Kriegsjahren intensivierte, wurde von den USA und der Sowjetunion unvermindert weitergeführt. Der direkten kriegerischen Konfrontation gingen die Grossmächte zwar aus dem Weg, aber die Kämpfe verlagerten sich auf Nebenkriegsschauplätze. Eine völlig neue Dimension war die Eroberung des Weltalls; auch hier kämpften die Sowjetunion und die USA um den technologischen Vorsprung. Der entscheidende Kampf aber fand um die Wirtschaft statt. Hier würde sich zeigen, welches System überlegen war. Es gehört zu den verblüffendsten Ereignissen der Geschichte, in welchem Tempo sich die Wirtschaft Europas von der Stunde null zur stärksten Wachstumsphase aller Zeiten aufschwang. Eben noch hatten Trümmerfrauen den Schutt in den zerstörten Städten beseitigt. Anfang der 1950er-Jahre waren in England, Deutschland und Österreich noch Lebensmittelkarten im Umlauf. Formell wurde der Kriegszustand zwischen Grossbritannien und Deutschland erst 1951 aufgehoben. 1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück. Die Konkurrenz zwischen den Blöcken beförderte diesen Wirtschaftsboom. Der nach dem amerikanischen Aussenminister benannte Marshall-Plan, eine milliardenschwere Aufbauhilfe der USA, wurde allen europäischen Staaten angeboten. Auf Druck der Sowjetunion verzichteten aber die zu Satellitenstaaten der UdSSR degradierten osteuropäischen Staaten auf die Unterstützung. Die Franzosen nennen diese Periode ausserordentlichen Wachstums nach 1945 «Les Trente Glorieuses», die Briten und Amerikaner «The Golden Age». Dieser wirtschaftliche Aufschwung fand unabhängig vom jeweiligen Wirtschaftssystem auf der ganzen Welt statt. Das sogenannte Goldene Zeitalter war ein weltweites Phänomen.1 Diese Entwicklung wäre ohne einen wirtschaftspolitischen Konsens, der auf den bitteren Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 beruhte, kaum zustande gekommen. Die Weltwirtschaftskrise wurde dem Versagen des schrankenlosen freien Markts angelastet. Staatliche Rahmenbedingungen sollten dies in Zukunft verhindern. Das Credo war: Nie wieder Massenarbeitslosigkeit!2 Der Frontstaat zwischen den beiden Blöcken war Deutschland. Das Land lag nach dem Krieg in Trümmern, hatte wichtige Gebiete verloren und war durch den Eisernen Vorhang in zwei Einflusssphären geteilt. Dank der Hilfe des Marshall-Plans, aber auch durch unbändige Schaffenskraft rappelte sich die Bundesrepublik Deutschland innert kürzester Zeit auf. Bald begann man vom Wirtschaftswunder zu sprechen. Als Vater dieses Wunders gilt der damalige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard. Seine Parole war «Wohlstand für alle» und sein Modell die auf Privateigentum und Wettbewerb basierende «Soziale Marktwirtschaft». Dirigistische Staatseingriffe wurden abgelehnt. Staatliches Handeln sollte sich auf das Setzen wirksamer Rahmenbedingungen beschränken. Fehlentwicklungen des freien Markts wurden durch soziale Massnahmen abgefedert. Bereits Mitte der 1950er-Jahre wurden in grossem Stil soziale Reformen umgesetzt: die Fünf-Tage-Woche, ein allmählicher Übergang zur 40-Stunden-Woche und eine grosse Rentenreform. Das Gewicht, das dem Adjektiv «sozial» und den entsprechenden Massnahmen zugemessen wurde, erklärt sich nicht zuletzt als Folge der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Die «Soziale Marktwirtschaft» wurde zum durchschlagenden Erfolg. Das Bruttosozialprodukt wuchs in Deutschland in den 1950er-Jahren um über 10 Prozent pro Jahr. Auch in den anderen Ländern Westeuropas war die Generation, die den eindrücklichen wirtschaftlichen Aufbau schaffte, von den Erfahrungen des Kriegs geprägt. Allmählich begann man sich an den zunehmenden Wohlstand zu gewöhnen. Auto, Fernsehen und vor allem das Einfamilienhaus wurden zu den prägenden Statussymbolen für den wachsenden Mittelstand. Man konnte sich wieder Reisen und Urlaube gönnen. Die Rollen in den Mittelstandsfamilien waren klar verteilt. Der Mann arbeitete, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Heim und Arbeitsplatz waren sich so nahe, dass man zu Hause Mittag essen konnte. Dazu hörte die Familie schweigend die Mittagsnachrichten