Wawerzinek | Das Kind das ich war | Buch | 978-3-88747-251-1 | sack.de

Buch, Deutsch, 144 Seiten, GB, Format (B × H): 149 mm x 222 mm, Gewicht: 294 g

Wawerzinek

Das Kind das ich war


Dritte Auflage
ISBN: 978-3-88747-251-1
Verlag: Transit Buchverlag GmbH

Buch, Deutsch, 144 Seiten, GB, Format (B × H): 149 mm x 222 mm, Gewicht: 294 g

ISBN: 978-3-88747-251-1
Verlag: Transit Buchverlag GmbH


In seiner autobiographischen Erzählung setzt sich Peter Wawerzinek mit den Landschaften, Orten und Personen seiner Kindheit auseinander, einer Kindheit, die einmal durch Heimaufenthalte und Adoption, zum anderen aber auch durch die hartnäckig-dörfliche Atmosphäre Mecklenburgs und seiner wortkargen Bewohner geprägt war.
Eine Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren auf dem Lande, merkwürdig wenig beeinflusst von den polititschen Umständen, so als ob der Eigensinn der Mecklenburger, ihre berühmte schlitzohrige Verstocktheit alle Ansinnen von Partei und Politik abprallen ließ.
Peter Wawerzinek erinnert in seiner assoziationsreichen, überraschenden Sprache, in einem pointiert komponierten Bündel von Beobachtungen, Skizzen und Porträts an eine Landschaft und an eine Zeit, die dörflich verschlafen erscheint, aber viele Abenteuer und menschliche Sonderbarkeiten bereithielt für einen, der genau beobachten kann.

Eine ruhige, dichte Erzählung, die Beschreibung einer Kindheit, einer spröden Landschaft und ihrer eigenwilligen Menschen.

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M
eine Heimat ist Mecklenburg. Meine Vaterstadt Grimmen. Meine Muttersprache wohnt in der Gesichtsfarbe der wetterfesten Bauern. Von den Tieren auf dem Wasser habe ich meine Fröhlichkeit. Den Schollen im Wasser verdanke ich meinen Ernst. Die Traurigkeit der Quallen nahm mich bei der Hand. Ich bin ein Liebhaber von geborgenen Feuern, wie sie in den Räuchertonnen der Fischer lodern. Und ich kann, zwischen Steinen hingestreckt, die Nacht am Meer ausharren. Ich bin ein großer Wolkengucker.
Ich wurde geboren und weigerte mich, zu atmen. Mein Puls ging mit den Jahreszeiten. Als ich ins Heim gesteckt wurde, war ich ein zarter Same, ein nichtiges Korn im Sand.
Ich wuchs auf. In einer Natur mit steifem Nord und Nordost. Mit hartnäckigen Windböen gespickt, kamen meine Jahre. Als die Rostocker Innenstadt wiederaufgebaut und Wiesen trockengelegt wurden. Wo die zukunftsweisenden Zauberworte Melioration und Rinderoffenställe waren. Gebilde, von denen Bauer Pöschke sagte: Is schon schlimm, daß man nicht recht aussprechen kann, was einem zudem nicht recht in den hohlen Kopf gehen will.
Da woher ich komme, geben windschiefe Krüppelkiefern am steilen Ufer der Landschaft ihre Note. Die Postfrau wußte alles und kannte jeden und stand viele Stunden mit den Leuten herum. Um alles und jedes zu bereden.
Da woher ich bin, hält man sich Schweine und bernsteinfarbene Hühner. Ruf die Hühnchen, daß sie kommen, bring ihnen Körner als Willkommen. Seltener Schafe. Wie der Böttchermeister zu Kröpelin. Dem zwei wollige Knäuel im Kampf gegen die hartnäckige Brennessel zur Seite standen.
