E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Weber Ohne doppelten Boden
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1644-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1644-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Katia Weber, 1978 in Bonn geboren, lebt nach Auslandsaufenthalten in Australien, Venezuela und Frankreich wieder in ihrer Heimatstadt. Sie ist freie Übersetzerin und Lektorin. Ihr erster Roman Kleine Lügen erhalten die Familie ist ebenfalls im Ullstein Taschenbuch erschienen.
Autoren/Hrsg.
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2
BECHT STEHT IM RAMPENLICHT
Zirkus Träume, so hatte der Name gelautet. Einfach nur Träume.
Die beiden Worte schwebten in blauen Lettern auf einer riesigen Wolke. Darunter war ein Schloss abgebildet wie aus dem Märchen. Und noch ein paar Meter tiefer stachen die Türme des Zirkuszelts in den Himmel. Ruth blieb einen Moment stehen, mitten auf dem Gehweg.
So ein Zirkuszelt, das hatte schon was.
Dieses hier besaß drei Spitzen, aus denen silbern glänzende Metallpfeiler in die Höhe ragten. Dazwischen waren Seile gespannt, an denen blaue Wimpel flatterten. Auf Kinder musste die Konstruktion wirken wie eine überdimensionierte, blau-gelb gestreifte Bonbonschachtel, bunt, groß und verheißungsvoll. Sie strahlte, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, die Planen abzuwaschen und zu polieren. Dabei war es im Zweifel nur der Mairegen gewesen. Wenn es diesen Monat nicht so viel geregnet hätte, wäre das Zelt von einem feinen Film aus Pollen und Blütenstaub überzogen gewesen, wie sonnengelber Zuckerguss.
Ruth erblickte die beiden Streifenwagen vor dem Eingang; einer stand viel zu weit auf dem Gehweg. So bescheuert konnte nur Ferdinand parken. Der Bürgersteig vor dem Eingang zum Zirkuszelt war mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Dahinter standen mehrere neugierige Passanten mit ihren Kindern, die die Köpfe reckten und sich auf die Zehenspitzen stellten, um sehen zu können, was da vor sich ging.
Heute keine Vorstellung, dachte Ruth.
Sie lief ein paar Schritte über den Rasen, um an der Absperrung vorbeizukommen, und nahm dann die Rampe für Rollstuhlfahrer. Sie hatte sich nicht umgezogen; ihre kleinen, dicken Füße (Becht sprach immer von ihren Hufen) steckten noch immer in ihren »feinen Schuhen«. Viele Frauen hätten für Ruths Schuhe gewiss nur ein mitleidiges Lächeln übriggehabt. Blockabsatz, keine fünf Zentimeter hoch. Aber dafür ließen sie ihr genug Platz für ihre tiefliegenden Knöchel und die dicken Zehen. Ihr letztes Paar schicke Schuhe hatte Ruth im Januar wegwerfen müssen, nachdem sie an einem Tatort unverhofft und deshalb völlig unpassend gekleidet durch den Matsch gerobbt war.
Plötzlich stand Ferdinand vor ihr.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte er und lächelte freundlich.
Ruth bekam sofort schlechte Laune. Ihr war klar gewesen, dass ihr Aufzug nicht unkommentiert bleiben würde, aber dass sie ausgerechnet Ferdinand als Erstes in die Arme laufen musste.
Ferdinand Maier (mit ai) war die Sorte Kollege, die Ruth lieber nicht gehabt hätte. Er war eitel, unerfahren, dreist und laut. Er vergriff sich im Ton, ohne es zu merken, hielt sich für witzig und trug immer viel zu viel Aftershave auf. Darüber hinaus dachte er meistens, er wäre im Recht, weil er so wahnsinnig von sich überzeugt war. Und wenn er tatsächlich einmal recht hatte, sonnte er sich in seinem Erfolg und sagte Dinge wie: »Da hab ich wohl mal wieder zufällig den richtigen Riecher gehabt, was?«
Zufällig mal wieder. Diese Formulierung brachte Ruth regelmäßig auf die Palme. Fast noch schlimmer als Selbstbeweihräucherungen dieser Art war aber der stille Triumph, wenn Ferdinand einfach nur jovial lächelte.
