E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Wecker Jeder Augenblick ist ewig
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-41496-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gedichte
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-423-41496-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Konstantin Wecker, geboren 1947 in München, studierte Musik, Philosophie und Psychologie. 1977 machte ihn die Plattenveröffentlichung »Genug ist nicht genug« mit der Ballade vom »Willy« bekannt. Ungezählte Tourneen und Konzerte, Filmrollen, Filmmusiken und Musicals folgten. Er veröffentlichte u.a. die Bücher >Uferlos<, >Der Klang der ungespielten Töne< und die Autobiografie >Die Kunst des Scheiterns.< Konstantin Wecker lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in München.
Autoren/Hrsg.
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Kaum dass ich mir bewusst war,
dein Haar zu halten
und das Licht auf deiner Haut zu fangen
und das Pflaster leuchtete wieder
schön,
wie die Mauer Schatten gab
und das Haus im Tierkreiszeichen stand,
abbrüchig,
aber mit tausend Kellern,
kaum dass ich mir bewusst war,
dass du im Licht standst
und in der Stunde,
kaum dass ich mir bewusst war–
begann ich schon
unseren leis atmenden Fluchtversuch zu bemerken.
Kinderlied
Komm mit zu den Kieseln, Kind,
wir wollen sie ins Wasser werfen,
wir wollen sie rollen lassen,
die bunten Kiesel,
Kind.
Ich will mit dir spielen
im Sand,
ich will deine Augen haben,
ich will dein Finger sein,
ich bin der Kiesel,
rund,
bunt an den Ufern, Kind,
da wollen wir spielen
und:
Komm mit zu den Kieseln,
Kind.
…wenn ein Baum hier wäre
oder ein Blatt
oder nur der Geruch eines Baums
oder die Farbe eines Blatts,
wenn der Tau hier wäre,
der das Blatt nicht freigibt,
oder eine Nase voll Rinde
oder ein Tropfen Grün,
wenn ein Baum hier wäre
oder ein Blatt…
Die in Bahnhöfen das Glück suchen
sind wartesaalblau,
singen Schienensang,
die in Bahnhöfen das Glück suchen,
träumen Zeitungstraum.
Und wenn sie aufstehen
von den harten Begebenheiten,
die in Bahnhöfen das Glück suchen,
gehen sie alle unter die Räder.
Noch im Liegen denken sie an Bettzeug
und erlaubten Schlaf.
Und das Wasser
hat einen Mann,
der treibt es.
Klein sitzt er
am Grund. Macht
Welle um Welle.
Die Käfer
Käfer laufen
Käfer surren
Käfer zirpen
Käfer schwirren
Käfer auf Erde
Käfer auf Tau
Käfer braungold
Käfer grünblau
Käfer schwebt
in singender Luft
Käfer krabbelt
in Blütenduft
Käfer in Rinde
vom Himmelbaum
Käfer träumt
Wurm-Traum
Käfer möchte
auf hohe Wipfel
Käfer kann nicht
kommt nie auf den Gipfel
Käfer mordet
Engerlingkind
Käfer frisst
Kind geschwind
Käfer schießt
Engerling tot
Erde wird
blutrot
Käfer bist du,
Engerling er
Krieg haut zu
Mensch ist nicht mehr
Musst
von den Pflastern
die Ritzen
meiden,
Seevogel,
sollst
meine Erde nicht
umpflügen
Bin ein Kieselschiff,
darfst mich
ich
nennen
Es stürzen die Windgesichter,
halt fest:
die Zäune sind umgefallen,
entzähmt
die kaum riechbare Haut der
Mädchen,
die untastbare Welt ihrer
Wortwahl,
wieder prangt der Galgen
und der Stimmbruch
einer Generation
lastet im Fleisch mir
Komm mit zu den feuchten Wurzeln,
satt trink dich,
nimm eine Handvoll Erde,
du,
die Steine am Fluss
schimmern rötlich,
pass auf:
ich zeichne ein Loch in die Luft,
reite fort,
reite fort,
zögere nicht,
es schwindet so rasch
Aus den Sümpfen
sie blickte den Mohn
pflückte einer
und die Farnmähne
viel Ungebornes
der Moorbrüder
und die Mantelnacht
entdeckte sie
wer weiß
Ohne zu wissen
fiel ein sehr kleiner Mond
in deine biegsame Hand
wir waren’s:
unsere Wundergestalten
zauderten nicht
Der Wind
malt eine Fahne ins Wasser,
so tief
träumen die Freunde
und einen silbernen Pinsel,
hingegossen ans Ufer
schau,
der deine Hand hält,
ist dein Traumgefährte,
webt Bilder und Wunderflüche
und sein Atem ist der
schweigsame Regen der Nacht
Bohr ein Loch in den Sand,
sprich ein Wort hinein,
sei leise,
vielleicht
wächst dein kleines Vertrauen
irgendwann
groß in die Sonne
Bist ein seltner Fisch
wieder
hat sich mein Netz
in dir
verfangen
Nach abgestandnem Männerfleisch
schmeckt diese Luft,
nachts im Asyl
der Obdachlosen.
