E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Watson Die Stadt im Nichts
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20670-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-20670-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mark Watson, geboren 1980 in Bristol, ist Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator und international erfolgreicher Stand-up-Comedian. Er ist außerdem Fußball-Experte, studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist. Er ist bekannt für Marathonauftritte, die 24 Stunden und länger dauern. Mark Watson lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London. »Ich könnte am Samstag« (Hardcover: »Elf Leben«) war sein erster ins Deutsche übersetzter Roman, zuletzt erschien von ihm »Hotel Alpha«.
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1
Wir werden das Leben vieler Menschen verändern
Ihre Reise hatte in London Heathrow an einem Morgen begonnen, der so düster war, als würde gleich die Nacht hereinbrechen. Und nun, zehn Stunden später, das genaue Gegenteil: Die blauviolette Nacht war taghell erleuchtet. Während der Fahrt durch Dubai bestaunte Tim die von zahllosen Lichtern hervorgehobenen Formen der Gebäude, die noch viel eindrucksvoller wirkten als auf den Bildern im Internet. Eines der Hochhäuser erinnerte an eine Tulpe, von einem Kranz aus stählernen Blütenblättern gekrönt. Andere hatten pfeilförmige Spitzen, die den Himmel wie scharfe Klingen zu durchschneiden schienen. Manche Gebäude veränderten auf halber Höhe ihre Form. Die Skyline schimmerte grün und violett – Farben, die niemand erwartet hätte. Und hier in ihrer Ferienanlage waren die Bäume mit Lichterketten behängt, als würde hier permanent gefeiert. Die Wege waren von Laternen gesäumt.
Als Tim über die Köpfe der ihm Gegenübersitzenden hinausblickte, sah er in der Ferne das Burj Al Arab, das berühmteste Wahrzeichen Dubais, dessen segelförmige Silhouette von roten und blauen Lichtern hervorgehoben wurde. Wochenlang hatte er in Vorfreude auf diese Reise ein Bild des Gebäudes auf seinem Desktop gehabt. Sein Verstand hatte Mühe zu begreifen, dass er nun das echte Gebäude betrachtete. Eigentlich fühlte sich nichts hier so richtig echt an. Es erschien ihm so unwirklich, dass er morgen in einem Bett aufwachen würde, das an ein Seerosenblatt erinnerte, in einem sonnengewärmten Chalet zwischen Pools und Swim-up-Bars, während seine Kollegen zu Hause zum Bus hetzten und mit gesenkten Köpfen durch den herbstlichen Sprühregen schlurften. Er blickte in die Runde seines neuen Teams und konnte sich das Lächeln kaum verkneifen.
Christian Roper räusperte sich, um zur Begrüßungsansprache anzusetzen. Obwohl kaum hörbar, war das genauso wirkungsvoll, als hätte er mit der Gabel gegen sein Glas getippt. Die Stimmen am Tisch verstummten. »Okay«, begann er, »vielleicht ein paar kleine Formalitäten vorweg. Zuallererst: herzlich willkommen. Jo und ich – und alle anderen von WorldWise – freuen uns riesig, Sie hier begrüßen zu können. Wir haben die Chance, eine tolle Kampagne zu starten. Was heißt toll – eine geniale Kampagne. Absolut genial.«
Roper sprach mit dem eindringlichen Ton eines Politikers und suchte auf die gleiche Weise den Augenkontakt mit seinen Zuhörern, doch Tim fand, dass er dabei um einiges überzeugender wirkte als die meisten Politiker. Er verstand es immer noch, eine Verbindung zu seinem Publikum herzustellen – eine Gabe, die ihn in den Neunzigerjahren zu einer bekannten Fernsehpersönlichkeit gemacht hatte. Als er später anfing, sich für humanitäre Anliegen zu engagieren, beklagten sich Tims Eltern, sobald sein Gesicht im Fernsehen erschien, er sei »in letzter Zeit ziemlich ernst geworden«. Roper war nicht so groß, wie Tim ihn sich vorgestellt hatte, doch er war eine dieser Persönlichkeiten, die mit der Größe ihres Publikums an Statur gewannen.