Die Kinder der Leute trugen blonde Schöpfe und waren in ihrem Gesicht von Sehnsucht gezeichnet. Man munkelte, sie wären zu nachtschlafender Zeit über dem erleuchteten Mondsee erschienen. Mit wallendem Haar, jedes auf einem Stück Holz, in großer Schar. Ein Teesieb zum Segel umfunktioniert. Irgendein Gerät von Omas Spindel als Ruder.
Die Söhne der Leute in Mäkelborg wurden, was die Väter waren. Die Väter der besseren Söhne waren Bauern oder Arbeiter. Die Arbeitersöhne werkelten am Rande des Ortes in einer niedrigen Metallfabrik. In den dunklen Hallen schweißten sie, wenn der Plan erfüllt war, Gartenzäune und schnörklige Kerzenständer, später sogar originalgetreue Schaukeln namens Hollywood.
Die Haut der Töchter der Väter war lichtweiß, wie aus Sand vom hellen Strand gebacken gingen sie im Dorf um. Als träumten sie durchweg von einem eigenen Frisiersalon. Die meisten von ihnen wollten Mannequin werden und hatten im schönsten Sommer noch die dicken Strumpfhosen zu ertragen. Die Töchter der molligen Fischerinnen waren schlank und biegsam. Geradeso, als könnten sie durch sämtliche Schlüssellöcher gehen. Die Mütter und ihre zierlichen Töchter hatten gewöhnlich Sommersprossen und eine gräßliche Aussprache. Sie saßen im Hof und schauten den Vätern beim Netzeflicken zu. Die Männer der bolzigen Frauen trugen über ihren dicken Joppen lange Schürzen. Brüchige Lackumhänge, an denen getrocknete Fischschuppen flimmerten.
Die Väter unserer Väter, sagten die Söhne der Väter voller Stolz, stachen wie deren Väter immer schon in See. Weit vor dem Sonnenaufgang zogen sie mit ihren Netzen Fische ans Land. Der Fischer Scheller sang: ›Im Wasser schwimmen die Fischlein herum. Bald sind sie grad, dann wieder krumm.‹ Mal fingen die Fänger viel. Mal kriegten sie nur ein paar Schollen zu fassen. In schlechten Zeiten verfingen sich ausschließlich Muscheln und Krebse in den engen Maschen.
Von den Fischern hieß es, sie seien die gebildetsten Mannen vonner Küst all Tied wast, weil sie früher schon besser als der Pastor schreiben und vor allem gut rechnen konnten und ’ne Menge aus den Atlanten der See zu lesen verstanden, ohne daß die Schule nachzuhelfen brauchte.
Die Kinder vom Fleischer hingegen waren dick und ungemütlich. Ihre Pausenbrote waren extraordinär und prall belegt. Sie waren in der Schule denkbar schlecht. De süln rechens liern, dat langt hin, um das Geschäft zu übernehmen, sagte der Fleischer jedem, der’s fast schon nicht mehr hören konnte. Die Frau des Fleischers ging beschämt achtern, wenn der Fleischer vor all den Kunden so ungeniert, was Pauker im Dorf war, heruntermachte. Der unfaßbar wetternde Metzger hatte es besonders auf das Frauenvolk der Lehrer abgesehen. Nervenaufreibende Puten, die sich zierten und mäkelten: ›Das wird meinem Gatten wohl doch nicht zusagen.‹
Meine Haut war vom Sand blankgerieben. In meinen Knochen rauschte das Meer. Meine Hände waren auf dem Rücken gerifft. Hinter den Ohren wuchs mir türkises Moos. Meine Lippen schmeckten nach Salz. Meine Füße gingen im Schaum. Die Gischt war bisweilen wie Eigelb getönt. Ich trug die Wolken als Schmuck auf dem Kopf. Mein war der Sterne Wimmern. Mir galt der totenstille Teil der Nacht. Ich vernahm die Schreie der Versunkenen aus der Meerestiefe. Ich hielt gestrandete Quallen in meinen Armen und wiegte sie in den ewigen Schlaf. Das Böse schlug wie Wellen auf mich ein und glitt mir wie Wasser den Buckel herunter.
