Wassermann | Joseph Kerkhovens dritte Existenz | E-Book | www2.sack.de
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E-Book, Deutsch, 556 Seiten

Wassermann Joseph Kerkhovens dritte Existenz


1. Auflage 2018
ISBN: 978-80-272-3992-4
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 556 Seiten

ISBN: 978-80-272-3992-4
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In 'Joseph Kerkhovens dritte Existenz' von Jakob Wassermann taucht der Leser in eine Geschichte voller psychologischer Tiefe und menschlicher Abgründe ein. Der Roman erzählt die faszinierende Geschichte von Joseph Kerkhoven, einem Mann, der nach einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch eine tiefgreifende Veränderung durchlebt. Wassermanns literarischer Stil ist geprägt von einer detaillierten Beschreibung der Charaktere und deren inneren Konflikte, die den Leser in den Bann ziehen. Der Autor schafft es, eine komplexe und unvorhersehbare Handlung mit tiefgreifenden psychologischen Einsichten zu verbinden, was das Buch zu einem fesselnden Leseerlebnis macht. Wassermanns Werk steht in der literarischen Tradition des psychologischen Realismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wird oft mit Werken von Thomas Mann verglichen. Jakob Wassermann, ein österreichischer Schriftsteller jüdischer Herkunft, war bekannt für sein kritisches und sensibles Verständnis der menschlichen Natur. Seine eigene schwierige Lebensgeschichte spiegelt sich in seinen Werken wider, darunter 'Joseph Kerkhovens dritte Existenz'. Dieser Roman ist ein Meisterwerk der psychologischen Literatur, das den Leser dazu anregt, über die menschliche Existenz und die Suche nach Identität und Sinn im Leben nachzudenken. 'Joseph Kerkhovens dritte Existenz' ist ein Buch, das sowohl anspruchsvolle Leser als auch Liebhaber psychologischer Romane gleichermaßen begeistern wird.

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Das biologische Gewissen


Inhaltsverzeichnis

Als Joseph Kerkhoven an dem tragischen Frühherbsttag des Jahres 1929 hilflos zusammenbrach, weil er entdeckt hatte, daß die Frau, die er liebte, ihn mit dem jungen Freund und Schüler Etzel Andergast, dem er ungemessenes Vertrauen geschenkt, hintergangen hatte, daß also die beiden teuersten Menschen der Welt zu Betrügern an ihm geworden waren, sah er zunächst keine Möglichkeit, das gewohnte Leben weiterzuführen.

Was ihn so grausam hinwarf, war der unerwartete Überfall auf seine Person, die er seit einer Reihe von Jahren den Angriffen des Schicksals entzogen wähnte. Tagtäglich bedrängt von unendlicher Menschennot, hatte er seiner selbst nach und nach vergessen. Daß es auch ihn einmal packen und niederschlagen könne, war im Programm nicht vorgesehen. Das Schicksal war ihm zu einem Kollektivbegriff geworden. Damit war eine starre und, wie er jetzt zu spät erfuhr, trügerische Sicherheit über ihn gekommen, wie wenn privates Unglück, persönliches Leiden, individueller Schmerz für ihn nicht mehr existierten. Für andere Menschen wirkend und ihnen ausschließlich hingegeben, hatte er sich so weit von sich entfernt, daß der Mann und Mensch Kerkhoven zuletzt nur noch vom äußerlichen Mechanismus des Daseins bewegt wurde. Er hatte so lange über den Geschicken gelebt und sie regiert, daß er nicht mehr wußte, wie es ist, wenn man selber unter die Räder kommt. Er hatte nun Gelegenheit, über den Unterschied nachzudenken, der zwischen einer Wunde besteht, die man als Arzt behandelt, und einer, an der man verblutet.

Es klingt unglaubhaft, dennoch war es so: Erst im Augenblick der Katastrophe erkannte er, daß das, was ihn mit Marie verband, an die Wurzeln seiner Existenz ging. So, als ob Marie und das Verhältnis zu ihr mit seinem vorzeitlichen Sein zu tun und er ahnungslos darüber hinweggelebt habe. Aber ist dies nicht eine der gewöhnlichsten Unterlassungen, deren sich die Menschen schuldig machen? Sollte man sich deswegen schon als Missetäter fühlen? Man muß sich mit den Umständen vertragen und die Geschehnisse als Folgeerscheinungen des eigenen Charakters betrachten.