»Guten Abend, Ferdinand. Wie sehe ich denn deiner Meinung nach aus?«, fragte Ruth liebenswürdig.
Vielleicht merkte Ferdinand manchmal doch, wenn er etwas Dummes gesagt hatte. Jetzt machte er jedenfalls ein betretenes Gesicht und murmelte:
»Äh. So schick?«
Ruth überlegte, ob sie etwas über seine neongrünen Sportschuhe sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie ging wortlos an ihm vorbei und betrat die Vorhalle des Zirkuszelts.
In dem hohen Raum standen ein zur Wurstbude umfunktionierter Wohnwagen und eine ausladende Getränketheke. An zwei Metallstangen, die sich über ihrem Kopf im Dunkel verloren, waren große Strahler angebracht. Einer davon blendete Ruth, als sie einen weiteren Schritt nach vorn machte. Sie wandte den Blick ab. Da entdeckte sie den altmodischen Kaugummiautomaten neben der Theke und musste an Mariechen denken.
Es ist so still, dachte Ruth.
Normalerweise wäre dieser Raum wenige Minuten vor der Abendvorstellung gefüllt mit Menschen und erwartungsvoller Vorfreude. Kinder, Erwachsene, Senioren, die durcheinanderredeten und Popcorn knusperten. Als wollten sie ihren Gedanken stützen, knurpsten in diesem Moment mehrere vergessene Popkörner unter Ruths Schuhsohlen. Sie stellte sich vor, wie Mitarbeiter die Kühlschranktüren hinter der Bartheke öffneten und wieder schlossen, um Flaschen herauszuholen und die Kronkorken zu entfernen. Das Geräusch, klein, kurz, metallisch. Plopp, zisch, Prost.
Ruth drehte den Kopf. Ein paar Meter von ihr entfernt stand ein junger Streifenpolizist, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Er nickte ihr zu. Ruth erwiderte den stummen Gruß.
»Die Spurensicherung ist noch nicht da«, meinte der junge Mann.
Das hätte er ihr nicht sagen müssen. Helene Maletta, die Leiterin der KTU, hätte Ruth schon draußen auf der Rampe gehört, wäre sie anwesend gewesen. Helene brauchte keinen Verstärker. Helene war die Pauke unter Ruths zahlreichen Kollegen.
»Warum stehen Sie hier rum?«, fragte Ruth ruppig.
»Ich musste austreten«, antwortete der junge Mann verdattert.
»Und haben Sie das erledigt?«
»Ja.«
»Na, dann können Sie doch wieder nach draußen gehen.«
»Äh … ich wollte ja gerade …«
Ruth hatte keine Lust, sich sein Gestottere weiter anzuhören. Sie ließ den jungen Mann stehen und ging auf den Eingang zum Hauptzelt zu, tauchte in die Dunkelheit eines unbeleuchteten Durchgangs und fand sich ein paar Schritte weiter auf einem Stahlgitter wieder, das offenbar entlang der Außenwände des Hauptzelts einmal rundum verlief. In Abständen von vielleicht zwanzig Metern führten Treppen zu den Sitzrängen hinauf. Weit oben an den Wänden hingen mit Draht eingefasste Lampen wie in einem Bergstollen.
Ruth betrachtete das Stahlgitter eingehender. Darunter befand sich der Rasen des Felsner Ackers, ausgedünnt und mit vielen kahlen Stellen dazwischen. Die Streben des Gehstegs waren sehr dünn. Nichts für nackte Fußsohlen, dachte sie.
Und Tierpfoten. Ist das überhaupt ein Zoo mit Tieren?
Zirkus, nicht Zoo.