Der Figaro des Dorfes war ein lautloser, hündisch nickender Mann. Außen Hui und innerlich Pfui. Ein durchtriebener, verräterischer Kadaver. Er band einem den steifen Umhang wie eine Fessel um. Ließ sich zum Hohne sagen, wie man sich die Frisur vorstellte. Ehe er: ›Ay, ay, verstanden Sir!‹ machte und zack war man wieder wie stets viel zu hoch überm Ohr zur Bombe ausbarbiert. Ein untertäniger Lump, mit bösen Mächten im Bunde, die wild um sich spien gegen die neuerlichen Moden, denen wir zu frönen suchten. Unbeschreiblich, wie die Alten gegen Zottelköppe donnerten und blitzten. Wir aber wollten mit den Beatles wachsen.
In der Bank vor mir saß dann einer, dessen Eltern nicht erlaubten, daß er Pionier wurde. Sie sollen schriftlich ausgeführt haben, daß ihr Bürschchen ohne die langen Haare segelohrendumm wirke.
Die Männer meines Landstriches hatten grobschlächtige Prankenhände und konnten zupacken. Wenn sie wollten, ein Pferd im Galopp sperren. War nichts zu tun in der Fabrik, lagen sie mit freien Oberkörpern wie Tote in der Gegend.
Mittwochs um eins brüllten die Sirenen. Die Sirene unseres Dorfes schrie mit den Sirenen der Nachbardörfer um die Wette. Nach getaner Arbeit saßen, wo ik tau Hus wier, die Männer in der kargen Eckkneipe. Gegenüber, wo früher der alte Kaufmannsladen und die blauweiß gekachelte Fleischerei standen. Man wendete sich gern dem Spiele zu und genoß die Völlerei. Man hockte unter allerlei Seemannskram und haute sich die Hucke voll. Man sah schon die ölige Geschmacklosigkeit, die ein Heimatmaler gepinselt hatte, der das Meer nicht gut malte. Was einem besonders ins Auge stach, wenn man längere Weile gedankenverloren auf die Leinwand blickte. Es hieß, der Kunstschaffende habe null Ahnung von der Seefahrtskunst. Denn auf dem Bild, das den Fischern impertinent in die Birnen stieg, grad wenn sie Bier und Korn schluckten, hatte das Mannsstück ein Fähnlein am Mast gegen den Wind wehend ausgeführt.
Die jungen Burschen, den Modder ihrer Dreckswege am Stiefelschaft, schlurften herein und warfen ihre Mützen in die Kleiderablage. Sie klopften mit den Fingerballen auf die Tischplatten, setzten sich auf ihre angestammten Stühle und droschen prompt Karten. Die jungen Kerle tranken wie ihre Väter. Sie soffen bi Nacht un Dach das flüssige Brot in heftigen Zügen. Sie redeten die ersten Jahre noch recht flott und manchmal regelrecht viel und wurden mit der Zeit immer stummer, bis sie zu guter Letzt so mundfaul wie ihre Vorfahren im Gastraum griesgramten.
Die Söhne der Bauern waren schlimme Lümmel. Nichts Verwerfliches war ihnen fremd. Die Bauernjungen waren Tage zwischen Bohnen, Kohl und Karotten in den Furchen und wußten nicht, daß man Gemüse nie mit dem Messer, sondern immer mit der Gabel zerteilte und frisches Obst mit einem Obstmesser aufgeschnitten wird. Was Wunder, daß sie den Mädchen frühzeitig hinter die Röcke jagten. Und den Küster bis auf Jesus’ Knochen reizten. Und mit den Beinen in einem Brei aus Lehm und Kuhmist zusehends alt wurden. Sie stützten ihre Scheunen, nützten ihre Äcker und wandelten Arbeit in schießende Saat. Sie blieben allein. Sie lobten die Sau, kraulten den Gaul, küßten die Legehennen und hatten keine Menschenseele richtig lieb. Sie fummelten auf dem Maschinenhof an rostigen Kombinen, schmierigen Treckern und bastelten stumm an sonstiger Gerätschaft. Und gingen mit Schwarzhänden und blauroten Nasen durchs Dorf.
