E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Wanner Liebe in Sommergrün
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1279-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1279-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Wiesbaden. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.
Autoren/Hrsg.
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1
Die Liebe ist eine Reise in ein gänzlich neues Leben.
(Ernst Bloch)
»Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.«
Die vertraute Fanfare ertönte, während gleichzeitig zehn kleine gelbe Buchstaben, die zusammen das Wort »Tagesschau« bildeten, von oben ins Bild schwebten und direkt vor einer blauen Weltkarte zum Stehen kamen.
»Mit der D-Mark zur Einheit – seit heute haben alle DDR-Bürger nur noch die harte Währung im Portemonnaie«, kommentierte eine sonore Männerstimme aus dem Hintergrund die Szene, die gleich darauf zu sehen war: zahlreiche Menschen, die sich um eine weiße Tischplatte voller frischer Geldscheine drängten.
»Ende der Kontrollen«, fuhr die Stimme fort, nachdem das Bild gewechselt hatte. Nun war das große Schiebefenster einer Grenzstation zu erkennen, das gerade durch ein Rollo verschlossen wurde. »Die Schalter sind geschlossen, die letzten DDR-Grenzer machen das Licht aus.«
Ende des Kurzfilms, die Regie schaltete ins Studio. Der Nachrichtensprecher, der ein dunkelblaues Jackett und eine gleichfarbige Krawatte trug, lächelte freundlich in die Kamera und nahm einige Zettel vom Tisch auf.
»Guten Abend, meine Damen und Herren.« Es folgte eine kurze, wohl dosierte Pause. »Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen zum heutigen 1. Juli 1990 ist die Einheit Deutschlands praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten, und das …«
»Oh, die Nachrichten haben schon begonnen.« Renate Bahrenbeck kam mit einem Tablett voller Bowle-Gläser ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Sofatisch ab. Dann wandte sie sich an ihre Tochter Kathrin. »Kannst du das bitte ein wenig lauter machen, Kathi?«
»Wie?« Zerstreut blickte die Angesprochene von ihrem Buch auf.
»Warum musst du denn so genau zuhören?«, wollte Opa Paul wissen. »Die bringen doch nur das, was du gestern Nacht alles selbst miterlebt hast.«
Er deutete Richtung Fernseher, wo inzwischen Bilder von Freudenfeiern, Hupkonzerten, spontanen Feuerwerken und knallenden Sektkorken zu sehen waren.
»Oder heute Morgen«, ergänzte Kathrins Vater Jürgen. »Bei der Auszahlungsstelle der Bank war schon vor acht Uhr die Hölle los. Sie haben sogar Gratiskaffee ausgeteilt.«
»Ich habe gehört, die sind mit einem umgebauten Bus gekommen. Stimmt das?«
»Ja. Wie hätten sie auch sonst so schnell einen Geldschalter für unser kleines Dorf organisieren können?«
»Unglaublich.« Oma Elisabeth legte ihre Stricksachen zur Seite. »Wir leben wieder in einem freien Land! Dass ich das noch erleben darf«, murmelte sie gerührt.
»Also wirklich, Elli!« Opa Paul schüttelte den Kopf. »Das weißt du doch schon seit ein paar Monaten. Es besteht also gar kein Grund, jetzt in Tränen auszubrechen.«
»Das tue ich doch gar nicht!«
»Aber ich gleich, wenn ihr nicht alle auf der Stelle still seid«, ging Renate verärgert dazwischen.
Sie war ein zurückhaltender und freundlicher Mensch, der nur selten laut wurde. Deshalb unterbrachen die übrigen Familienmitglieder ihren Wortwechsel auch sofort und warfen ihr erstaunte Blicke zu.
»Es gibt Leute in diesem Raum, die würden gern in Ruhe die Nachrichten anschauen«, fügte Renate etwas sanfter hinzu. »Danach können wir uns unterhalten, so lange wir wollen. Oder bis die Bowle ausgetrunken ist.«
Kathrin lächelte amüsiert. Sie hatte es sich auf ihrem Lieblingsplatz bequem gemacht, einem alten Ledersessel, der in einer Ecke des Zimmers zwischen Fernseher und Fenster stand. Von hier aus hatte sie die gesamte Familie gut im Blick.
Ihre Großeltern und ihre Eltern waren, wie jeden Abend um diese Zeit, im Wohnzimmer versammelt. Zur Feier des Tages stand heute eine Mandarinen-Bowle auf dem Tisch.
Ihre Mutter füllte gerade die ersten Gläser. Oma Elisabeth und Opa Paul teilten sich das Ledersofa. Elisabeth saß aufrecht und mit mehreren Kissen als Stütze im Rücken, Opa Paul hingegen lag schon schläfrig auf der anderen Seite der Polster und hatte seine Füße auf den Oberschenkeln seiner Frau abgelegt. Mit sanften, kreisenden Bewegungen massierte Elisabeth seine Fußsohlen – eine liebevolle Geste, die sich jeden Abend wiederholte.
Ebenso vertraut war Kathrin der Anblick ihres Vaters, der es sich im alten Schaukelstuhl gemütlich gemacht hatte. Auf seinen Knien lag die Fernsehzeitung, die er jeden Tag aufs Neue durchblätterte, nur um irgendwann enttäuscht festzustellen, dass schon wieder nichts Vernünftiges auf dem Programm stand.
Jürgen Bahrenbeck war vor wenigen Wochen 46 Jahre alt geworden und hatte seinen Geburtstag zum ersten Mal in seinem Leben groß gefeiert. Fast das ganze Dorf war eingeladen gewesen.
