E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Wehrle Ich arbeite in einem Irrenhaus
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0135-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom ganz normalen Büroalltag
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0135-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Wehrle war Führungskraft in einem Konzern, ehe seine Erfolgsstory als Karrierecoach begann. Heute leitet er die Karriereberater-Akademie in Hamburg und bildet Karrierecoachs aus. Er hat über ein Dutzend Bücher veröffentlicht, bei Econ zuletzt den aktuellen Bestseller 'Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus' (2012).
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1.
Gestatten,
Irrenhaus GmbH!
Sie wollten doch unbedingt wissen, wie dick
Ihr Fell noch werden muss, um hier auf Dauer zu arbeiten!
Der neue Mitarbeiter will wissen: »Wie tickt die Firma?« Der Erfahrene fragt sich eher: »Tickt sie noch richtig?« Dieses Kapitel verrät Ihnen …
• an welchen vier Symptomen Sie ein Irrenhaus erkennen,
• in welchen Phasen der Irrsinn in einer Firma wächst,
• wie der Geiz in einem Konzern zur Hungersnot führte
• und warum Erich Honecker eines Abends nicht ganz zufällig fünf Hirsche erlegte.
Ich heirate eine Firma
»Wir sind der Meinung, dass …« Wenn ein Mitarbeiter die Wir-Form verwendet, dürfen Sie sicher sein: Er spricht für sein Unternehmen. Wie der Fan mit seinem Verein verschmilzt (»Wir haben gewonnen!«) und die Mutter mit ihrem Baby (»Wir löffeln unseren Brei!«), so wird der Mitarbeiter mit seiner Firma eins. Er spricht nicht in der dritten Person, nicht mit Distanz, sondern ergreift stellvertretend das Wort. Die Firma ist er. Und er ist die Firma.
Und so geschieht ein kleines Wunder: Einem einzelnen Menschen, der eigentlich nur über ein Gehirn verfügt, wachsen dreitausend Köpfe (falls das Unternehmen so viele Mitarbeiter hat). Sein Jahresumsatz schießt von 40000 Euro auf 4 Milliarden in die Höhe (falls seine Firma so viel Geld macht). Er ist nicht mehr Hans Müller, nicht mehr Lisa Schulz – er ist Teil von etwas Größerem. Ist Daimler. Ist Microsoft. Ist Porsche. Und tritt auch so in seinem Freundeskreis auf.
Er ist bedeutend.
Welche Sogwirkung dieses »Wir« hat, erlebe ich in der Karriereberatung: Nach fünf Tagen in einer neuen Firma sagt der Mitarbeiter noch: »Die wollen ein neues Produkt einführen!« Doch bereits nach zwei Wochen heißt es: »Unser neues Produkt kommt voran.« Der Mitarbeiter verschmilzt mit der Firma wie ein Zuckerwürfel mit dem heißen Kaffee. Eine solche Vereinigung ist durch nichts in der Welt rückgängig zu machen, nicht mal durch eine Kündigung.
Einer meiner Klienten war Manager bei einem Chemiekonzern und wurde mit einer Abfindung vom Hof gejagt. Doch noch heute, fünf Jahre später, ist seine Distanz zum ehemaligen Arbeitgeber gleich null. Er spricht von »unserem Aktienkurs«, »unserer Produktlinie«, und es fehlt nur noch, dass er seine eigene Entlassung bald als »unsere weise Personalentscheidung« bezeichnet.
Neulich habe ich ihn auf diese Tatsache angesprochen: »Mir fällt auf, dass Sie immer noch ›wir‹ sagen, wenn Sie Ihre alte Firma meinen …«
»Ach, tu ich das? War mir gar nicht klar.«
»Warum immer noch ›wir‹?«
»Ich war 15 Jahre dort. Ich habe viel bewegt. Das ist die liebe Gewohnheit.«
»Aber nach fünf Jahren könnten Sie sich auch daran gewöhnt haben, dass Sie jetzt nicht mehr dort sind …«
»Hab ich ja auch. Aber mit einer Firma ist das doch so wie mit …« Er zögerte und sah lange zur Decke, als würde er dort nach einem Wort suchen. Dann hellte sich sein Gesicht auf: »Wie mit einem eigenen Kind ist das!«
»Inwiefern?«
»Wenn ich ein Kind in die Welt setze, wird es immer meines bleiben. Auch wenn die Mutter mich verlässt und ich es nicht mehr sehe: Es bleibt mein Kind!«
Ich musste schmunzeln: »Sie der Vater, der Konzern Ihr Kind – bringen Sie da nicht die Größenverhältnisse durcheinander?«
Er zog eine Grimasse: »Jetzt legen Sie doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage! Es geht mir ums Prinzip. Ich habe dort viele Projekte in die Welt gesetzt. Einige laufen bis heute.«
Es ist tatsächlich so: Die meisten Mitarbeiter sehen ihr Verhältnis zur Firma nicht als nüchterne Geschäftsbeziehung, sondern als emotionale Bindung. Manche lieben ihre Firma. Manche hassen sie. Aber kaum einer steht ihr gleichgültig gegenüber, wie es bei einem nüchternen Vertragsverhältnis zu erwarten wäre.
