E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Wassjakina Die Steppe
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8412-3629-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3629-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Dieser Blick auf aktuelle russische Lebenswelten ist einzigartig.« Deutschlandfunk Kultur.
Eine junge Frau ist mit ihrem Vater und ihrer Geliebten unterwegs nach Moskau. Der Vater ist Fernfahrer, seit er vor zehn Jahren seine Frau und seine Tochter in Ust-Ilimsk, Sibirien, verließ, weil der Boden dort für ihn zu heiß wurde. Tagsüber fuhr er Taxi, nachts räumte er mit seinen Kumpanen fremde Wohnungen aus. Die Tochter hat den Vater zehn Jahre lang nicht gesehen, aber auf der LKW-Fahrt durch die endlos weite Steppe lernt sie ihn und sein Leben kennen. In feinen Bildern zeichnet Oxana Wassjakina das Porträt eines einfachen Mannes, dessen Weg von Alkohol, Drogen, Gewalt und schlechtbezahlter Arbeit geprägt ist, und der sich erstmals seiner Tochter anvertraut, die ihm trotz aller Fremde noch ein Stück Familie ist.
»Harte, kompromisslose Prosa ist das. Und gerade deshalb von strahlender Schönheit. Kein geringes Risiko, im Russland von heute.« WDR.
Oxana Wassjakina,1989 in Ust-Ilimsk an der Angara (Sibirien) geboren, ist Autorin, Kuratorin und feministische Aktivistin. Seit dreizehn Jahren lebt sie in Moskau, wo sie das Gorki-Literatur-Institut besucht hat. Sie ist heute eine international bekannte Autorin, die in Russland immer wieder Anfeindungen ausgesetzt ist. 2023 erschien bei Blumenbar ihr erster Roman »Die Wunde«. Inzwischen hat sie diesem Roman einen zweiten und dritten Band - »Die Steppe« und »Die Rose« - hinzugefügt und ihn so zu einer Trilogie über ihre Familie erweitert.
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1
Ich habe die Steppe aus dem Flugzeugfenster betrachtet. Weißt Du, wie sie aussieht? Wie ein sehniges Stück gelb gewordenes Fleisch. Kupferfarbene Linien durchziehen wie dicke Schlangen den Sand, graue Flüsse durchziehen den Sand. Steppe ist nicht Wüste, in der Steppe sieht man Leben. Graue und blaue Gräser. Zirpende Insekten, kalte Nattern; im Wolgadelta sind die Würfelnattern flink.
Mir kam die Steppe wie ein weicher Bauch vor. Aus der Führerkabine von Vaters Lkw sah ich, wie sie dalag und ihre winzigen Erhebungen bewegte. Die Steppe – das ist Sand durchsetzt von Gräsern und kleinen weißen Blumen. Bloß nicht von der Betonstraße runter, sagte Vater, ziehst du nach rechts oder links, fahren sich die Reifen fest und du bist Geschichte. Vollbeladen machst du besser gar keine unnötigen Bewegungen, vor allem wenn du mit Stahlrohren beladen bist: Du bist schwer, beschleunigst schnell, und wenn du vom Gas gehst, rollst du noch aus und kommst sehr lange nicht zum Stehen.
Genau so, mit Stahlrohren beladen, war er einmal bei Tagesanbruch nach Wolgograd unterwegs. Der Morgen in der Steppe ist blendend rosa. Licht durchflutet den gesamten Raum, denn in der Steppe kennt es keine Grenzen. Erschöpft von der Nacht nickte Vater ein, sein Wagen rollte geradeaus über die Straße, während sich der Schlaf wie eine große, warme Hand über ihn legte, um ihm kurz darauf einen Stoß zu versetzen. Vater erwachte vom Knirschen und Quietschen. Sein Wagen fuhr noch, aber langsam. Er sah in den Rückspiegel, auf der Straße lag ein großer weißblauer Flatschen aus Metall. Zwei betrunkene Polizisten waren nach durchzechter Nacht mit zweihundert auf die Gegenfahrbahn gerast. Im Morgengrauen war niemand auf der Straße gewesen, nur der stahlrohrbeladene MAZ mit meinem schlafenden Vater in der Kabine. Der kleine flotte Mercedes war unter den Lkw gerutscht, hatte ihm einen leichten Schlag gegen den Rumpf verpasst, war zusammengefaltet worden und hatte die schlaftrunkenen, vom Rausch erschlafften Männerkörper in seinem Inneren zerquetscht.
