E-Book, Deutsch, 269 Seiten
Wassermann Olivia
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-1948-0
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 269 Seiten
ISBN: 978-3-8496-1948-0
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Roman um eine junge Frau und die Liebe zum besten Freund ihres Vaters.
Autoren/Hrsg.
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Olivia
I.
Im Hause des Professors Khuenbeck, eines angesehenen Wiener Arztes, war große Gesellschaft. Man hatte reich getafelt, die Unterhaltung war im besten Fluß, und wie auf viele andere Dinge kam die Rede auch auf die Kinder. Eine Dame, die vor kurzem das Töchterchen des Hauses flüchtig gesehen hatte, rühmte dessen besondere Schönheit und Lieblichkeit. Frau Khuenbeck lächelte geschmeichelt, einige andere Damen gaben ihr Verlangen kund, das Mädchen zu sehen, den Hinweis auf die späte Stunde ließen sie nicht gelten, und sie wandten sich an den Professor, der, unschlüssig und wie beschämt, nicht wußte, wie er die Bitte aufnehmen sollte. Indessen hatte Frau Khuenbeck, die einer eitlen Regung nicht zu widerstehen vermochte, einem der Dienstboten einen Wink gegeben und ging dann selbst in das Zimmer, wo ihre beiden Kinder schliefen, der zweijährige Ferdinand und die sechsjährige Olivia.
Schon saß Olivia auf dem Schoß des Dienstmädchens, die Augen voll Schlaf; es wurde ihr ein Atlaskleidchen angetan, die Haare wurden ihr gekämmt, weiße Strümpfe und weiße Schuhe kamen an die Beinchen, und so trug sie die Mutter in die strahlend erleuchteten Räume hinüber. Die Gäste scharten sich um Mutter und Kind; ein Laut der Überraschung und Befriedigung tönte ihnen entgegen. Olivia blickte voll Angst und Zagen in die vielen fremden Gesichter, deren Neugierde und Erstaunen ihr unbegreiflich waren.
Abseits von allen stand ein junger Mann und schaute still auf die Gruppe. Er dachte, daß der Professor dem Schauspiel ein Ende bereiten werde; da dies aber nicht geschah, rief er plötzlich mit scharfer, ja barscher Stimme aus: "Gnädige Frau, stecken Sie doch den armen Wurm wieder ins Bett; den Rummel wird er ohnedies bald genug kennen lernen."
Alle lachten; Frau Khuenbeck errötete und trug das Kind schnell hinaus.
Olivia hatte die Worte gehört und verstanden; sie bewahrte dem, der sie gesprochen, heimlichen Dank. Der junge Mann verkehrte oft im Hause; bald wußte sie seinen Namen; er hieß Robert Lamm und war damals noch ein unbeachteter Beamter im Ministerium.
Stets, wenn sie ihn sah, hatte sie dasselbe Dankgefühl; in Stunden kindlicher Bedrängnis tauchte ihr sein Bild als das eines Helfers auf. Er war die Verkörperung einer strengeren Schutzgottheit neben der sanften des Vaters.
Wenn der Professor an seinem Schreibtisch saß, geschah es oft, daß sich Olivia ins Zimmer stahl, sich ganz leise auf den Teppich zu seinen Füßen niederließ und in Büchern und in Heften blätterte, die auf dem Boden aufgeschichtet lagen. Meist bemerkte sie der Professor erst, wenn er die Feder weglegte und sich erhob; dann sagte er: "Du bist da, Kind?" und lächelte. Olivia war glücklich, daß es ihr gelungen war, ihn nicht zu stören.
Manchmal machte er kleine Spaziergänge im Park, dann nahm er Olivia mit und führte sie an der Hand. Verwundert betrachteten die Leute das schöne Kind. Olivia glaubte jedoch immer, daß sie nach dem Vater sahen, der so nachdenklich und voll Würde dahinschritt. Sie war stolz auf ihn.
Einst hatte Olivia die Mutter belogen. Sie war mit dem Fräulein im Prater gewesen und hatte gesagt, sie sei bei ihrer Tante, Frau von Scheyern, gewesen. Ihr Bruder Ferdinand hatte sie in aller Unschuld verraten. In der Entrüstung darüber forderte die Mutter, daß sie zur Strafe in einer Ecke knien sollte. Olivia weigerte sich aber mit solcher Leidenschaft, daß die Mutter immer mehr in Zorn geriet. Da kam der Professor in die Stube; ihn sehen und an seinen Hals stürzen, war für Olivia eins; sie wollte nicht knien, schluchzte sie und klammerte sich so krampfhaft an den Vater, daß der erschrockene Mann alle Mühe hatte, sie zu beruhigen.
Etwa ein Jahr nach diesem Vorfall, Olivia war damals elf Jahre alt, trat der Professor eine Erholungsreise nach Italien an. Olivia empfand seine Abwesenheit schmerzlich, und jeden Morgen setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. In Neapel wurde der Professor schwer krank und starb eines plötzlichen Todes.
Olivia begriff es nicht. Der Leichnam kam, die Beerdigung fand statt, viele Leute waren im Haus, die Mutter weinte, der Bruder, die Verwandten weinten, Olivia begriff es nicht. Für sie war der Vater immer noch verreist; sie glaubte und begriff nicht seinen Tod.
Tag für Tag setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. Sie teilte ihm die kleinen Ereignisse ihres Lebens mit, erzählte von der Mutter und von Ferdinand, sprach von ihren Vorsätzen, von ihrem Eifer, zu lernen, von ihrem Wunsch, etwas zu werden und ihm Ehre zu machen. Da sie aber keine Adresse wußte, sammelte sie alle Briefe in einer Mappe, – so lange, bis sie endlich begriff.