Ich rannte drei Hasen hinterher, um drei Hasen aufzugeben. Ich sprang von Ast zu Ast und ließ mich hinabfallen. Ich lachte. Ich posaunte, wenn Einsamkeit ein Mantel wäre, würd’ ich ihn abtragen. Ich speiste am liebsten Pellkartoffeln mit Butter und Quark. Andere hingegen standen auf Bratkartoffeln und Sülze. Ich fühlte mich wohl auf Erden. Keinerlei Zerknirschung wohnte in meinem Leib.
Wo ich wie ein Gössel aufgezogen wurde, bekam, wer wollte, ein Stück vom Wäldchen vor der Küste in Pflege. Und de See towte as wie en will Diert un’t bitt Johr vör Johr de Äuwer enttwei. Das Wasser nagte zur Herbstzeit am Steilufer, riß ungehindert große Teile mit sich fort. So daß die Wege entlang der Küste ständig neu weiter nach hinten verlegt werden mußten. Und alle fünfzig Jahr gefror die See, türmte das Eis in großen Platten übereinander. Da war ich acht, und aus dem Nachbardorf, hieß es, waren zwei nach Dänemark ausgebüchst. Mußten über die Glacehalden auf dem Bauch gekraxelt und wohl mit abgefallenen Ohren in die Freiheit gerutscht sein.
Das Heimkind das ich war, wuchs hinter festen Mauern in einer rotbeleuchteten Kükengemeinschaft. Die einklassige Schule, von der die Alten sagten, ihr Niveau hinge allein von der Güte des jeweiligen Lehrers ab, habe ich nicht mehr erlebt. Ich trug das halbe Jahr Holzpantoffeln und wohnte in einem Zwölf-Mann-Schlafsaal. Wenn die Pantinen beim Schuster waren, konnte ich nicht auf die Straße gehen.
Im Jahr kamen mehr Urlauber ins Dorf als es Einwohner hatte. Die Urlauber sprachen ein breites Kauderwelsch. Sie sagten zur Hose Hase und zum Hasen Hose. Sie riefen dauernd ihre Männer mit Kuck ma här zurück. Die Männer trollten sich ungern zu ihren Frauen an der Schaufensterscheibe und trugen lustige Hütchen auf ihren dicken Köpfen. Einige hatten Wasserbälle unter ihren Armen, die so dick wie ihre Bäuche waren. Die Urlauber rieben sich mit Ölen ein und trugen verspiegelte Sonnenbrillen. Sie sagten, daß die Gegend an sich nichts hätte, wenn da nicht das schöne Wasser wäre. Die Urlauber kleckerten Burgen und bauten aus allen Materialien mächtige Windschutzvorrichtungen und kreischten im Wasser wie unter Monstern. Die der Natur verbundenen Ur-Lauber wohnten in großen, stillgelegten Wohnwagen. Dann wurden diese verboten, und die ersten Wohnmobile tauchten auf. Dann kam eine französische Delegation in den Ort. Der Bürgermeister begrüßte die drei untersetzten Lehrerinnen und den dürren Pförtner einer französischen Fabrik auf höchster Ebene. Die Franzosen mußten an einer Parteisitzung teilnehmen. Das heimatliche Museum und das neue Landambulatorium besichtigen. Im Museum blickten die Gäste auf eine mecklenburgische Haarhaube und eine japanische Gebetsglocke und zwei englische Kaminhunde. Man lud sie zur Jugendweihe. Und die Gäste betonten, daß sie so etwas noch nie zuvor erlebt hätten. Auf dem Zeltplatz im Nachbardorf waren die Toiletten noch nicht in Herren und Damen aufgeteilt, aber ständig verstopft. Die Fischer mußten sich in ein für sie eingerichtetes An- und Abmeldebuch eintragen, damit die Wasserpolizei wußte, wer zur Zeit mit welchem Boot und welcher Begleitung auf See war.