»Wie Sie alle wissen, erwarten wir morgen einen Star der Extraklasse: den großartigen Jason Streng. Wir haben ein starkes Konzept.« Roper deutete auf Tim, von dem das Konzept stammte; der nahm das Lob mit einem Schauer der Genugtuung auf. »Es geht um unglaublich viel. Nie hat die Welt diese Initiative mehr gebraucht als heute. Jeden Tag hungern Menschen, sterben Kinder. Meine Damen und Herren, wir werden das Leben vieler Menschen verändern.«
Die Pause, die er folgen ließ, war genau richtig bemessen, um seine Worte bedeutungsvoll, aber nicht zu bombastisch klingen zu lassen. »Ich habe mir gedacht, dass sich alle erst einmal vorstellen. Mit ihrem Namen, ihrer Rolle in unserem Projekt und vielleicht einem interessanten Detail über sich. Der Reihe nach? Ich fange an: Ich bin Christian Roper, Gründer und CEO von WorldWise.«
»Mit-Gründer«, murmelte Jo, doch Christian sprach unbeirrt weiter. »Und mein persönliches Detail: Ich will nächstes Jahr einen Marathon laufen, habe aber ein klein wenig Angst, ich könnte zu alt dafür sein. Bitte nicht alle auf einmal, falls Sie mich überzeugen wollen, dass meine Angst unbegründet ist!« Er lachte, und seine Zuhörer lachten mit ihm, manche ein wenig bemüht.
»Jo, Kommunikationsdirektorin von WorldWise«, stellte sich Christians Frau vor, die Tim ebenfalls von der Website kannte. Wie Christian wirkte sie genauso beeindruckend wie auf den Online-Bildern, die die Ropers bei verschiedenen humanitären Projekten in Entwicklungsländern zeigten. Sie hatte die hohen Wangenknochen eines Models und auffallend dunkle Augen, die – so kam es Tim vor – direkt auf seinem Gesicht ruhten. »Leidgeprüfte Ehefrau. Und mein Detail ist, dass ich zwei amerikanische Präsidenten persönlich kennengelernt habe. Das heißt, falls Obama gewinnt. Wovon ich überzeugt bin.«
Tim dachte mit einer gewissen nervösen Unruhe an das »interessante Detail«, das er über sich preisgeben sollte. Er hatte diese Situation schon einmal erlebt, als er sich etwas unbedacht zur Theatergruppe an der Universität angemeldet hatte. Eine Kommilitonin hatte die Vorstellungsrunde genutzt, um über alte Ängste und ihre Neigung, sich selbst zu verletzen, zu sprechen, eine andere hatte ihre Minute dafür verwendet, der Kommilitonin Mut zu machen. Als Tim der versammelten Runde dann erzählt hatte, dass er Kapitän des Schachteams seiner Schule gewesen sei, hatte es sich ziemlich belanglos angehört.
Was sagst du in einer solchen Situation, wenn dein bisheriges Leben ohne herausragendes Ereignis verlaufen ist? Tim begann Leute zu beneiden, die mit einer sechsten Zehe geboren oder aus dem Koma ins Leben zurückgekehrt waren. In Gedanken erwog er verschiedene Möglichkeiten. Ich habe einen Bruder, der im Londoner Finanzviertel arbeitet, und … na ja, wir sehen ihn kaum noch. Mein Vater ist Kurator eines Miniaturdorfes. Ich habe früher Orientierungslauf betrieben und das Land bei U-16-Meisterschaften vertreten. Nichts davon erschien ihm bemerkenswert genug. Zu seiner Erleichterung ging es mit der Vorstellungsrunde in der anderen Richtung weiter – so konnte er sich erst einmal die Beiträge der anderen anhören.
