Wardetzki Iß doch endlich mal normal!
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-16751-6
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hilfen für Angehörige von essgestörten Mädchen und Frauen
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-641-16751-6
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jedes fünfte Mädchen hat ein gestörtes Verhältnis zum Essen. Dabei sind Essstörungen von jungen Frauen nicht nur ein individuelles Problem, sondern können Ausdruck einer familiären und partnerschaftlichen Dynamik sein. Wie Angehörige helfen können, zeigt das Buch von Bärbel Wardetzki.
Themen, die u.a. im Buch behandelt werden:
- Ursachen für Esstörungen
- Konflikte, Wut, Schuldgefühle und Scham: wie man mit der Esstörung umgeht
- Veränderung der Familiendynamik: Konfliktvermeidung, Verantwortung und falsch verstandene Hilfe
Autoren/Hrsg.
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Hilfe – unsere Tochter hat eine Eßstörung
Ich habe eine Tochter, die seit zwei Jahren Bulimie hat. Es ist jetzt schon so schlimm, daß sie gar nicht mehr mit uns essen will, sondern nur für sich allein ißt und dann immer häufiger nachts, wenn wir schon im Bett sind. Sie räumt manchmal den halben Kühlschrank leer, fängt mitten in der Nacht das Kochen an und geht dann anschließend aufs Klo, um alles wieder zu erbrechen. Wir machen uns natürlich schreckliche Sorgen um das Kind, weil das ja nicht gesund sein kann, dieses viele Überessen und Erbrechen. Und dann hat sie auch schon abgenommen, weil sie ja immer schlank sein will.
Ja, und wir wissen jetzt gar nicht mehr, was wir tun sollen. Das Verhalten unserer Tochter ist aber fast noch schlimmer als das Essen, weil man mit ihr nicht mehr reden kann. Sie ist so aggressiv geworden, hat an allem etwas auszusetzen, und manchmal schreit sie auch und schlägt die Türen zu. Also wir, ich und mein Mann, wissen gar nicht mehr, was wir tun und wie wir reagieren sollen. Wir überlegen uns schon jedes Wort, das wir zu ihr sagen, um sie ja nicht noch mehr gegen uns aufzubringen. Aber das ist doch kein Leben, wenn ich jedes Wort auf die Goldwaage legen muß. Was sollen wir nur tun?
So oder ähnlich lauten die Klagen von betroffenen Eltern, deren Tochter unter Eß-Brechsucht oder Magersucht leidet. Vor allem wenn die Tochter noch zu Hause wohnt, sind die Eltern in hohem Maße mit in die Erkrankung verstrickt. Die Tochter ist es zwar, die mit dem Essen nicht normal umgehen kann, aber die Krankheit hat Auswirkungen auf die gesamte Familie, das Zusammenleben und die Stimmung daheim.
Wohnt die Tochter schon außer Haus, dann können die Eltern sich besser distanzieren, sie sehen nicht jeden Tag den Kampf gegen das Essen mit an und fühlen sich deshalb auch weniger verantwortlich für die Tochter. Dennoch leiden auch diese Eltern unter der Tatsache, daß die Tochter immer mehr abnimmt, nicht normal ißt, vielleicht auch Alkoholprobleme bekommt oder beginnt, rauschhaft einzukaufen oder zu stehlen, was häufig im Zusammenhang mit Eßstörungen auftritt.
Wir haben jetzt erfahren, daß unsere Tochter bereits 30.000 Mark Schulden hat, weil sie ständig einkauft. Manchmal zieht sie ein Kleid nur einmal an, dann wirft sie es weg. Sie war schon als Kind immer raffgierig und aß von jedem Teller so viel, wie sie bekommen konnte. Und das viele Essen, was sie verschlingt, kostet auch viel Geld. Aber das Einkaufen geht ja heute ganz leicht mit den Schecks und Kreditkarten. Und Alkoholprobleme hat sie auch schon. Sollen wir sie nun auf ihre Probleme hin ansprechen, oder verschließt sie sich dann vielleicht noch mehr? So ist es nämlich unserer anderen Tochter ergangen, die hat sie auf ihre Eßstörung hin angesprochen, und nun redet sie kein Wort mehr mit ihr. Das wollen wir ja vermeiden.