Für Vater hatte der Vorfall keine Konsequenzen, es war klar, dass nur der Mercedes sich so eine Wendigkeit erlauben konnte. Damals war Vater schon fast taub, und der Krach hatte ihn zwar aus dem Schlaf gerissen, aber kaum erschreckt. Später sagte er ganz ungeniert: Jetzt habe ich es euch für alle heimgezahlt. Er fand es gerecht, dass die zwei Polizisten durch seinen MAZ zu Tode gekommen waren. Schuldig fühlte er sich nicht, ihn traf ja auch keine Schuld: Selbst, wenn er gebremst hätte, wäre sein Laster weitergerollt, und ausweichen konnte er auf dieser Straße nicht. Zwei weitere Polizisten kamen zum Unfallort und zuckten mit den Schultern: Pech gehabt. Sie überprüften Vaters Papiere, den Lieferschein für die Rohre und sagten noch mit Bedauern, wäre mein Vater eine halbe Stunde später aufgestanden, hätten sich ihre Wege nicht gekreuzt. Die Abzweigung zu dem Ort, an dem die beiden unter den Laster geratenen Polizisten hatten übernachten wollen, war nur wenige Kilometer entfernt. Vater schnaufte und dachte, Pech hatten sie gehabt, weil er gar nicht geschlafen hatte und weil sie Arschlöcher gewesen waren.
Wenn man Hühner transportiert, fährt man zum unablässigen Gegacker. Man verlädt sie bis unter die Plane, stapelt die flachen Käfige übereinander. Unterwegs krepieren sie und verfaulen in der Hitze. Bei Ankunft liegen in der unteren Käfigreihe lauter schlaffe weiße oder gelbe Körper, tot oder ganz kurz davor. Die halbe Ladefläche bedecken stinkende, dunkle Flecken und weißgrauer Vogelmist. Mit Wassermelonen ist es auch nicht besser, an Schlaglöchern platzen sie und laufen aus. Dann gammeln sie und stinken. Nach solcher Ladung muss man zum Besen greifen und den nassen Bretterboden sorgfältig fegen und anschließend noch mit hohem Wasserdruck die eingesickerte Feuchtigkeit vom Mist, Blut oder faserigen Fruchtfleisch herausspülen. Am liebsten fuhr Vater Rohre. Rohre krepieren nicht und werden auch nicht schlecht, so seine Meinung. Man holt sie, und ab geht die Fahrt, und wenn man Pause macht, braucht man sich um Planenschlitzer nicht zu sorgen, Rohre sind zu schwer. Dafür wurde ihm mal der ganze rohrbeladene Lkw geklaut, aber das erzähl ich dir ein andermal.
Früher war die Steppe ein Garten. Die Menschen hatten Bewässerungsanlagen gebaut und pflanzten in der Steppe alles an, was sie wollten: Sonne gibt es in der Steppe reichlich, deswegen konnten sie dreimal pro Sommer ernten. Purpurrote fleischige Ochsenherz-Tomaten, orange Kürbisse, Gurken, Weizen. Das alles gab es in der Steppe. Schaut man sich heute um, könnte man meinen, da wäre weit und breit nur Salzboden, auf dem blaue Wölkchen von Alhagi-Sträuchern schweben. Aber so ist es nicht. Gibt man der Steppe Wasser, ist sie zu vielem fähig.
Später verschwanden die Menschen. Na ja, was heißt, sie verschwanden … Sie hörten auf, sich um den Boden zu kümmern. Es kamen andere Zeiten. Die Sowchosen fielen wie Zwiebelschalen auseinander. Aber die Rohre von den Bewässerungsanlagen sind geblieben. Nun gehören sie niemandem mehr. Sie liegen da wie Krempel, aufbewahrt in Sand und Steppengras.