Wir waren stolz auf unsere See. Und wußten mit den Bergen nichts anzufangen. Die Alten sagten, das Meer könne nicht einstürzen, weil es von keinem Menschen erbaut wurde. Der Himmel wäre ewig, so wie der Wind die Zeiten überlebt. Die großen Scheunen waren aus Holz. Unter ihren Dächern lag das Stroh der vergangenen Jahre. Am Abend traten die scheuen Rehe aus dem Wald. Die Kriminalpolizei ging im Ort um, führte Kontrollen durch in Bezug auf Westfernsehen, wie offiziell im Konsum getuschelt wurde. Wir duckten uns zwischen die Schulbänke und trafen so Maßnahmen gegen den Abwurf einer Atombombe.
Heimer, so habe ich oft reden hören, sind dauerhafte Charaktere. Sie könnten fließend flämisch. Sie wären patente Kerle, träfe man bei ihnen den rechten Pflock. So sängen sie einem schöne Morgengrüße unter den Treppenstufen und Dachrinnen. Ihre Könige wären Steinzerbeißer und trügen einen Liliputaner unter dem Herzen. Heimkinder wären nicht gerade Missionare der Pausbäckigkeit, hieß es weiter. Ihre Ohren hätten sie falschrum am Kopfe. Die Augen wären Tassen ohne Henkel, in denen sie schwappend Eindrücke verplempern.
Über dem Meer schwebten mitunter seltsame Lichter, von denen allerlei gemunkelt wurde. Und manch eine Königin soll in einen Orkan geraten, samt Boot ans Ufer geschleudert sein und habe gelobt, weil sie die Torturen überlebte, am Überlebensort eine Kirche aus den Quadern ihrer Dankbarkeit zu errichten. In der fein ausgemalten, sehr barocknahen Kirche stand eine Sanduhr auf der Kanzel, daß der Pastor nicht überzog. Die Gläubigen kamen in ausgeklügelter Reihung, der Ranghöchste voran, zum Gebet. Die reicheren Bürger trafen zuletzt ein und hatten ihr ganz persönliches Gestühl, worauf sich kein anderer setzten durfte. Erst wenn die Autoritäten Platz genommen hatten, verstummte die mächtige Glocke und die Orgel hob ihr Geträller an.
Wir wären herrenlose Kinder, wußte einst eine Forscherin aus der Kreisstadt zu berichten. Wir würden irgendwie Klempner oder Knasti, doch zumindest wäre niemals einer von uns je zum k.o.-Schläger geworden. Wir wären Verlierer auf Lebenszeit, schrieb sie. Die Vierfruchtmarmelade sei uns, was den feinen Herrschaften Schampus sei.
In der Landschaft grasten die schwarzäugigen Kühe hinterm Koppelzaun. Mancher Hahn krähte in der Frühe in einer so bedrückenden Intensität, daß der genervte Nachbar durch den Trennzaun brach und ihm den Hals umdrehte. Die alten Frauen kochten den Hühnern Kartoffeln, die sie mit ihren rissigen Händen zu Brei quetschten. Ehe sie Körner und zerschlagene Eierschalen daruntermischten. Im Winter gab es Glühwein und in der Röhre gebratene Äpfel. Man aß geriebene Gänsemägen und räucherte sich Putenbrüste. Der Salat wurde mit Essig und Zucker angemacht. Man kochte Blut und Rosinen zu einer Masse, die man Snuten un Poten nannte und mit Bratkartoffeln den Gästen oder an Festtagen auftischte. Den Kindern wurden zu Weihnachten aus Mürbeteig lütten Kinnjes gebacken. Die alten Männer hauten Waken ins Eis und angelten den dünnen Aal, der von den Großmüttern zum Suuraal in Gelee gewandelt wurde. Ein Leckerbissen, den man rechts links packte und durch die Zähne zog.