Sie zieht sich sowieso schon sehr zurück und erzählt uns kaum noch etwas. Auch nicht, als sie das letzte Mal ins Krankenhaus mußte, das haben wir erst viel später von ihr erfahren. Ich habe Angst, den Kontakt zu ihr ganz zu verlieren, auch weil sie weiter weg wohnt.
Der Umgang mit einer Eßstörung stellt Eltern, Geschwister und Partner vor viele neue Fragen. Sie sind konfrontiert mit einer Krankheit, von der sie bisher nichts wußten oder wenn, dann nur durch die Medien oder Berichte von anderen betroffenen Eltern. Aber nun sollen sie selbst betroffen sein! Unsere Tochter bulimisch oder anorektisch, undenkbar! Die Eltern fallen »aus allen Wolken«, denn bisher war doch alles in Ordnung in ihrer Familie. Die Tochter entwickelte sich normal, machte wenig oder keine Schwierigkeiten und sie fühlten sich als intakte Familie. Natürlich gab es immer wieder Schwierigkeiten, aber wo gibt es die nicht?
Nach diesem ersten Schreck und Entsetzen versuchen die Eltern meist, das Eßproblem der Tochter schnell in den Griff zu bekommen, mit dem Ziel, daß sie wieder normal ißt und vor allem an Gewicht zunimmt. Doch im Laufe der Zeit wird deutlich, daß alle Versuche scheitern und die Kluft zwischen den Eltern und der Tochter immer größer wird. Die Eltern versuchen es mit Strenge, mit gut Zureden oder Ignorieren, die Tochter wird immer unzugänglicher, dünner und weniger erreichbar.
Wenn sie mit ihrem ›Latein‹ am Ende sind, sich keinen Rat mehr wissen, wie sie ihrer Tochter helfen können und sie immer mehr unter der Krankheit der Tochter leiden, ist das häufig der Zeitpunkt, an dem sie fachlichen Rat suchen.
Ein lang gehütetes Geheimnis
Auf die Frage, wie lange die Tochter schon hungert oder sich überißt und erbricht, können die Eltern selten konkrete Aussagen machen, denn in der Regel ist die Tochter schon einige Jahre erkrankt, bis sie ihren Eltern ihre Eßstörung eröffnet oder sie entdeckt wird. Ebenso kommt es in Partnerschaften vor, daß die Frau ihre Eßstörungen oft jahrelang dem Partner verheimlicht und dieser keine Ahnung hat, worunter sie leidet. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Wie kann eine Eßstörung, bei der das Mädchen oder die Frau kontinuierlich abnimmt oder unregelmäßig ißt und alles wieder erbricht, im familiären oder partnerschaftlichen Zusammenleben über Jahre hinweg unaufgedeckt bleiben?
Ein Grund ist sicherlich das Unwissen der Eltern und Partner von Betroffenen über Eßerkrankungen, weswegen sie gar nicht auf die Idee kommen, daß ihre Tochter/Partnerin eine Bulimie oder Anorexie entwickeln könnte.
»Daß es sowas gibt, hab ich nicht gewußt, bis ich es von meiner Tochter gehört habe«, sagt ein Vater überzeugend. Eltern und Partner sind also auf die Offenlegung durch die Betroffene angewiesen oder auf Hinweise, die ein gestörtes Eßverhalten oder deren Beginn anzeigen. Doch diese Indizien werden lange Zeit von der Tochter und der Partnerin versteckt und zum Teil auch von den Angehörigen verleugnet.