»In diesem Jahr wird Geschichte geschrieben«, hatte Jürgen gemeint. »Deshalb müssen wir das festlich begehen. Mir ist es völlig egal, dass es kein runder Geburtstag ist. Oder dass meine Haare weniger werden, die Augen schwächer und mein Bauch dicker.«
So schlimm fand Kathrin die Alterserscheinungen bei ihrem Vater gar nicht. Sicher, er hatte mittlerweile eine Halbglatze, eine Brille und ein paar Kilos zu viel auf der Waage – aber welcher Mann hatte das nicht in seinem Alter? Und wen, außer ihn selbst, störte das schon?
»Kathi?« Die Stimme ihrer Mutter riss Kathrin aus ihren Überlegungen. »Machst du bitte lauter?«
»Ja, klar.« Sie griff nach der Fernbedienung, die neben ihr auf der Lehne lag. Immer noch waren Bilder von jubelnden Menschen, nächtlichen Partys und Autokorsos zu sehen.
»… wirklich ein historischer Tag für Deutschland«, fasste der Nachrichtensprecher zusammen.
Historisch.
Dieses Wort hatte Kathrin in den letzten Monaten oft gehört.
Alles war historisch: das Ende des politischen Systems der DDR, der Fall der Mauer, die spontanen Fahrten über die Grenze, ausgiebige Einkaufstouren, glückliche Familientreffen und natürlich das alles überlagernde, unglaubliche Gefühl von Freiheit. Das Leben veränderte sich, auch wenn die Neuerungen hier auf dem Land, mitten im Spreewald, nur allmählich ankamen.
Aber sie kamen.
Die Straßen wurden saniert und das alte Rathaus instandgesetzt. Plötzlich gab es Produkte im Dorfladen, die man vorher nur aus dem Westfernsehen gekannt hatte. In Lübben, der nächstgrößeren Stadt, eröffnete sogar ein Supermarkt. Westdeutsche Zeitungen lagen im Kiosk aus, das Radio spielte den ganzen Tag über amerikanische Popmusik, und inmitten dieser euphorischen Stimmung hatten sich Kathrins Eltern vor drei Wochen sogar dazu hinreißen lassen, einen modernen Farbfernseher zu kaufen.
Ja, das war wohl wirklich alles historisch zu nennen. Aber auch abenteuerlich, berauschend und wundervoll – besonders dann, wenn man erst 22 Jahre alt war und diese Entwicklungen in vollen Zügen genießen konnte.
Kathrin seufzte zufrieden und steckte ihre Nase wieder ins Buch. Friedhof der Kuscheltiere von Stephen King.
Noch so eine bedeutsame Veränderung: Inzwischen waren die Bücher westlicher Autoren in jeder Buchhandlung vorrätig und sogar bezahlbar. Ein paradiesischer Zustand für Kathrin, die jede freie Minute zum Lesen nutzte. Auch jetzt nahm die gruselige Geschichte sie sofort wieder gefangen. Dieser Roman war wirklich unglaublich spannend!
So spannend, dass es ihr ohne weiteres gelang, die Stimme des Nachrichtensprechers und die Unterhaltung ihrer Familie auszublenden. Zumindest bis zu dem Moment, als der Wetterdienst für morgen einen schönen, warmen Tag voraussagte und ihr Vater daraufhin die Fernsehzeitung neben sich auf den Boden warf.
»Dann können wir morgen mit der Aussaat auf den letzten Gurkenfeldern beginnen«, verkündete er.
»Du kannst nicht aufs Feld, du musst morgen mit mir zur Bank«, sagte Renate. »Hast du das etwa vergessen? Wir haben um acht Uhr einen Termin wegen des Darlehens und des Unternehmenskonzepts für die Gurkenfabrik.«
»Unternehmenskonzept?«, wunderte sich Oma Elli. »Was bedeutet das noch mal?«
»Dass wir uns unsere Gurkenfabrik vom Staat zurückholen, sobald das rechtlich möglich ist«, erklärte Opa Paul seiner Frau. »Und dass wir sie modernisieren werden. Aber dafür brauchen wir einen guten Plan und einen Kredit.«
»Wenn du so gründlich informiert bist, kannst du ja mit Renate zur Bank gehen, Vati«, sagte Jürgen. »Ich hasse die Gespräche mit diesen eingebildeten Schlipsträgern aus Westdeutschland.«
»Nee, lass mal!« Opa Paul winkte ab. »Da übernehme ich lieber die Aussaat. Dieser ganze Papierkram ist nichts für mich.«
»Ich helfe dir, Opa.« Kathrin klappte ihr Buch zu. »Wir treffen uns um sieben vor der Scheune.«
»Gehst du noch aus?«, wollte Renate wissen, als ihre Tochter sich erhob und die Strickjacke zuknöpfte.
Kathrin nickte. »Ja, ich treffe mich mit Maik und den anderen am Badesee. Wir wollen noch ein wenig feiern.«
»Dann trinkst du gar keine Mandarinen-Bowle mit uns?« Oma Elli klang enttäuscht.
»Also, eigentlich …« Kathrin zögerte.
Am See warteten ihre Freunde auf sie. Einer von ihnen, Frank, hatte seit ein paar Tagen einen neuen tragbaren Kassettenrecorder mit Batteriebetrieb. Maik wollte Decken mitbringen. Sie selbst hatte dicke Wachskerzen und Fackeln besorgt, andere wollten sich um die Getränke kümmern. Am...