Mein Werden war von Anbeginn ein barfüßiger Gang durch Stoppelfelder. Wie schmutzige Fingernägel waren unsere Gedanken. Es war nicht einfach, anständig zu bleiben. Keine Gelegenheit für langes Trällern. In meiner Seele kerkerte ein dickköpfiger Flötenspieler mißgelaunt sein Instrument, dem er jämmerliche Töne entrang. Wir bewegten uns wie gestrandete Robben bäuchlings durchs Leben. Unfähig, bleigraue Tiefen zu gewinnen, gar der Brandung zu entfliehen, wurden wir wie Packpapier stapelbar.
Über die Lautsprecher auf dem Flur im Heim kroch oft der Radetzkymarsch. Wir gingen selten spazieren. Die uns mitleidig betrachteten oder befangen über den Schopf strichen, sprachen uns Mut wie einer Sauerteigmasse zu.
Die Nebel hüllten mich. Wie Zwangsjacken, die man nicht so mir nix dir nix zerriß. Ich erinnere mich grell. Wir waren unter Buchen giftige Pilze verfluchen und bei den Linden den Pfifferling nicht finden, als ich aus Versehen einem Hund auf die Hinterpfote trat, daß er jaulend fortsprang und für alle Zeiten auf drei Beinen durch meine Träume humpelte. Ich schlief wenig und schlecht.
Meine Hoffnungen verklumpten mit den ziehenden Wochen. Meine einst biegsamen Emotionen wurden wie Stahl zusammengeschweißt. Die Ängste fügten sich zu einem Container, den ein Kran in den dunklen Bauch eines fremden Frachters senkte.
Ich lag verkeilt und hörte die Männer an Bord von Tauchtiefen reden.
Das wahre Leben lief in den Kneipen ab. Pausenlos fand sich ein Hein, der dem Kuddel zustimmte, oder es saß der Pitt bereits bei Hanning am Tisch. Die Zecher tranken, bis keiner nicht mehr recht von seinem Hocker hochkam. Und schleppten sich angestrengt vor ihre Pforten.
Der erste Wirt meiner Kindheit hatte struppiges schwarzes Haar. Hinter der Schankwirtschaft stand sein Taubenhaus. In dem Häuschen bewahrte er Brieftauben, mit denen er Wettbewerbe bestritt. Über seinem Tresen ein von Kinderhand gekritzeltes, reizvoll gerahmtes Gedicht, in welchem es sinngemäß hieß, daß morgens zu öffnen sei das Taubenhaus, dann flögen die Tauben fröhlich heraus, übers grüne weite Feld, grad wie es ihrem Meister gefällt. Und kehrten sie abends zur Ruh, macht der Taubenmann die Kiste wieder zu. Der Wirt schien mir einer von diesen verwegenen Burschen gewesen zu sein, von denen man in den Büchern las. Ich meinte, er habe die Länder der Welt wie Kieselsteine in der Hosentasche. In Wahrheit war er ein ahnungsloser Muskelschrank, der im Gegensatz zu seinen Tauben das Dorf nie verlassen hatte.
Er sprach kaum ein Wort und achtete darauf, daß niemand in der Trinkstube durch Plauderlust den Rest der Stammschaft verwirrte. War jemand solchermaßen von der Rolle, wie es hieß, entzog der Hausherr dem Störenfried kurzerhand den mit Strichen gesäumten Bierdeckel.