Desungeachtet hätte es vielleicht ein schlimmes Ende mit ihm genommen, wäre er in den Tagen des ersten Schocks allein gewesen. Nicht als hätte er Hand an sich gelegt, dazu waren sein Selbsterhaltungsinstinkt, seine Gabe, Werte gegeneinander abzuwägen, zu groß; jedoch eine innere Zersetzung, etwas wie Fäulnis des Lebensmarks, wäre sicherlich eingetreten. Aber die Frage: wie soll man weiterleben, wie soll man es überleben, solchen Verrat, solchen Einsturz alles Vertrauens, diese Frage führte ihn unmittelbar zu Marie zurück. Es war, wie wenn man bei einer Wanderung den Genossen verloren hat und erschrocken umkehrt, ihn zu suchen, auch wenn man bemerkt, daß einen dieser in einen Hinterhalt gelockt hat. Zudem: man war Arzt; man hatte, ohne Rücksicht auf sich selbst, an Hilfeleistung zu denken. Denn das Bild, das ihm Marie darbot, war das der vollkommenen Zerrüttung.

Er wollte nicht richten, er wollte wissen. Zunächst erfüllte ihn nur die qualvolle Begierde, zu erfahren, wie und wann sie sich verloren hatte. Diese Auffassung des Sichverlorenhabens wirft ein bezeichnendes Licht auf die Gemütslage eines Mannes, der unter anderen Umständen nicht daran gedacht hätte, sich moralisch aufzulehnen. Sie war der Beginn eines verhängnisvollen inneren Konflikts. Und Marie, verwirrt in Herz und Seele, empfand die Geständnisse, zu denen er sie fanatisch drängte, als Erleichterung und als Vergeltung.

Es muß aus ihr heraus, sonst vergeht sie in Scham, Bitterkeit, Zerknirschung und Verzweiflung. Und in Sehnsucht, das ist das Schreckliche, in Sehnsucht nach dem, der sie verlassen hat und geflüchtet ist, man weiß nicht wohin. Nicht dem Gatten erschließt sie sich mit der Schonungslosigkeit der Selbstzüchtigerin, dem Freund wirft sie sich hin, dem einzigen Menschen auf der Welt, der das Geschehene begreifen muß. Das verlangt sie von ihm mit der Naivität, die allen Seelenkranken eigen ist: Daß er nicht mit ihr rechte, daß er sich selbst und seinen Schmerz hintanstelle, daß sie zu ihm aufsehen und sich alles vom Herzen reden kann, was sie peinigt und bedrückt. Sie ist schuldig, maßlos schuldig, aber sie kann es nur zugeben, wenn er sie nicht für schuldig erklärt.

Es ist nicht mehr die Marie, die er kennt oder zu kennen geglaubt hat. Es ist eine Frau, die ihr einmaliges, unwiderrufliches Sinnen-und Blutserlebnis gehabt hat, und dieses gibt sie nicht preis. Ihre Person gibt sie preis; gut, du kannst mit mir machen, was du willst, scheint sie zu sagen, jag mich auf und davon, nimm mir die Kinder weg, nenn mich Betrügerin und Lügnerin: ja, ja, ja: das Erlebte gibt sie hingegen nicht preis.

Kerkhoven steht vor einem Rätsel. Er meint doch einigen Einblick zu haben in die Dämonien der Seele, aber was hier vorgeht, kann er nicht ergründen. Es ist wohl die Gebundenheit an sie, die Liebesnähe, die unsichtbare Nabelschnur zwischen ihr und ihm, die ihn so ratlos machen. Sie ist zu tief hinuntergestürzt, denkt er, ich kann sie nicht erreichen. Den eigenen Sturz nimmt er plötzlich nicht mehr wahr oder vergißt ihn, weil es ihn tröstet, daß er die Haltung dessen vortäuschen kann, der sich hinabbeugt. Und sie läßt sich auf das Spiel ein und fleht mit gefalteten Händen zu ihm empor, er möge sie hinaufziehen. Er hat nicht die Kraft. Noch nicht. Er will wissen. Zuerst muß er alles wissen. Im Wissen steckt eine erlösende Mitverschuldung.

