Wassermann | Etzel Andergast | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 550 Seiten

Wassermann Etzel Andergast


1. Auflage 2018
ISBN: 978-80-272-3989-4
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 550 Seiten

ISBN: 978-80-272-3989-4
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In 'Etzel Andergast' von Jakob Wassermann wird die Geschichte eines jungen Künstlers namens Etzel erzählt, der sein Leben in der pulsierenden Kunstszene des französischen Fin de Siècle sucht. Der Roman besticht durch seine detaillierten Beschreibungen der Pariser Bohème und zeugt von Wassermanns Fähigkeit, die damalige Zeit mit lebendigen Worten zum Leben zu erwecken. Der literarische Stil des Autors ist geprägt von einer tiefen psychologischen Durchdringung der Figur Etzel und den Menschen in seiner Umgebung, wodurch er die Leser in eine Welt voller künstlerischer Sehnsüchte und existenzieller Fragen eintauchen lässt. Wassermanns Werk kann als eine kritische Erkundung der Beziehung zwischen Kunst und Leben betrachtet werden, die bis heute relevant ist.

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Drittes Kapitel


Inhaltsverzeichnis

Schon in den ersten Tagen seiner Bekanntschaft mit Johann Irlen zeigte sich im Wesen Kerkhovens eine augenfällige Veränderung. Bis dahin ein Mann von nüchterner oder doch nüchtern scheinender Gesammeltheit, machte er nun den Eindruck zerfahrener Unruhe. Zuweilen sah er wie jemand aus, der insgeheim eine unerwartete Nachricht erhalten hat, deren Tragweite nicht abzuschätzen ist. Er war vor kurzem vierunddreißig geworden und stand seit acht Jahren in der Praxis, zum Besinnen war ihm wenig Zeit geblieben, nämlich zu dieser Art von Besinnen, die wie erschrockenes Innehalten auf einer bequemen Straße war. Es ließ sich etwa so ausdrücken: ein tadellos funktionierender Mechanismus war in Unordnung geraten, und die Ursache war nicht zu finden, ein Rädchen zerbrochen, eine Feder gesprungen, Gott weiß was. Wer seine täglich wiederkehrende Aufgabe hat, streng eingeteilten Dienst, der tut nicht gut, wenn er sich mit störenden Vorgängen in seinem eigenen Innern befaßt, namentlich wenn ihm das Innere der andern Menschen dauernd zu schaffen macht, er gleicht dann einem Mann, der angelegentlich in den Spiegel starrt, während ringsherum das Haus brennt.

Aber was war denn geschehen? Im Grunde nichts weiter als die Begegnung mit einer Persönlichkeit, die ähnlich wie ein Scheinwerfer wirkte. Bereits beim zweiten Besuch kam es außerhalb des ärztlichen Bereichs zu einem Gespräch, das Kerkhoven aus dem Gleichgewicht brachte, wobei ihm klar wurde, daß es ein eingerostetes Gleichgewicht war. Es lag nicht am berührten Gegenstand, auch nicht an der Art der Betrachtung, sondern an der Atmosphäre. Man hatte das Gefühl: Luft! Du kannst atmen! Am Ende der Woche ließ ihn Irlen gegen zehn Uhr abends rufen, weil er vor Kopfschmerzen fast verrückt wurde. Er blieb bis elf Uhr still bei ihm sitzen, dann, als die Schmerzen vorüber waren, unterhielten sie sich bis halb eins. Auf dem Nachhauseweg, im Regen, unter einer Gaslaterne, versteinerte er aus dumpfwühlenden Zweifeln heraus unter der schlaglichtartigen Erkenntnis: alles, was du bis jetzt getrieben, gedacht, vorgestellt hast und gewesen bist, war Irrtum und Zeitverlust.

Nun, damit konnte man sich ebensogut hinlegen und krepieren. Dazu die schülerhaft erstaunte Feststellung, daß man hierherum ungefähr sieben-bis achthundert Menschen kannte und zwei bis drei Dutzend hinlänglich gründlich und genau, daß aber dieser von allen übrigen so verschieden war wie ein Säugetier von Insekten.

