Walters | Dem Glück so nah | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 351 Seiten

Walters Dem Glück so nah

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0666-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 351 Seiten

ISBN: 978-3-7325-0666-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Roberta liebt Bücher. Sie liebt es, in alten Ausgaben zu stöbern und dabei unerwartete Entdeckungen zu machen: Briefe, Notizen oder Postkarten, die die Vorbesitzer zwischen den Seiten vergessen haben. Als sie in einem alten Koffer ihrer Großmutter einen wahren Bücherschatz findet, stößt sie in einem der Exemplare auf einen Brief, der all ihre bisherigen Fundstücke in den Schatten stellt. Es ist ein Liebesbrief ihres im Krieg gefallenen Großvaters - doch ist er datiert auf einen Zeitpunkt, als dieser schon längst hätte tot sein müssen ...

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1. Kapitel


8. Februar 1941

Meine liebe Dorothea,

zu Zeiten des Krieges geraten die Menschen bisweilen in einen Zustand der Verzweiflung. Sie stehen förmlich neben sich. Ich liebe Dich wirklich – es tut mir leid, dass ich das jetzt erst eingestehe. Du liebst mich. Ich werde nie vergessen, wie Du meinen Kopf und meinen Nacken gestreichelt hast, als Du glaubtest, ich schliefe. Eine Berührung der Liebe, kaum noch vorstellbar. Niemand wird mich je wieder so berühren. Das weiß ich mit Sicherheit. Jetzt muss ich mit dem Schmerz fertigwerden.

Verzeih mir, Dorothea, dass ich Dir nicht verzeihen kann. Was Du vorhast, was Du diesem Kind und seiner Mutter antust, ist falsch. Es ist deplatziert, so wie ich es bin, der ich gezwungen war, mein Heimatland zu verlassen, in das ich vielleicht nie wieder zurückkehren kann. Auch Du kannst nie wieder zurück, wenn Du an Deinem Vorhaben festhältst. Du wirst daran festhalten. Allerdings könntest Du das Ganze jetzt noch rückgängig machen, aber ich weiß, dass Du das nicht tun wirst. Deine Seele kann nicht mehr heimkehren von dem, was Du tust. Bitte glaub mir. Indem Du den einen in den Arm nimmst, verlierst Du zwangsläufig einen anderen. Ich halte das nicht aus, und Du weißt, warum nicht.

Ich schreibe Dir diese Worte nicht gern. Um ehrlich zu sein, ich weine gerade. Wenn dieser Krieg irgendwann einmal zu Ende geht – irgendwann wird es so weit sein –, hätten wir uns ein gemeinsames Leben aufbauen können. Es ist zu meinem einzigen großen Traum geworden, mein Leben mit Dir zu verbringen. Als ich nach unserer ersten Begegnung auf dem Fahrrad davonfuhr, war mir bereits klar, dass Du mir so wichtig bist wie Wasser. Ich wusste, Du bist für alle Zeit, selbst wenn uns keine Zeit bleibt. Schon nach wenigen Minuten dachte ich daran, Dich zu heiraten. Aber es geht nicht. Du bist eine achtbare Frau, doch das, was Du tust, ist alles andere als ehrenhaft. Obwohl Du Dir so viel Mühe gibst, gut zu sein, betrügst Du Dich jetzt selbst und öffnest der Schande Tür und Tor. Es fällt mir schwer, es ausdrücken, aber Du verstehst mich bestimmt. Meine wunderschöne Dorothea, trotz allem muss unsere Freundschaft hier enden. Ich wünsche Dir alle Freude dieser Welt.

Dein Jan Pietrykowksi

(Ich fand diesen Brief in einer Ausgabe aus dem Jahr 1910 von The Infant’s Progress: From the Valley of Destruction to Everlasting Glory. Ich legte das Buch auf Philips Schreibtisch, damit er einen Preis festsetzte. Schließlich wanderte es in das Regal für antiquarische Bücher, mit dem bescheidenen Preis von fünfzehn Pfund ausgezeichnet.)

Ich reinige Bücher. Ich staube die Buchrücken und die Seiten ab, manchmal jede einzeln – eine mühevolle Arbeit, die Hustenreiz verursacht. In den Büchern finde ich versteckte Dinge: getrocknete Blüten, Haarsträhnen, Eintrittskarten, Etiketten, Quittungen, Rechnungen, Fotos, Ansichtskarten, alle Arten von Karten. Ich finde Briefe, unveröffentlichte Werke von ganz normalen Menschen; Menschen, die Kummer haben; Menschen, die nicht gebildet sind und selten schreiben. Die Briefe sind mal holprig formuliert, mal wortgewandt verfasst, es handelt sich um Liebesbriefe, alltägliche Briefe, geheime Briefe oder banale Briefe, die von Obst oder Babys oder Tennisspielen erzählen, von Menschen geschrieben, die beispielsweise Marjorie oder Jean heißen. Meinem Chef, Philip, sind derartige Fundstücke gleichgültig, weil er schon so daran gewöhnt ist. Was immer er findet, er gibt es an mich weiter, damit ich einen Blick darauf werfe. Dabei erinnert er mich regelmäßig daran, dass ich nicht alles aufbewahren kann. Und natürlich hat er recht. Dennoch bringe ich es nicht über mich, diese Schnipsel und Momentaufnahmen eines Lebens, die einmal so viel bedeutet haben (oder es immer noch tun), zu vernichten.