Ruth schüttelte verwirrt den Kopf. Sie war nicht ganz bei der Sache. Simon hatte sich schmollend von ihr verabschiedet und dabei irgendetwas gemurmelt, das sie nicht verstanden hatte, aber sie hatte so ein Gefühl, dass es eine bissige Bemerkung gewesen war. Warum geb’ ich mir das überhaupt immer wieder. War es das gewesen? Hatte er das gesagt?
Und wo zum Teufel ist der Weg in diese dämliche Manege?
»Becht!«, brüllte sie unbeherrscht.
»Ich bin in der Manege«, erscholl die Stimme ihres Chefs jenseits der Zeltwand, die die Sitzränge verdeckte.
Ruth stapfte los in Richtung der nächstgelegenen Treppe und schleppte sich mühsam die Stufen hinauf. Ihr schwarzes Abendkleid hatte zwar einen hohen Stretchanteil, war aber dennoch nicht für größere Schritte gemacht. Sie trat auf den Mittelrang in Block C. Links und rechts erstreckten sich die Sitzplätze, einfache schwarze Stühle mit dünnen, speckigen Auflagen, und eine schwarz gestrichene Holztreppe führte zur Manege hinab. Dort stand Becht, etwa zehn Reihen weiter unten und vergleichsweise klein aus ihrer Perspektive, im Spotlight. Der zerzauste, dünne Haarkranz um seinen Glatzenspiegel schien in Flammen zu stehen, denn das Flutlicht, in dem er badete, war rötlichgelb.
»Eine neutrale Lampenfarbe wäre gut«, bemerkte Becht mit seiner kräftigen Bärenstimme.
Ruth schaute sich um. Sie und ihr Chef waren offensichtlich allein mit der Leiche. Und Becht sah aus, als trüge er einen Heiligenschein.
Ein Wunder. Ein Engel ward gekommen, den Leichnam zu holen.
Das Opfer, eine Frau, war ganz in Weiß gekleidet und hatte nackte Unterschenkel und Füße. Rings um den reglosen, kleinen Körper waren lange, dunkle Haare ausgebreitet, wie ein faseriger Fächer. Davon abgesehen, konnte Ruth von ihrer Position aus nicht sehr viel erkennen.
Becht hob den Arm und bewegte seine Finger. Komm her, schienen sie zu sagen. Optisches Locken. Ruth setzte sich in Bewegung. Die mit schwarzem Tape abgeklebten Stufenkanten erzeugten einen Bremseffekt wie Stoppersocken. Schließlich stand sie vor der Absperrung zur Manege. Sie endete bei ihr etwa auf Hüfthöhe; Ruth war nicht besonders groß.
Und auch nicht besonders gelenkig.
»Wie soll ich denn da rüberkommen?«, fragte sie missmutig.
»Spring«, sagte Becht.
Ruth grunzte und legte kurzentschlossen ihren Oberkörper auf die schmale Mauer, verlagerte das Gewicht nach vorn und schwang ihre Beine auf die andere Seite.
»Uff«, machte sie dabei.
Als ihre Füße aufkamen, stolperte sie zwar, konnte sich aber wieder fangen. Sie wischte sich die widerspenstigen Haare aus der Stirn, richtete sich auf und ging auf Becht zu, der sie erstaunt und voller Anerkennung ansah, da stolperte sie erneut. Dieses Mal hatte sie die Kante des Podests übersehen, auf der sich Becht und das Opfer befanden.
»Die Manege ist beweglich. Das ist so eine Art Drehscheibe«, erklärte Becht.
»Toll«, meinte Ruth, »brauche ich Überzieher?«
Kommentarlos reichte Becht Ruth ein Paar Einwegüberziehschuhe, die sie sich ächzend anzog. Ihr Bauch war im Weg, sie musste dringend ein paar Kilo abnehmen. Bechts Blick blieb derweil an ihren Waden in den blickdichten...