E-Book, Deutsch, 153 Seiten
Wassermann Lukardis und andere Erzählungen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-1940-4
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 153 Seiten
ISBN: 978-3-8496-1940-4
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieser Band enthält folgende Erzählungen: Jost Lukardis Golowin Adam Urbas
Autoren/Hrsg.
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Im Verlauf der schleichenden Revolution, von der das russische Reich während des vorletzten Jahrzehnts heimgesucht war, kam es eines Tages zu einem Straßenkampf in Moskau. Den unmittelbaren Anlaß hatte die Verschickung von fünfunddreißig Studenten und Studentinnen gegeben, die das Jubiläum eines verehrten Lehrers, welcher der Polizei verdächtig geworden war, in überschwenglicher Weise gefeiert und die Feier durch heimliche Zusammenkünfte vorbereitet hatten. Einige der angesehensten Familien der Stadt wurden durch die grausame Maßregel betroffen, und die Trauer und Entrüstung so vieler bis dahin ruhiger Bürger erregte eine gefährlichere Stimmung, als es die Aufwiegelung der politisch Tätigen vermocht hätte.
Unter den mit tückischer Eile Deportierten befand sich auch ein junges Mädchen namens Anna Pawlowna Nadinsky. Es lebte in Moskau ein Bruder von ihr, Eugen, oder wie es im Russischen heißt, Jewgen Pawlowitsch, Offizier bei einem Dragonerregiment, ein schöner, stolzer Mensch von dreiundzwanzig Jahren, dem man eine rühmliche Laufbahn vorhersagte. Eugen Pawlowitsch Nadinsky liebte seine Schwester, sie war die vertraute Freundin in allen Angelegenheiten seines Lebens gewesen. Als er sie nun verloren sah, für sich wie für die Welt verloren, der Erniedrigung und den Entbehrungen preisgegeben, welche der jahrelange Aufenthalt in Sibirien mit sich bringen mußte, war sein Schmerz so groß, das Gerechtigkeitsgefühl in ihm so tief beleidigt, daß die Fundamente seines Daseins wankten und er eine Ordnung nicht mehr anerkennen wollte, der er sich bis zu dieser Stunde bereitwillig gefügt hatte. Es geschah fast von selbst und zu seinem eigenen Erstaunen, daß er, als das Regiment wenige Tage nach jenem Gewaltstreich der Polizei zur Beschwichtigung der in der Stadt ausgebrochenen Revolte unter die Waffen treten und in die Straßen reiten mußte, plötzlich die Spitze des von ihm geführten Zuges verließ, von seinem Pferd sprang und gegen eine aus Pflastersteinen, Balken, Karren, Körben und allerlei Hausrat zusammengesetzte Barrikade eilte, wobei er den Verteidigern lebhafte Zeichen gab, welche sie nicht mißverstehen konnten, zumal ja Überläufer aus den Reihen der Soldateska, auch während des Kampfes, nicht selten waren. Kaum aber war Nadinsky auf der Höhe der Barrikade angelangt, die er übersteigen wollte, um sich gegen die wahren Feinde seines Vaterlands zu wenden, als ihn aus den Dutzenden wider ihn gerichteten Gewehren der Dragoner zwei Schüsse trafen. Von der andern Seite der Barrikade streckten sich ihm Hände entgegen, Augen strahlten ihn begeistert an, es war wie ein Dank und stillte die letzten Zweifel, die ihn noch beunruhigen mochten; auch sein Name wurde gerufen; einige kannten ihn also, und der Jubel in ihren Stimmen belohnte ihn noch in dem Gefühl der Todesschwäche. Er kehrte sich um, zog den Revolver aus dem Gürtel und feuerte gegen die Anstürmenden, denen sein empörtes Herz die Kameradschaft gekündigt hatte, dann stürzte er auf die Brust, und die Finger seiner rechten Hand krampften sich in das Strohgeflecht eines zwischen Bretter geklemmten Stuhls.
Sogleich ergriffen ihn zwei junge Leute und trugen den Bewußtlosen auf die steinerne Treppe eines Haustors. In großer Eile öffneten sie Nadinskys Rock und Hemd, rissen Streifen aus dem Hemd, verbanden die Wunden, die stark bluteten, und sahen sich dann hilfesuchend um. Da erblickten sie den Wagen eines Grünzeughändlers; der Besitzer war verschwunden; das magere kleine Pferd stand an der Deichsel wie gefroren. Rasch entschlossen betteten sie den Offizier mitten in Gemüse und Salat und deckten ihn mit Blättern zu. Der eine von ihnen kehrte zum Kampfplatz zurück, der andere nahm das Roß beim Zügel und führte es die Straße hinunter, dann durch mehrere Nebenstraßen, schließlich auf einen freien Platz, wo die Universitätsklinik war. Er fuhr in das geräumige Tor und ging in das Zimmer eines Assistenten, der alsbald Auftrag gab, den Verwundeten in einen der Krankensäle zu schaffen. Die Verletzungen waren schwer. Eine Kugel hatte zwar nur den Hals gestreift, die andere jedoch hatte unterhalb des Schulterblattes die Lunge getroffen, steckte noch im Körper und mußte durch eine Operation herausgenommen werden. Erst am dritten Tage erwachte Nadinsky aus fieberhafter Ohnmacht und wußte lange Zeit nicht, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war.