Wie sich jemand die Rohre einfach nehmen kann, fragst du, tja – indem er sie klaut. Das Land gehört ja niemandem, es wächst nichts darauf, die Rohre verkommen bloß. Also bestellen listige Geschäftsleute über eine Speditionsfirma einen Lkw, der kommt zum Feld, an dem ein Bagger die am Außenrand verlegten Rohre aus dem Sandboden hebt. Dann werden sie verladen und nach Moskau transportiert, um sie von dort nach Astrachan weiterzuverkaufen. Einmal brachte Vater so eine Ladung zum Lager nach Moskau, nicht weit von der Kaschirka. Da stand er ein paar Tage und wartete darauf, dass man ihm sagte, wie es weitergehen soll. Bis man ihn eines Morgens anrief und es hieß, bring sie zurück nach Wolgograd. Man hatte neue Dokumente ausgestellt, die Gewinnspanne erhöht und ihn wieder auf den Weg geschickt. Dorthin zurück, wo man die Rohre ausgegraben hatte. So wird aus nichts, aus rastloser Bewegung, Geld gemacht. Einmal fragte ich Vater, ob er das nicht unheimlich fände, sinnlos Rohre nach Moskau zu kutschieren, nur um sie dann wieder zurückzubringen. Nein, sagte er, Hauptsache das Geld stimmt.
Die Speditionsmitarbeiterin Raissa rief Vater an und sagte: Es gibt Rohre. Wir fuhren zu der Einsatzstelle bei Kapustin Jar. Wir hielten mitten in der Steppe. Keiner kam, heute nicht und morgen auch nicht. Aber jemand rief an und sagte, man komme in zwei Tagen, es war wohl was mit den Maschinen, entweder waren sie kaputt oder man hatte sie nicht rechtzeitig geklaut. Wir fuhren zum nächstgelegenen Markt und kauften Wodka, eine Stange Zigaretten, ein paar Dosen süße Kondensmilch, Dosenfleisch, zwei Roggenbrote und Bier. Das Bier trank ich auf dem Weg zum Parkplatz aus, solange es noch kalt war.
Ich fragte Vater gleich, wie lange wir warten müssten. Er wusste es nicht. Niemand wusste es. Alles hing vom Zufall ab, und dadurch wurde die Zeit groß, unkontrollierbar und zu nichts nutze. Das Warten wurde interessanter. Ich aß die Brotrinde auf, die ich in die Kondensmilch tunkte. Danach kochte ich Nudeln auf dem Gaskocher. In der Steppe liegt alles offen, man ist wie nackt in ihr. Der graue Laster stand mitten in der Ebene, die von Disteln und Wermutkraut überwuchert war, wir wohnten fünf Tage in ihm, bis ein Kran kam, um die Rohre zu verladen.
Warten hieß in dieser Welt, einer Welt der ausgedehnten grauen Weite, die Ereignisse voranzutreiben, ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen. Warten war etwas Verbotenes. Man musste einfach leben. Es galt, jede Minute zu durchleben, die Nahrungsaufnahme, die Notdurft. Einfaches Essen ruhig und aufmerksam zu zerkauen, die von der Feuchtigkeit in der Nacht klamm gewordenen, knisternden Winston zu rauchen. Und das alles mit Genuss. Das Leben ist kurz, sagte Vater, kaum bist du aus der Muschi, schon geht es Richtung Grab. Am ersten Tag sprang ich aus der Kabine und ging von der Straße weg auf den Horizont zu. Ich lief geradeaus, um den Laster außer Sichtweite zu bekommen, aber er blieb immer hinter mir. Ich lief und lief, doch er verschwand nicht. Irgendwann ging mir die Kraft aus, ich zog die Hose herunter und hockte mich hin. Ein Urinstrahl kullerte zwischen meinen Sandalen, sammelte kleine Splitter toter Gräser und den weißen mehligen Staub in sich auf. Abends ist der Himmel in der Steppe lieblich, mal...