Vor ungefähr zwei Jahren, als wir mal Erbrochenes gerochen haben, da hat mein Mann gefragt, was das wohl sei. Aber es verging wieder und alles war normal. Aber jetzt wissen wir, daß unsere Tochter seit zwei Jahren Bulimie hat. Also das hat sie uns zumindest so gesagt. Es kann natürlich auch schon länger sein.
Nicht-genau-Hinschauen, Beschönigen, Erklären, Leugnen und Umdefinieren sind Mechanismen, die ein Erkennen der Eßerkrankung verhindern oder zumindest zeitlich verzögern. Sie wirken zuerst entlastend auf alle Betroffenen: Die Tochter und Partnerin braucht sich mit ihren Problemen nicht auseinanderzusetzen und kann so weitermachen wie bisher, und die Angehörigen müssen sich nicht sorgen.
Zudem sind Suchterkrankungen, zu denen ich Bulimie und Anorexie zähle – siehe dazu ausführlich die nächsten Kapitel – durch Heimlichkeit und Verleugnung gekennzeichnet. So wie die Süchtigen lange Zeit ihre Krankheit vor sich und den anderen verleugnen, tun es auch die Angehörigen, wenn sie einen Verdacht hegen. Oft ist es Angst und Hilflosigkeit der Suchterkrankung gegenüber und der Wunsch nach einer heilen Familie und Partnerschaft, die sie wegschauen lassen. Doch diese Haltung verstärkt die Eßstörung nur noch mehr.
Es gehört sicherlich etwas Mut dazu, die Tochter oder die Partnerin auf ihre Magersucht oder Bulimie hin anzusprechen, besonders dann, wenn die Angehörigen nur eine Vermutung haben. Und dennoch ist es meines Erachtens nach hilfreich, es so früh wie möglich zu tun.
Unsere Tochter kotzte meist ins Waschbecken, weil das schneller ging. Ich wunderte mich immer über das laufende Wasser und darüber, daß das Waschbecken ständig verstopft war. Unser Problem ist, daß wir noch nicht offen darüber mit ihr geredet haben. Es hieß immer, ich soll nichts sagen, mich zurückhalten. Dabei vermutet sie, daß ich etwas weiß, weil ich sie immer beobachte, das ist ganz klar. Und sie weicht immer mehr zurück. Vielleicht war es ein Fehler, unseren Verdacht nicht klar auszusprechen.
Wenn die Tochter beginnt, sich häufig über ihre Figur zu beklagen, sich einredet, sie wäre zu dick und müßte abnehmen und sie deshalb Diäten macht, kann das der Einstieg in eine Eßstörung sein. Oft ist es auch nur ein vorübergehendes Phänomen, das mit der beginnenden Pubertät verbunden ist und nach kurzer Zeit wieder vergeht. Aber auch in diesem Fall ist es ratsam, Ihrer Tochter zuzuhören und sie in ihren Sorgen ernst zu nehmen, statt diese als Kinderkram abzutun oder gar zu belächeln.
Deutliche Zeichen für eine beginnende Eßstörung sind, wenn die Tochter sich immer mehr zurückzieht, nicht mehr über sich erzählen will, dem gemeinsamen Essen fernbleibt, auffällig zu essen beginnt, immer mehr abmagert und häufig nach dem Essen aufs Klo geht. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an ein ernstes Eßproblem zu denken.
Auch in Zweierbeziehungen tauchen ähnliche Symptome auf: Die Frau entzieht sich mehr und mehr dem Partner, entwickelt sexuelle Unlust oder Abwehr, isoliert sich, verbringt immer mehr Zeit in der Küche oder beim Einkaufen, vernachlässigt Freunde und Hobbys beziehungsweise macht nur noch ›vordergründig mit‹. Nach außen hin hält sie weiterhin die positive Fassade aufrecht und tut so, als sei alles in Ordnung. Aber diese Haltung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie trotzdem – oder gerade deshalb – ein ernstes Eßproblem hat. Bevor ich weiter über die Problematik von Magersucht und...