Er war der Sprache nur in geringem Grad mächtig, nicht mehr als etwa ein gebildeter Handwerker, wenigstens was den Mut zur Äußerung betraf. Vieles lag ihm auf der Zunge, was er nicht formulieren konnte; Irlen war der erste Mensch, den er je getroffen, der es jedesmal erriet und zu seiner maßlosen Verwunderung in Worte brachte. Und auf einmal erwies es sich, daß er die Worte selber fand. Er hatte nie ein deutliches Bewußtsein von seiner Einsamkeit gehabt, in Irlens Nähe wurde sie ihm als Zustand sichtbar, wie eine Fotografie beinahe, und er versuchte stotternd, ihm eine Vorstellung davon zu geben. Irlen nickte ihm zu, als hätte er etwas ganz besonders Tiefes gesagt und bezeichnete es als ein Merkmal der Zeit. »Alle unsere Berufsleute sind einsam«, sagte er, »einige leiden darunter, die meisten spüren es nicht. Sie haben ihre Interessengemeinschaften und das armselige Ersatzmittel für höhere Beziehung, den gesellschaftlichen Verkehr, der durch alle sozialen Stufen in seiner eigentümlichen Verkümmerung besteht, indem er Kaste gegen Kaste ausspielt, in der Arbeiterwelt wie in der Adels-und Bürgerwelt. Das ist ja unser Unglück, deswegen sind wir so verarmt. Heute gibt es kaum einen Mann über dreißig, der noch einen Freund besitzt, vor zwanzig Jahren war man erst mit vierzig so weit, um neunzehnhundertdreißig werden bereits die Fünfundzwanzigjährigen vereinsamt sein. Sie werden mit zwanzig ihre erotischen Erlebnisse hinter sich haben und für die Liebe dann verloren sein wie für die Freundschaft. Die Ehe ist dann auch nur ein jämmerlicher Ersatz.« Kerkhoven machte ein naivschuldbewußtes Gesicht. (Vielleicht, weil er annahm, Irlen wisse nicht, daß er verheiratet war, er erzählte es ihm erst einige Tage später.) Er schaute Irlen in einem Moment, wo er sich nicht von ihm beobachtet glaubte, mit einem Blick an, der ihn durch und durch zu erforschen schien. Es war ihm zumut, als kenne er ihn schon viele Jahre, sei schon seit vielen Jahren vertraut mit diesem indianisch-schmalen Kopf, den blauen, tiefliegenden Augen, dem hastigen, harten, trockenen Händedruck, auf den er beim Kommen und Gehen immer wartete wie auf eine unentbehrliche Verständigung, und als sei es auf keine Weise zu erklären, daß sie einander erst vor kurzer Frist kennengelernt hatten.

Kerkhovens Ehe war ein Fall für sich, ein Kerkhovenscher Fall. Es dauerte Monate, bis Irlen in das Verhältnis Einblick erlangte, denn Kerkhoven konnte sich nicht entschließen, darüber anders als in spärlichsten Andeutungen zu sprechen. Die Vorgeschichte war nichts weniger als interessant. Schon als Student war er ein Abseitsgeher gewesen und hatte sich von den Kommilitonen ferngehalten. Nicht aus Hochmut, sondern aus Schwerblütigkeit und hauptsächlich, weil er sich mit ihnen langweilte. Seine Schüchternheit lähmte ihn auch dort, wo er sich gern angeschlossen hätte. Im allgemeinen war ihm die Methodik der studentischen Vergnügungen unleidlich, nichts verdroß ihn mehr als das programmäßige Über-die-Schnur-Hauen und das Heldentum, das sich nach der Quantität des konsumierten Alkohols bemaß. Sie sprachen mit schöner Ungeniertheit von sich; er liebte es in keiner Weise, von sich zu sprechen, wenn sich bei irgendeinem Anlaß die Aufmerksamkeit auf seine Person richtete, wurde er ängstlich und rollte sich igelhaft zusammen. Langweile unter Menschen war beinahe eine Krankheit bei ihm; war er einmal gezwungen, in Gesellschaft zu gehen, so bekam er richtiges Lampenfieber und verbarg seine Mißgefühle unter einer peinlich wirkenden steifen Höflichkeit, redete jeden beflissen mit seinem vollen Titel an und entschuldigte sich beim geringsten Verstoß so umständlich wie der unglückliche Beamte in der Geschichte von Tschechow, der seinem Vorgesetzten im Theater beim Niesen auf die Glatze spuckt. Infolgedessen beging er natürlich lauter Verstöße, mitunter ziemlich lächerliche. Jedoch nach seiner bürgerlichen Niederlassung gewann er hierin mehr Sicherheit und Haltung.

