Wassermann | Die Juden von Zirndorf | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 298 Seiten

Wassermann Die Juden von Zirndorf


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-1938-1
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 298 Seiten

ISBN: 978-3-8496-1938-1
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
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Anno 1885 in Mittelfranken: Der junge Agathon geht in Zirndorf, Fürth und Nürnberg seinen Weg bis zum Happy-End.

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Viertes Kapitel



Agathon ging in die Küche und aß, was man ihm an Überbleibseln und für die Tafel Unbrauchbarem gab. Dann stieg er in die Bodenkammer, wo er die Nacht verbringen durfte. Von unten klang Musik herauf, Gläserklingen, dumpfe Rufe der Fröhlichkeit, das Schlürfen des Tanzschrittes und das wogende Murmeln der Gespräche.

Er wälzte sich lange Zeit schlaflos und ein bitteres Gefühl erfüllte sein Herz, daß er im Haus des reichen Verwandten auf Stroh unter dem Dach schlafen mußte; denn daß der Baron ein Vetter seiner Mutter war, hatte er Stefan Gudstikker stolz verschwiegen. Sem geschärftes Ohr vernahm durchdringender den Lärm des Festes und es war, als ob ihn eine Stimme riefe. Dunkle Sehnsucht ließ ihn zittern vor Ungeduld; er sprang aus dem Bett, warf sich wieder in die Kleider und, die Augen noch umschleiert von der Finsternis, stieg er die Treppe hinab mit dem Bewußtsein einer Schuld. Es war ihm gleich, wohin er kam; er öffnete im zweiten Stock eine Tür (deutlicher hörte er Musik und Tanz von unten) und befand sich in einem großen Salon, der noch warm war von erloschenem Kaminfeuer. Er lächelte, die Musik unter ihm ließ die Dunkelheit rings gleichsam erbeben.

Da hörte er vom Nebenzimmer ein Geräusch, wie wenn jemand weint und will es nicht hören lassen. Agathon ging hin, öffnete die Tür und stand nun verlegen und bestürzt vor seiner Base, zu deren Verlobung das prunkvolle Fest im Hause gefeiert wurde. Sie saß vor einer Kerze und schluchzte in ihr Taschentuch.

Jeanette blickte auf, und vor Erstaunen brachte sie kein Wort hervor. Endlich fragte sie heiser, was er hier zu suchen habe.

Agathon zuckte die Achseln. »Nichts,« antwortete er. »Ich habe dich weinen hören.«

»Von oben? Von deiner Kammer?«

Agathon wurde bleich und ließ den Blick verächtlich durch den geschmückten Raum schweifen. »Nein,« sagte er, »nicht von meiner Kammer«.

»Nun?«

Agathon schwieg. Die großen, von Tränen nassen Augen des Mädchens erweckten ein Gefühl von Niedrigkeit in ihm. Jeanette nahm ihn bei der Hand. »Nun gestehe. Weshalb bist du gekommen? Hast du Hunger? Dann soll man dir geben, was du willst. Auch Wein sollst du haben. Ich will es dem Diener sagen. Oder willst du Geld? Hier ist meine Börse.« Sie lächelte bitter und wollte aufstehen. Doch Agathon nahm ihre Hand und drückte sie mit großer Kraft so fest zusammen, daß das Mädchen ihn mit einem überraschten Ausdruck des Schmerzes ansah. »Ich bin nicht, was du meinst,« sagte Agathon.

»So?« Ein unsicherer Spott trat auf Jeanettens Gesicht.

»Ich bin nicht hungrig,« sagte Agathon leise. »Ich brauche auch kein Geld. Also nimm dein Geld hier weg, sonst muß ich es zum Fenster hinauswerfen.«

Jeanette sah lange in Agathons erregtes Gesicht, dann faßte sie ihn plötzlich an beiden Händen, zog ihn zu sich und sagte herzlich: »Nun sprich!«

Agathon schüttelte den Kopf. »Ich glaubte, du hast etwas zu sagen. Ich habe ja nicht geweint. Freilich, woher sollst du Vertrauen zu einem so schlecht gekleideten Menschen haben.« Er lächelte wieder, wandte das Gesicht ab und starrte ins Dunkle. Die Wände schienen sich aufzutun vor seinen Blicken, und aus zahllosen Augen schauten ihn die Sorgen an, unter denen die Menschen Schätze zusammentragen, um sie wieder von Sorgen bewachen zu lassen.

»Agathon!« flüsterte Jeanette. Sie ließ seine Hand nicht mehr los, und er fühlte, wie heiß ihre Hand war. »Ich habe dich stets übersehen wie einen Schatten. Du hast dich auch so schmal gemacht wie ein Schatten, du wunderlicher Agathon.«

Agathon antwortete nicht.