am Radio. Nach dem Essen legte sich der Gatte aufs Sofa und machte ein Nickerchen, während die Mutter das Geschirr wusch und die Kinder es abtrockneten. Dann servierte sie ihrem Mann den Kaffee, bevor er sich wieder auf den Weg zur Arbeit machte. Die Hierarchie war klar, der Erziehungsstil autoritär. Körperliche Züchtigung gehörte zum Arsenal und wurde meist dem Vater überlassen. Die zunehmenden Ausgaben für Haus, Auto und andere Konsumgüter führten immer wieder zu Geldsorgen. «Die Konzentration auf materielle Verbesserungen, auf Familie und häusliches Leben und der Stolz auf das Erreichte drängen das Interesse an Politik und an gesellschaftlichen Veränderungen vielfach in den Hintergrund.»3 Nach dem Chaos der Kriegsjahre war Ruhe und Ordnung das oberste Gebot. «Die Jungen wurden unentwegt zur ‹Korrektheit› angehalten. Wer nicht spurte, fing sich Prügel ein. Halt dich gerade. Mach deinen Diener. Sei schön artig. Stell die Negermusik ab. Was sollen die Leute davon denken. Heul nicht.»4 Keiner hat diese gesellschaftspolitische Realität sarkastischer ins Bild gesetzt als Paul Klee in seiner Radierung Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend. Das Bild zweier sich gegenseitig mit Bücklingen begrüssender Männer stammt zwar von 1903, wird den 1950er-Jahren aber immer noch gerecht. «Es war die mit gnadenloser Selbstzufriedenheit andauernde Nierentisch-Gemütlichkeit der stickigen Fifties …»5 Eine nach dem Krieg aufgewachsene Frau erinnert sich Jahrzehnte später an dieses Leben und an die damaligen Zukunftsaussichten. Es war «einfach langweilig, und die Perspektive, die man gehabt hat für das, was man später mal werden sollte, war noch langweiliger … Ungeschminkte Frau mit weiten Röcken, die mit ihren Kindern über die Wiese hüpft, so ungefähr habe ich meine Zukunft gesehen.»6 Nie in der Geschichte war der Bruch zwischen zwei Generationen grösser. Der Historiker und «retrospektive Zukunftsforscher» Joachim Radkau erinnert daran, wie bescheiden die Ansprüche der Kriegsgeneration damals waren. «Glück ist vor allem zu leben, seine gesunden Glieder zu spüren, seinen Frieden, seine Freiheit, seine Familie, seine Freunde, sein Zuhause zu haben, zu lieben und geliebt zu werden, in der Heimat zu sein, nicht hungern zu müssen, eine unantastbare Privatsphäre zu haben.»7 Die Eltern waren durch Entbehrung und Disziplin geprägt, ihre Kinder durch die Sorglosigkeit einer wachsenden Konsumgesellschaft. Für die Jugend war es schwierig, sich der häuslichen Idylle zu entziehen. Freizeitangebote für Jugendliche gab es kaum. Das Freiheitsgefühl, das vom Elternhaus sich abnabelnde Heranwachsende verspüren, erlebten viele das erste Mal bei den Pfadfindern oder ähnlichen Jugendorganisationen. Nirgendwo war das Verhältnis dieser beiden Generationen belasteter als in Deutschland. «Wir hatten alle Eltern, die Dinge erlebt haben, über die sie mit ihren Kindern nicht reden konnten.»8 Die Kinder hatten eine vage Vorstellung von den Verstrickungen ihrer Väter. «Wir wussten als Kinder, dass unser Vater im Zuchthaus gewesen war, drei Jahre lang. Aber wir haben nicht den Mut gehabt, dem auf den Grund zu gehen.»9 Wer doch den Mut aufbrachte, der wurde mit einem «das muss auch einmal vorbei sein»10 abgespeist. Für die Nachkriegsjugend prägte der deutsche Soziologe Helmut Schelsky 1957 den Begriff der «skeptischen Generation». Er wagte eine Prognose, die offensichtlich noch vom Lebensgefühl der Kriegsgeneration ausgeht: «… diese Generation wird nie revolutionär, in flammender kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren … Man wird sich auf keine Abenteuer einlassen, sondern immer auf die Karte der Sicherheit setzen, des minimalen Risikos, damit das mühselig Erreichte, der Wohlstand und das gute Gewissen, die gebilligte Demokratie und die private Zurückgezogenheit, nicht wieder aufs Spiel gesetzt wird. In allem, was man so gern weltgeschichtliches Geschehen nennt, wird diese Jugend eine stille Jugend werden.»11 So kann man sich täuschen. Ein Jahrzehnt später charakterisierte die unmittelbare Nachkriegsgeneration ihre Eltern mit der...