Da woher ich komme sind die Häuser aus dunkelrotem Stein gebacken. Flach wie glubschäugige Schollen liegen die Orte. Wie Hechte in die Gegend gestellt Türme und Kirchen. Um die Häuser lagerte verstreuter Kleinkram. Von Hecken, die stachligen Knurrhähnen glichen, fest umschnürt Hof und Haus. Die ursprünglichen ältesten einstöckigen Hütten besaßen zu Zeiten des Strandvogts rechts und links der Diele je zwei große Zimmer und die Küche war nach hinten raus. Das Klosett stand noch außerhalb, und Wasser wurde aus der Pumpe geholt. In der Scheune lagerten Boote neben Fischernetzen. Hinter der Scheune, in einer bodenlosen Tonne, wurde der Aal mit Wiedenolm oder Dannen un Eikensagels geräuchert.
Man hatte im Normalfall einen wohlgeordneten Garten mit adretten Blumen und Zierbäumchen nach vorne hinaus. Nach hintenheraus machte das Kleinvieh in seinem wilden Gatter Mist. Neben den Häusern waren Wäscheleinen zwischen Baumstämme gespannt. Die Wäschestücke wedelten über die fetten grünen Rasen.
Man fuhr, wenn es windstill war, mit dem Boot an die Flecken, wo sich der Aal sonnte. Man lauerte ihm mit einer fünfzackigen Apparatur auf. Der gestochene Aal wurde in eine löchrige Kiste gesteckt, die man, am Boot festgebunden, unter Wasser ans Land zog, damit der Aal nicht vor dem Ausnehmen verendete. Einmal, in der Nacht vor einem hohen kirchlichen Feiertag, so ging die Sage, wäre ein Fischer mit seiner Fackel zum Aalstechen ausgelaufen und, während die Leute fein hergerichtet zum Gottesdienst gingen, immer noch nicht heimgekehrt und für immer verschollen geblieben. Jedes Jahr um exakt die nächtliche Zeit sah man nun ein Licht auf dem Wasser irren, das von den Einwohnern das Blüslicht des ewigen Aalblüsers betitelt wurde.
Ich wünschte Matrose zu werden, auf einem seine Kreise ziehenden Boot mit möglichst närrischer Besatzung. Ich würde ein lachender Kapitän, sagte ich mir, der die gesamte Tonnage für zwei Wahrsagerkugeln eintauschen würde.
Da wo ich Kind war kam höchstselten ein Fahrzeug vorbei. Wenn mal etwas haarscharf an einem vorbeibrauste, war es der bucklige Herbert auf seinem quietschigen Klapperrad. Das Rad quietsche, hänselten die Leute, weil der bucklige Herbert man stets so in Eile den Ort durchsauste. Weil man sich den Buckelherbert nicht ohne Fahrrad denken konnte, hielt man ihn bald für einen quietschenden Maschinenmenschen, den es zu ölen oder zu reparieren galt. Dat mit sin Unruh kümmt vun sien Buckel, der dem Herbert seine innere Beschaulichkeit abgesogen hat, sagten die Leute. Denn normal wier dat nich, dat hei so viel mit dem klapprigen Rad im langweiligen Kuhdorf nach dem Rechten kiekte.


PETER WAWERZINEK, geboren 1954 in Rostock, aufgewachsen in Rerik und Bad Doberan, Lehre als Textilzeichner. 1978 Umzug nach Ost-Berlin. Studium an der Kunsthochschule-Weissensee. Verschiedene Jobs, u.a. als Briefträger und Kellner bei der Mitropa. Gleichzeitig war er bereits in den Achtzigerjahren als Performance-Künstler und Stegreifpoet aktiv und unter dem Namen 'ScHappy' in der Ost-Berliner Literatenszene.
Peter Wawerzinek veröffentlichte nach der Wende als eine Sammlung von Parodien zur DDR-Literatur. Im TRANSIT Buchverlag erschienen 'Das Kind das ich war' (1994), 'Mein Babylon' (1995), 'Café Komplott' (1997), 'Sperrzone' (2000) und 'Das Meer an sich ist weniger' (2001). Peter Wawerzinek lebt in Berlin.



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