Nun hatte aber die Polizei durch einen ihrer zahlreichen Spione in Erfahrung gebracht, wo sich der junge Offizier befand, von dessen Desertion ganz Moskau sprach. Es erschien ein Isprawnik in der Klinik, um den todkranken Mann zu verhaften. Er wurde an Nadinskys Lager geführt, und trotzdem er sich von der Gefährlichkeit seines Zustandes überzeugen konnte, beharrte er auf seinem Verlangen und pochte auf den schriftlichen Befehl. Indes der Assistenzarzt noch mit ihm zu unterhandeln versuchte, trat der Professor hinzu, warf einen schnellen Blick auf Nadinskys apathisches Gesicht, in welchem ein Zug von Knabenhaftigkeit Sympathie und Rührung erweckte, und sagte: »Wenn man ihn jetzt von hier wegbringt, wird er in der ersten Viertelstunde sterben. Es ist vorteilhafter für die Polizei, zu warten.« Der Isprawnik wurde unschlüssig. Er war noch Neuling und wenig verhärtet; überdies hatte er in der Fülle der ihm obliegenden Geschäfte und Aufträge den Kopf verloren. Er überlegte eine Weile und erklärte sich hierauf damit einverstanden, den Offizier noch so lange in der Klinik zu lassen, bis seine Kräfte den Transport erlauben würden.
Damit waren einige Tage für Nadinsky gewonnen; in diesen Tagen wuchs die Teilnahme des Professors für ihn zusehends, und er trug Sorge, sein Interesse auch andern Personen einzuflößen. Es meldeten sich Freunde, die ihm zur Flucht verhelfen wollten; eines Morgens wurde er in ein Zimmer gebracht, worin außer ihm niemand lag. Am selben Abend besuchte ihn ein junger Mensch, der die Absicht hatte, ihn, als Krankenwärterin verkleidet, nach Sokolnikin, einen Park in der Nähe von Moskau, zu schaffen, was bei seiner Schwäche und seiner noch immer fieberhaften Verfassung ein Wagnis auf Leben und Tod bedeutete. Nadinsky war jedoch bereit, ihm zu folgen, denn blieb er, so war ihm der Tod oder das Schlimmere, ewige Kerkerhaft im entlegensten Sibirien, gewiß. So fuhr er also in tiefer Nacht, bei Schnee und Kälte, es war Mitte des Monats März, nach Sokolnikin und wohnte in der Villa eines Gelehrten, der bei der Polizei für unverdächtig galt. Es dauerte aber nur vierundzwanzig Stunden, da kamen wieder Boten, die sich als Spaziergänger unauffällig dem Haus genähert hatten, in dessen Mansarde der kranke Nadinsky lag, und meldeten, daß die Polizei neuerdings auf seine Spur geraten, und daß für die folgende Nacht seine Verhaftung befohlen sei. Es blieb also nichts übrig, als einen anderen Zufluchtsort für ihn ausfindig zu machen. Der Haushalt des Gelehrten, eines Deutschen von Geburt, wurde von seiner Schwester Anastasia Karlowna geführt, einer ebenso beherzten wie gutmütigen Frau, die seit mehr als vierzig Jahren in Moskau lebte und nicht nur in der Gesellschaft einflußreiche und wohlwollende Bekannte hatte, sondern auch bei vielen Leuten im Volk sehr beliebt war. Sie hatte dem jungen Offizier Speise und Trank gebracht, ihn gepflegt und seine Anwesenheit klug zu verbergen gewußt. Nun sorgte sie zunächst für eine neue Verkleidung, und als es dämmerte, brachte sie ihn mit Hilfe eines Menschen, der ihr ganz fremd war, sich aber zu diesem Dienst angeboten hatte, im Gewand eines einfachen Arbeiters zu der Familie eines Drechslers in die Vorstadt. Dort blieb er nur eine Nacht, am Morgen weigerte sich der Mann, der Argwohn geschöpft hatte und für sich und die Seinen begründete Furcht empfand, den Flüchtling länger zu beherbergen. Fünf Tage lang wurde Nadinsky auf diese Weise von Haus zu Haus geschleppt, von dem des Drechslers in die Wohnung einer Fuhrmannswitwe, dann in die eines Maurers, dann zu einem Gärtner, schließlich zu einem Laboranten. Immer merkten die Leute nach wenigen Stunden, wem sie ein Asyl gewährt hatten, die Angst vor der Polizei überwog das Mitleid und verstockte sie gegen die Beredsamkeit Anastasias, die in ihrem Eifer keineswegs erlahmte. Sie war die Nächte über bei Nadinsky, denn er konnte sich nicht selbst überlassen bleiben; man mußte ihn ankleiden, waschen und zweimal täglich die Wunden verbinden, deren Heilung bei der unregelmäßigen und aufregenden Lebensweise nur langsam vonstatten ging. Als nun auch der Laborant, den sie mit Geld und vielen Worten bestochen hatten, den aufgezwungenen Gast fortzubringen befahl, verzweifelte Anastasia Karlowna daran, Nadinsky retten zu können. Die Freunde, die ihr bisher beigestanden, vermochten nichts mehr zu tun, die Polizei war auf ihren Spuren, jeder fernere Schritt mußte sie ins Verderben ziehen, auch sie selbst fühlte sich bedrohlich überwacht. Zum letztenmal versuchte sie den Laboranten durch Bitten und Flehen zu erweichen; nur noch eine einzige Nacht möge er christliche Nachsicht üben, das Leben ihres Bruders – denn sie gab Nadinsky für ihren Bruder aus – stehe auf dem Spiel; umsonst, sie schürte bloß das Mißtrauen des Mannes, und alles, was sie erreichte, war, daß er ihr drei Stunden Frist gab; wenn nach Verlauf dieser Zeit Nadinsky nicht aus dem Haus geschafft sei, werde er die Anzeige machen.
Es war jetzt drei Uhr nachmittags. Bis sechs Uhr mußte also Anastasia eine Stätte für ihren Schützling gefunden haben. Sie irrte eine Weile durch die Straßen, ging bald in dieses, bald in jenes Haus, kehrte aber immer vor den Türen wieder um,...