Auch jetzt verschmäht Marie alles, was nach Sündenbekenntnis aussieht.

Hat er nicht bemerkt, wie sie in ihrer Ehe vereinsamt ist, wie ihr das Gefühl abhanden kam, einen Gefährten zu haben? Wie sie neben ihm gegangen ist, hinter ihm, um ihn herum, immer in der Hoffnung, er werde sich ihr wieder zuwenden? Wie sie sich von einem Monat auf den andern vertröstet hat, von einem Jahr aufs andere, und wie das ungestillte Bedürfnis nach und nach ihr Gemüt in Aufruhr gebracht hat? Hat er es wirklich nicht geahnt? Wo ist er denn um Gottes willen gewesen? Tausendmal hat sie sich gefragt, wo er denn sei, hat sich Unbescheidenheit und Selbstsucht vorgeworfen, hat sich seiner großen Aufgaben erinnert, des Helferberufs, der ihn aufgefressen, so daß nichts mehr von ihm übrig war als ein Name und eine Funktion, ein Logiergast im Hause, für dessen Mahlzeiten und gemachtes Bett man sorgen muß und der allem Leben Einlaß in sein Inneres gewährt, dem unwertesten noch, nur dem einen nicht, das dicht neben ihm verkümmert. Wie war das möglich?

Kerkhoven kann nicht leugnen, daß es so gewesen ist. Er war ihrer zu sicher. Die Sicherheit hat bewirkt, daß ihm Marie zu einem lebendigen Hausrat geworden war, der unverrückbar an seinem Platz verbleibt und keiner besonderen Mühewaltung mehr bedarf. Die Anklage besteht zu Recht. Es wird ihm klar, daß es in jedem wahrhaften menschlichen Bund die Todsünde ist, sich sicher zu fühlen und mit der Sicherheit zu beruhigen. Immerhin glaubt er Anspruch auf Milderungsgründe zu haben. Seinen Pflichten und Erfüllungen war eine Grenze gesetzt. Ein strenges Leben. Die Gewalt der Tatsachen hat den Gatten wie auch den Vater daraus verdrängt. Unseliger Irrtum, daß er sich eingebildet hat, von Marie gebilligt und gestützt zu sein. Daß er sie willens geglaubt, auf Privatleben und Privatglück zu verzichten.

Das ist die Gegenanklage. Sie enthält Bitterkeit genug, obgleich sie schonend verhüllt ist. Was nützt aber die Verhüllung, wenn jedes Wort bedeutet: Du hast mich verraten …? Das trifft Marie schwer. Wenn es wahr wäre, könnte sie sich nie mehr entsühnen. Es ist nicht wahr. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich mit aller Kraft gegen diese Leidenschaft gewehrt. »Verrat! Joseph! Wenn du wüßtest!« – »Wenn ich was wüßte?« – »Es hat nichts mit dir und mir zu tun. Hat nie mit meiner Liebe zu dir zu tun gehabt.« – »Das sagst du dir vor. Es erscheint dir jetzt so.« – »Nein. Du warst unser Schutzgeist, meiner und seiner, von Anfang an, auf Schritt und Tritt.« – »Ich weiß, ich weiß. Es hat ihm beliebt, eine Heiligenfigur aus mir zu machen, um sich aus seinen menschlichen Verpflichtungen herauszuschwindeln. So wie manche Einbrecher beten, bevor sie einbrechen. Aber du, Marie, du!«

Sie vermag zunächst nicht zu antworten. Es dünkt ihr zu töricht, was er sagt. Es ist so entgegen seinem Sinn und seiner Art, daß sie ihn erstaunt anschaut. Dann erinnert sie ihn schüchtern daran, wie sie auf ihn gewartet hat. Wie sie ihm...



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