Die großen Einnahmen des Professors waren von dem luxuriösen Haushalt verschlungen worden; nach seinem Tod blieb nur ein bescheidenes Kapital übrig, und Frau Khuenbeck sah sich zur Sparsamkeit gezwungen.
Bei der Ordnung der Vermögensangelegenheiten und des neuen Lebens war es Robert Lamm, der der Witwe als Freund zur Seite stand. Frau Khuenbeck hatte einen an Furcht grenzenden Respekt vor ihm. Auf Ferdinands Erziehung übte er einen entscheidenden Einfluß, während er Olivias Tun und Lassen gleichmütiger zu betrachten schien.
Robert Lamm hatte in wenigen Jahren eine bedeutende Laufbahn zurückgelegt, die selbst von Übelwollenden seinen Verdiensten zugerechnet wurde. Er war Hofrat am Verwaltungsgerichtshof, hatte beneidete Auszeichnungen erhalten und genoß als juristischer Schriftsteller den Ruf einer Autorität.
Sein Wesen verkündete Mut und Entschlossenheit; er war der Schrecken ganzer Heere von Beamten, denn ihm war eine seltene Kraft eigen, nämlich eine Sache, die er für gut und gerecht hielt, durchzusetzen.
Von früh an atmete Olivia gern die Luft um diese ehrliche, furchtlose und derbe Persönlichkeit. Sie kam ihm herzlich entgegen, und er hatte immer ein herzliches Wort für sie. Während er mit der Mutter sprach, stand sie in seiner Nähe; lächelte er ihr zu, so ging sie hin und lehnte sich an seine Schulter.
Aber als sie zum Fräulein heranwuchs, wurde er förmlicher. Er hörte plötzlich auf sie zu duzen; Olivia erhob Einwände. Er verbeugte sich und sagte, wenn sie es ausdrücklich verlange und die gnädige Frau, er verbeugte sich gegen Frau Khuenbeck, es erlaube, werde er sie wieder duzen, doch dürfe es keine einseitige Freiheit bleiben, sie müsse ihn dann ebenfalls duzen. "Aber ich habe es ja immer getan!" rief Olivia erstaunt. – "Gewiß, nur paßt mir der Onkel nicht," erwiderte er mit einer Grimasse, "ich hasse die Onkels."
So nannte sie ihn also Robert und Du. Gleichwohl behielt er seine Förmlichkeit bei, die den Charakter spöttischer Galanterie annahm, als ihm manches an Olivias Lebensführung zu mißfallen begann. Sie war so eifervoll, so lernwütig, so auf Bücher versessen, so atemlos tätig, das mißfiel ihm; er äußerte sich nicht darüber, er wurde nur immer spöttischer und galanter.
Eines Abends kam er, als Olivia bei einem Buch saß. Er beugte sich über ihre Schulter, sah noch genauer hin, schüttelte den Kopf, und da ihn Olivia fragend anschaute, nahm er das Buch, blätterte, schüttelte abermals den Kopf und fragte endlich: "Wie alt bist du denn jetzt?"
"Siebzehn war ich," antwortete Olivia. Ihr Haar leuchtete wie Gold im Lichte der Lampe.
"Siebzehn Jahre, und Plato im Original!" rief der Hofrat aus. Sein Gesicht war so traurig, daß Olivia lachen mußte.
"Und womit sie ihren Kopf sonst noch plagt", mischte sich die Mutter ins Gespräch; "Mathematik und Philosophie und Literatur und Geschichte und Klavierspiel und Vorträge, wahrhaftig, mir schwindelt, wenn ich zusehe."
So oft nun der Hofrat da war, hatte er immer denselben Blick für Olivia, in dem zugleich Kritik und Bedauern lag. Der Blick sagte: was soll es dir nützen, Mädchen, Plato im Original zu lesen? Wozu schlingst du tote Wissenschaft in dich hinein? Was sollen dir die Scharteken?
Wahrscheinlich wußte er zu wenig von der Jugend, mit der Olivia aufwuchs; von ihrem Heißhunger nach neuem Stoff und neuer Form, nach Gehalt und Entfaltung. Dies Geschlecht mußte sich alles ertrotzen, Arbeit und Genuß, Urteil und Zukunft, wenn es den Erbübeln des Landes und der Rasse nicht erliegen wollte: der Frivolität und der Trägheit. Verloren sie in ihrem Trieb, sich hinzugeben, das Maß, so durften sie doch die Vorsichtigen verachten, die bequemen Romantiker, die feigen Hüter des Herkömmlichen.
Er wußte nichts von dieser Jugend, sah nicht Lebensfülle und hoffnungsvolles Werden, sondern Übergriff und Eitelkeit. Einst kam er zu Frau Khuenbeck und war enttäuscht, Olivia nicht zu treffen. Sie war ins Konzert gegangen. "Es ist das zweite in dieser Woche," sagte Frau Khuenbeck; "und einmal Theater, und einmal eine Bilderausstellung, und am Sonntag auf den Schneeberg. Sie ist nicht zu halten, ich weiß nicht, wo sie die Zeit und die Kraft zu allem hernimmt."
"Und das da auch noch," sagte der Hofrat, und deutete auf einen Tennisschläger und ein Paar weiße Schuhe, die auf einem Stuhle lagen.
"Ja, das auch," antwortete Frau Khuenbeck. Als sie das finstere Gesicht des Hofrats gewahrte, fügte sie rasch...