»Sprich, Agathon, hast du schon viel Böses getan? Warum zitterst du? was ist dir?«

»Böses, fragst du? Was ich getan, war nicht böse. Es war auch nicht gut. Es wäre schlechter gewesen, wenn ich einem Vogel die Flügel genommen hätte. Oder kann es böse sein, wenn es dich erhebt, glücklich macht? Oder gut, wenn es das ganze finstere Leben erkennen läßt und was man versäumt hat und was andere versäumt haben –?«

Jeanette, tief erregt durch das Wesen des jungen Menschen, flüsterte stockend: »Setz dich zu mir. So. Und nun hör mich an. Sieh, ich soll einen Menschen heiraten, den ich noch nicht zweimal im Leben gesehen habe. Er ist nicht jung, er ist nicht alt, er ist nicht edel, er ist nicht gemein, ich kenne ihn nicht, ich weiß nichts von ihm, aber ich soll ihn heiraten, der Geschäftsverbindung wegen. Ich werde verkauft und soll mich ruhig verkaufen lassen in das Bett eines Schweins. Erröte nicht, Agathon, jetzt ist nicht die Stunde zum Erröten; bei uns werden alle Mädchen verschachert wie Häuser und Grundstücke, aber du wirst doch zugeben, daß man bisweilen auch aus andern Gründen heiraten kann. Wie? Aus Liebe zum Beispiel, wie?«

»Aus Liebe, ja,« wiederholte Agathon und zuckte zusammen.

»Sieh her, sieh her,« sagte das Mädchen und ihre roten Haare fielen wild in die Stirn, und sie zog Agathon dichter neben sich. »Hab ich nicht die feinste Haut, die du dir denken kannst? Rühr mich nur an! hab ich nicht einen weichen Mund? siehst du, ich küsse dich damit, und liebe ich nicht alles, was schön ist, zum Beispiel deine Augen? Und wenn du mich liebst, siehst du, dann ist es dir gleich, ab ich in Gold und Ehren lebe oder ob ich verstoßen und verachtet bin, ein Frauenzimmer der Gasse, es ist dir gleich, du nimmst mich, wenn du mich liebst, verstehst du? Ja, du freust dich sogar, wenn du zeigen kannst, wie hoch der Preis ist, den du für mich zahlst. Und doch gibt es einen Mann, an den ich geglaubt hatte, und der anders gehandelt hat, einzig und allein deswegen, weil er leiden wollte um mich, weil er mich mehr zu lieben wähnt, wenn er mich entbehren muß. Ist das nicht närrisch? Ich sitze da mit meinem Herzen voll Leben, daß es nur so brennt und soll das Schwein heiraten, und ich habe Ja gesagt aus Rache gegen den Leidenssüchtigen, der mich liebt und verschmäht, den ich lieben und verachten muß.«

Agathon starrte fassungslos in diese zigeunerhaften, leidenschaftlichen Züge. Jeanette sprang auf und rief: »Du mußt mit mir kommen! Du mußt sie sehen, die da drunten. Kannst du tanzen? Gut, wir wollen ihnen Schrecken einjagen, indem wir tanzen.« Sie nahm Agathon bei der Hand und zog den Erstaunten und Willenlosen, der nicht begriff, was mit ihm vorging, durch das dunkle Zimmer zur Treppe, über die Stufen hinab, bis sie mit ihm unter der Saaltür stand, die der Diener mit einem Gemisch von Respekt und Verdutztheit eifrig aufstieß. Mit blitzenden Augen sah Jeanette in das bunte Treiben der Gäste. Nicht einmal die Haare hatte sie geordnet.

Der Baron kam rasch und fragte mit einem finstern Blick auf Agathon, wo sie so lange bleibe und was der Unfug bedeute. Herren und Damen standen alsbald lauernd im Halbkreis um das junge Mädchen. Es war eine ziemlich ungemischte Gesellschaft: jüdische Kaufleute, Journalisten, Ärzte und Advokaten. Alle Gesichter verrieten Intelligenz, aber nur jene Intelligenz des Augenblicks, die von den verborgenen Werten der Dinge nichts weiß, die an der Stunde klebt, mit der Stunde rechnet und die Augen schließt, wenn die Nacht kommt. Alle Gesichter hatten etwas Überlebtes, etwas von dem Abgeglühtsein, wie es das gemeine Leben mit sich bringt; das Edlere war verwischt von der Freude an flüchtigen Genüssen, von der Verachtung des wahren Ernstes und der Sucht, den Tag leicht zu nehmen. Ihre Macht war der greifbare Besitz und sie waren wie Sklaven, die heuchlerisch ihre in der Dunkelheit gesammelten Kräfte verstecken und sich auf die Stunde freuen, wo sie die Fäuste zeigen dürfen. Agathon blickte in den Lichterglanz an der Decke und plötzlich mußte er an die arme, niedere Stube zu Haus denken, und das gelbe Gesicht seiner Mutter stieg wie aus einem Schattengewühle auf. Und er verlor sich selbst: aus diesen Schatten erhoben sich Generationen: Greise und Greisinnen, die mit müdem Kopfschütteln vorbeigingen.

»Herr Salomon Hecht!« rief nun Jeanette und ihre Augen leuchteten grün.

Ein elegant gekleideter, ziemlich fetter Mann trat vor und verbeugte sich ironisch. Er hatte ein süßliches Lächeln auf den Lippen, aber in seinen Augen war die stumpfsinnige Traurigkeit eines Tieres.

»Was hast du vor?« knirschte Baron Löwengard und trat, schneebleich vor Wut, an die Seite seiner Tochter. »Was soll dieses Benehmen? Was soll der Junge hier? Wenn du nicht Vernunft annimmst, werde ich dich aus dem Haus peitschen lassen.«

»Ja, laß mich nur peitschen,« erwiderte Jeanette zum Entsetzen...



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