Als Nächster folgte der Chef-Kameramann, ein stämmiger, freundlich aussehender Mann, der die Haare zu einer Rockabilly-Tolle frisiert hatte. Trotz der Kälte in London war er in Kaki-Shorts am Flughafen erschienen; heute trug er ein T-Shirt mit dem Schriftzug einer Science-Fiction-Serie, von der Tim vage gehört hatte.
»Miles Aldridge, Kameramann. Mein persönliches Detail ist, dass ich Das Imperium schlägt zurück von vorne bis hinten zitieren kann. Wort für Wort.«
»Ruth Lingard, ich bin die … ähm Produktionsassistentin.« Sie war eine Frau um die vierzig und hatte im Flughafenbus neben Tim gesessen. Dabei waren ihm vor allem ihre Gewohnheit, sich mitten im Satz zu unterbrechen, und ihre rote Haarfülle aufgefallen. »Ich habe einmal einen Einbrecher bei meiner Oma überwältigt und festgehalten, bis die Polizei kam.«
»Mein richtiger Name ist Ali«, verkündete der Fixer. »Mein Job ist nicht so klar definiert wie Ihrer; kurz gesagt, ich tue alles, was für das Projekt notwendig ist. Ich bin einmal auf einem Zebra geritten, obwohl das als unmöglich gilt. Ich hab auch mal Zebrafleisch gegessen. Nicht vom selben Tier.« Der Fixer grinste und rückte seinen Panamahut zurecht. Seit er sie vom Flughafen abgeholt hatte, lächelte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, als wäre die ganze Werbekampagne ein einziger Schabernack, von dessen Gelingen er überzeugt war.
»Raf Kavanagh, Produktionsleiter. Ich habe mit einer berühmten Schauspielerin geschlafen, bevor sie berühmt wurde. Ich will hier keine Namen nennen. Nur so viel: Sie heißt Kate und ihr Nachname reimt sich auf Dinslet.«
Die meisten lachten. Raf war nicht wie die anderen Businessclass geflogen, sondern hatte beim Check-in dank seiner Vielfliegerpunkte ein Erste-Klasse-Ticket ergattert. Er trug seine Haare mit viel Gel gestylt, und sein Hemd war mit Sicherheit teuer gewesen. Während der Fahrt zum Hotel auf der dicht befahrenen Sheikh Zayed Road hatte sein Handy geläutet, mit einem Song als Klingelton, der erst diese Woche herausgekommen war. »Ich bin in Dubai«, hatte er geblökt, während die anderen Passagiere so taten, als hörten sie nicht zu. »Ich weiß: Dubai, Alter!«
Tim fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut, als die Reihe an Bradley, dem kleinen Mann zu seiner Rechten, war. Er hatte auch im Flugzeug neben Tim gesessen, eine Dose Cola Zero nach der anderen geleert und ein Buch über Stummfilme gelesen, ohne die Baseballkappe auch nur ein Mal von seinem kahlen Schädel zu nehmen. Tim hatte keine Lust gehabt, ein Gespräch anzufangen, und Bradley war es offenbar genauso gegangen, sodass sie während des gesamten siebenstündigen Fluges kein einziges Wort gewechselt hatten – eine stille Übereinkunft, mit der beide zufrieden waren.
»Bradley Ford Richards, Regisseur. Ich arbeite seit über fünfzehn Jahren in der Werbung. Ich hatte Aufträge von Budweiser, CNN, Sony und …«
»Wir wollen nur ein Detail hören, keinen CV«, fiel ihm Raf Kavanagh ins Wort.
»Wie bitte?« Der Amerikaner blinzelte überrascht.
»Lebenslauf«, erklärte Ruth. »Er meint, wir brauchen keinen Lebenslauf.«
»Ach so.« Bradley fuhr sich mit der Zunge langsam über die Lippen. »Okay.«
Er machte keine Anstalten, ein persönliches Detail hinzuzufügen. Die angespannte Pause kam Tim durchaus gelegen – so waren...