Während seiner Praktikantenzeit hatte er eine junge Italienerin kennengelernt, sie hieß Nina Belotti und stammte aus dem Trentino, eine äußerst lebhafte, anmutige, hübsche Person. Sie hatte sich als achtzehnjähriges Mädchen an irredentistischen Umtrieben beteiligt, und, ohne daß sie es recht merkte, in eine hochverräterische Verschwörung verstrickt, war sie der drohenden Verhaftung nur durch schleunige Flucht über die nahe Schweizer Grenze entgangen. Da die Familie sich von ihr lossagte und ihr die Unterstützung verweigerte, hatte sie den Plan gefaßt, sich in Deutschland zur Krankenschwester auszubilden. Wie sie in den politischen Kampf geraten war, darüber vermochte sie nie eine vernünftige Auskunft zu geben, vielleicht durch ein Liebesabenteuer, vielleicht bloß, um ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen. Über die Ziele, die ihr vorgeschwebt, wußte sie wenig auszusagen; wenn man neugierig wurde und sie bedrängte, brachte sie mit einem gewissen verlegenen Trotz die billigsten Schlagworte aus der Rebellenfibel vor, wie daß die Freiheit mit Blut erkauft werden müsse und die Unterdrücker den Tod verdienten. Kerkhoven hörte sich das jedesmal mit grabesernster Miene an. Sie zu belehren oder zu erziehen fiel ihm nicht im Traum ein.

Sie war entzückend ungebildet, ganz Naturkind, vollkommen anspruchslos. Und so gefiel sie ihm, so wollte er sie haben, so sollte sie bleiben. Was braucht eine Frau mehr als eine genügende Portion Hausverstand? Nämlich wenn sie in ihrem Äußern mit allen Eigenschaften ausgestattet ist, die den Mann zufriedenstellen. Ein paar Jahre lang hatte er in freiem Verhältnis mit ihr gelebt; nachdem er sich als praktischer Arzt ansässig gemacht, hatte er sie geheiratet. Er hatte geschwankt, hatte alle Möglichkeiten erwogen, sich durch alle Zweifel gekämpft, aber er hatte niemals Ursache gehabt, seinen Entschluß zu bereuen. Sie diente ihm mit Hingebung. Sie war seine Magd, seine Geliebte, seine Wirtschafterin und seine Assistentin. Sie war tapfer, hochherzig und selbstlos. Kinder hatten sie nicht.

Etwas trübte seine Beziehung zu ihr: die schrankenlose Bewunderung, die sie für ihn hegte. In dem Punkt war sie taub gegen jeden Einspruch und blind für die wirklichen Maße. Sie bewunderte alles, was er tat und sagte, sie bewunderte ihn beim Rasieren und beim Zeitunglesen, wenn er mißgelaunt und wenn er freundlich war, bei der Ordination und beim Schachspiel (er spielte gern Schach, als er es Irlen gestand, spielten sie bisweilen eine Partie), bei Tag und Nacht. Sie benahm sich dabei mit putziger Objektivität wie jemand, der sich für einen besonders imposanten Menagerielöwen begeistert. Was konnte er dawider tun, daß sie ihn für einen großen Mann hielt? Es waren gar keine Unterlagen dafür vorhanden, sie hatte, in der Außenwelt, nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, aber in ihren Augen war er ein großer Mann. Sie hütete sich natürlich, schon aus Furcht vor seinem Zorn, ihre Meinung vor die Leute zu tragen, aber wenn in ihrer Gegenwart von bedeutenden Leistungen die Rede war, gleichviel ob wissenschaftlichen oder profanen, eines Dichters, Fliegers oder Boxers, mußte sie sich Gewalt antun, um nicht etwas Ungereimtes und...



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