Und Bett an Bett
und Welt an Welt,
ein gleicher Atemzug,
der sich in allen wiederholt.
Einstimmig
ist der Gesang,
nachts
im Asyl der Obdachlosen.
Zellen
die Quadrate erwachsen
sehr
drüberhingleiten:
ich fehle nicht
unter den Händen
die Hornsohle,
festgeschnallt ans Haar,
zählen:
ein Tausendstel zu früh
ein Tausendstel zu spät
schon:
ich würde entarten
so
zieht sich’s dahin.
Wieder dort sein
still liegen,
den Regen riechen,
rasseln lassen,
pitschnass sein,
ganz still liegen,
die Hand
weiß
in den Sand wühlen
Du aber geh in den Wind
denke an zarte Begebenheiten,
deinen Vermutungen gib dich
und abends
wenn du Hoffnung löffelst,
lass dich fortweben
mit dem Wort an der Leine
Anfang
Anfang.
Du hast lange geschwiegen,
dann,
der Schrei
(jener weltberühmte
oft zitierte Schrei),
die Bäume,
die Gesichter,
du wirst ein guter Junge genannt werden,
du wirst ein fleißiges Mädchen genannt werden,
der Pfarrer,
die Tanten
mit ihren triefenden Stirnen,
mit ihrem Gespür für das, was immer war
und wem er jedenfalls sehr ähnlich sieht,
du spürst ihren Sahnetortenatem,
du lernst,
dich vor den Menschen zu ekeln.
Anfang.
Da ist ein großer Himmel,
da sind Hund und Katze,
Vogel und Auto,
Kühlschrank und Vater
und Regen,
ein manchmal harter,
ein manchmal schmiegsamer Regen,
da sind
die Ahnen,
die Gebote,
die Verbote
die Zeigefinger,
du wirst ein widerspenstiger Junge genannt werden,
du wirst ein unmoralisches Mädchen genannt werden,
die Moralisten werden dich Hurenbock heißen,
die Nymphomaninnen werden dich Hure nennen,
du versuchst,
Wälder schön zu finden,
Zärtlichkeit vor den Verstand zu stellen,
ahnst,
der Geruch von frischer Erde ist wichtig,
dann wird es dir verschlossen,
dich zu öffnen.
Anfang.
So viele fremde Freunde
mit ihren schönen Nasen,
mit ihren weichen Mündern,
sie brauchen dich,
sie sprechen zu dir
mit ihren spitzen Nasen,
mit ihren klobigen Mündern,
tuscheln und zischen,
jetzt eine Höhle bauen,
sich schwarz färben,
Pfeil und Bogen und Asche im Gesicht
und dann los:
den Vätern in den Hintern treten,
Gedichte schreiben,
Reden halten,
tun,
du wirst ein zerstörerischer Mann genannt werden,
du wirst eine ungetreue Frau genannt werden.
Anfang.
Noch weißt du nichts
von den kleinen klebrigen Hotels,
von den Wohnküchen,
von denen,
die ihr Leben aus dem Rinnstein saufen,
von den verderblichen Lichtern
über den Eismeeren,
von den süßlichen Gerüchen in den Lazaretten,
weißt noch nichts
von den Gebeten in den Gefängnissen,
von den Briefen der Töchter an ihre
verschollenen Väter,
von all diesen Nächten und Tagen,
von alledem
weißt du noch nichts.
Ich hab geträumt
Heut hab ich geträumt, am 15.10.
beginnt der Krieg. Der Himmel ist rot.
Aus den Flüssen steigen mannsgroße Frösche
und die Ratten programmieren den Tod.
Die Bürger pressen die Aktentaschen
pflichtbewusst an die Köpfe. Die Nacht,
der Pilz und das kreischende Licht
haben mich um meinen Schlaf gebracht.
Aufstehen. Müde. Etwas verbraucht–
war das nun Prophetie?
Ein Blick aus dem Fenster: Alles wie sonst.
Passieren kann so was ja nie.
Zueignung
Geboren in zwar knappen Zeiten,
aber keine Komplikationen im
Mutterleib.
Kein Kaiserschnitt,
nichts, was den Ausgang versperrt hätte,
nichts Aufregendes, diese Geburt:
farblose Laken und eine Hebamme mit
Raucherbein.
Wär gerne am Amazonas zwischen zwei Regenzeiten
in die Welt geglitten
oder in einer Waschküche
heimlich als
Makel einer zwölfjährigen Mutter
oder in einem Luftschutzkeller
unter den Trompetensalven der Bomben–
hätte gern mehr Action gehabt bei meiner Geburt.
Versuche dies nachzuholen:
Gedichte schreiben,
endlose Triller am Klavier
zu häufiges Lächeln, wenn Mädchen den Raum betreten,
anstatt
sich einfach unter die warm und weich tropfende Sonne zu legen
und die Menschwerdung endlich einmal zu
vergessen.
Venedig
Als ob an ihren angefressnen Pfählen
die Stadt mit letzter Kraft sich stützen wollte,
so taumeln die Paläste mit den Säulen
aus feuchtem Marmor steil zum Meer. Als rollte
ein großer Donner aus dem Grund der...