Der Spruch »Ich heirate eine Firma« mag augenzwinkernd gemeint sein, doch er streift die Wahrheit: Erstens lieben die meisten Menschen ihren Beruf und damit ihren Arbeitgeber – wenigstens so lange, bis ihnen der Firmen-Irrsinn diese Liebe austreibt. Zweitens heiratet jeder neue Mitarbeiter nicht nur seinen Job, sondern gleichzeitig die komplette Arbeitsfamilie – als wäre der Chef ein mächtiger Schwiegervater mit weitverzweigtem Anhang. Und drittens gilt für Arbeits-Ehen dasselbe wie für andere Ehen auch: Mit den Jahren werden sich die Eheleute immer ähnlicher. Nicht, weil die Firma sich verändert. Sondern, weil der Mitarbeiter sich anpasst.
Aber welche Sitten gelten in dieser schrägen Firmenfamilie? Was muss ein (neuer) Mitarbeiter erdulden? Und wo liegt die Grenze zum Irrsinn? Zum Beispiel könnten Sie sich fragen:
Ist es normal, dass Ihr Chef in der Weihnachtsrede ein hohes Lied auf Weiterqualifizierung singt, Sie aber mit Ihrem Fortbildungswunsch gegen eine Wand laufen?
Ist es normal, dass eine ausgeschriebene Stelle, auf die Sie sich bewerben, schon zwei Monate zuvor unter der Hand vergeben wurde?
Ist es normal, dass der Dienstweg, den Sie gehen, und das Meeting, das Sie besuchen, nur Treffpunkte für Idioten sind – während die Entscheidungsfäden hinter den Kulissen gezogen wurden?
Ist es normal, dass Ihr neuer Chef ein erfolgreiches Projekt seines Vorgängers killt, nur weil es nicht von ihm selbst auf den Weg gebracht wurde?
Ist es normal, dass Ihre Firma die Teamarbeit offiziell hochleben lässt, aber immer nur die Ellbogentypen ins Management befördert werden?
Ist es normal, dass in der Werbebroschüre der Kundenservice in höchsten Tönen gepriesen, aber in Wirklichkeit die ganze Serviceabteilung von Ihrer Firma wie stinkender Sondermüll »ausgelagert« wird?
Und ist es normal, dass auf die Aktionäre ein Dividendenregen einprasselt, während bei den Mitarbeitern Einstellungsstopps verhängt, Gehälter eingefroren und Sozialleistungen gekürzt werden – angeblich mangels Geld?
Ja, all das ist unter deutschen Firmendächern gängig. Üblich. Weit verbreitet. Aber normal, wenn Sie mich fragen, ist es nicht – es ist irre!
§ 1 Irrenhaus-Ordnung: Ein neuer Mitarbeiter denkt, Teil des Unternehmens zu werden. Dabei wird das Unternehmen ein Teil von ihm.
Kleiner Irrenhaus-Steckbrief
Woran können Sie schnell erkennen, ob Ihre Firma ein Irrenhaus ist (ein detaillierter Test erwartet Sie ab Seite 199)? Im Laufe der Jahre sind mir vier wichtige Kennzeichen aufgefallen, von denen mindestens eines zutreffen muss:
1. Heuchelei: Die Firma tut nicht, was sie sagt, und sagt nicht, was sie tut. Sie verspricht Mitarbeitern (und Kunden) mehr, als sie hält. Sie pflegt Leitsätze, die nicht gelten. Sie stellt Forderungen, die nicht zu erfüllen sind. Nur eine Moral ist ihr heilig: die Doppelmoral. Wahr ist, was ihr nützt. Solche Firmen sind Spezialisten für Fassadenbau – nur ihr Außenbild ist makellos.
2. Profitsucht: Die Firma fühlt sich nur einem »höheren« Ziel verpflichtet: der Gewinnmaximierung. Der Kunde ist für sie nur eine Einnahmequelle, ein »Account«; die Umwelt ist für sie nur ein Rohstoff, den es auszubeuten gilt; und der Mitarbeiter ist nur ein Mohr, der gehen kann, wenn er seine Schuldigkeit getan hat. Der Bagger des Personal- und Kostenabbaus schlägt ohne Skrupel zu. Vor allem Konzerne handeln nach dieser plutokratischen Maxime.
3. Egozentrik: Die Firma ist vor allem mit sich selbst beschäftigt – nicht mit dem Markt. Man definiert Prozesse, zelebriert Meetings, schlägt Schaum. Mal herrscht Chaos, etwa nach einer Restrukturierung, dann Erstarrung, etwa nach einer Budgetsperre. Die Mitarbeiter sind auf den Chef fixiert. Der Kunde spielt die letzte Geige.
4. Dilettantismus: Die Firma stolpert über die eigenen Füße. Hier wird kein Geschäft geführt, hier wird fröhlich dilettiert. Die Führungskräfte verdienen ihren Namen nicht. Die Entscheidungen werden gewürfelt. Der Horizont reicht nicht weiter als der Stadtbus. Vor allem im Mittelstand macht sich dieser unfähige Irrenhaus-Typus breit.
Haben Sie Ihre aktuelle Firma erkannt? Und Ex-Firmen womöglich auch? Dann interessiert es Sie bestimmt, wie dieser Irrsinn unterm Firmendach gewachsen ist. Davon handelt gleich »die Wachstumsstory«.
Betr.: Ich arbeite für eine Windmaschine
Unsere Firma ist eine einzige Windmaschine. Das mag typisch für eine Werbeagentur sein, aber wir schießen den Vogel ab. Unser Ruf in der Branche ist erstklassig. Und warum? Wir betreuen zwei deutsche...