Vor elf Jahren bin ich als Kundin in die Buchhandlung »The Old and New Bookshop« spaziert und am Folgetag als erste Angestellte des Ladens dorthin zurückgekehrt. Ruhig und ohne lange zu überlegen hatte Philip, der Eigentümer und Geschäftsführer, mich gebeten, für ihn zu arbeiten. Er meinte, wir würden bald in ein neues Jahrtausend eintreten, und das sei der richtige Zeitpunkt für Veränderungen – der richtige Zeitpunkt, um im wahrsten Sinne des Wortes eine Bilanz zu ziehen. Er schätzte es sehr, dass ich Bücher liebte, und er bewunderte meine Fähigkeit, mit Menschen umzugehen. Wie er behauptete, fand er selbst andere Menschen »schwierig«.

»Sie sind oft ziemlich verdorben, nicht wahr?«, sagte er, und ich pflichtete ihm halbherzig bei.

Einmal verkündete er auch: »Bücher erzählen noch viele andere Geschichten außer denen, die darin abgedruckt sind.«

Ob ich das wüsste? Ja, das tat ich. Bücher verströmen Gerüche, sie ächzen, sie sprechen. Man hält ein lebendiges, atmendes, flüsterndes Ding in der Hand – ein Buch.

Am Tag, an dem ich meine Arbeit in seinem Buchladen aufnahm, riet Philip mir: »Lesen Sie die Bücher sorgfältig, riechen Sie sie, hören Sie ihnen zu. Dann werden Sie belohnt.«

Ich mache die Regale sauber. Ich sorge dafür, dass sie nicht zu vollgestellt sind. Ich führe jedes Jahr eine Inventur durch, immer im Mai, wenn die blühenden Bäume ihre Blütenblätter fallenlassen und die Sonne durch die bodentiefen Fenster des großen Raumes im hinteren Bereich des Ladens scheint, wo wir die gebrauchten Sachbücher und die gebundenen Romane ausstellen. Die Wärme der Frühlingssonne legt sich wie ein riesiger, beruhigender Arm um meinen Rücken, während die Schwalben über dem Garten hin und her schießen, schrille Schreie ausstoßen und sich an Fliegen laben. Morgens koche ich Kaffee, nachmittags brühe ich Tee auf. Ich nehme an den Vorstellungsgesprächen für neues Personal teil: Die achtzehnjährige Sophie, die die Zeit zwischen Schule und Studium bei uns überbrücken wollte, ist immer noch bei uns; ihr Überbrückungsjahr hat sich auf unbestimmte Zeit ausgedehnt. In jüngerer Zeit kam Jenna, die innerhalb von zwei Wochen nach Arbeitseintritt Philips Geliebte wurde. Mit Jenna gab es eigentlich kein richtiges Vorstellungsgespräch. Genau wie ich betrat sie »The Old and New Bookshop« als Kundin; wie ich wurde auch sie in ein Gespräch verwickelt und erhielt ein Stellenangebot.

Es gibt niemanden, der mehr Leidenschaft für Bücher empfindet, für das gedruckte Wort, als meinen Chef Philip Old. Seine Liebe zu Büchern treibt ihn an, seine Beziehung zu dem Buch um seiner selbst willen. Er liebt es wegen seines Geruchs, seines Alters, seiner Herkunft, wegen der Art, wie es sich anfühlt. Sein Laden ist groß, er hat hohe Decken, geflieste Böden und ein Gewirr von Räumen – insgesamt sechs, dazu kommt ein Lager im ersten Stock. Alles wirkt großzügig und hell. Wir verkaufen neue Bücher, alte Bücher, antiquarische Bücher, Kinderbücher, Regale über Regale über Regale von Büchern, die die zahlreichen Wände dieser geräumigen, lichten Kathedrale bedecken. Das Gebäude liegt etwas zurückgesetzt von dem belebten Marktplatz. Wir haben einen gepflegten, hübschen Garten, in dem Lavendel und Rosmarin den gepflasterten Pfad säumen, der zu der großen Eichentür des Ladens führt. Im Sommer flattert an dem schmiedeeisernen Zaun eine Kette mit Wimpeln, die ein Kunde freundlicherweise für uns gefertigt hat. Außerdem gibt es ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift:

Willkommen in

The Old and New BookshopHeute geöffnet von 9 Uhr bis 17 Uhr.
Wir laden Sie herzlich zum Stöbern ein.

Aus unternehmerischer Sicht kann »The Old and New Bookshop« eigentlich keinen Gewinn machen. Natürlich haben wir eine Gruppe treuer Stammkunden – das haben solche Läden immer –, aber eben nur eine kleine Gruppe. Also muss es irgendwo Geld geben, das das Geschäft über Wasser hält und das es ermöglicht, Philips Wohnung im zweiten Stock so geschmackvoll auszustatten. Ich habe mich nie danach erkundigt. Philip spricht nicht über Geld, so wie er sich auch nie über sein Privatleben äußert.

Ich selbst habe meinen Teil an romantischen Abenteuern, wenn man das so nennen kann, gehabt. Zumindest gab es entsprechende Angebote. Ein junger Mann, jünger als ich, der Mitglied der etwas seltsamen Gruppe ist, die regelmäßig samstags in den Laden kommt (und anscheinend der Zeit mindestens ein Jahrzehnt hinterherhinkt, denn er trägt immer einen schwarz-lila Jogginganzug), wollte mir bereits mehrmals seine Faxnummer aufdrängen. Ein anderer Mann (mit rotem Gesicht, aber nicht ganz unattraktiv) hat mir vor Kurzem gestanden, ich sei die »bestaussehende« Frau, die er »seit Monaten« gesehen habe. Das war schlicht und einfach gelogen, und die wirklich hübsche Jenna, die ganz in der Nähe stand und vorgab, Regale aufzuräumen, kicherte. Ich warf ihr einen Blick zu, den sie ungerührt erwiderte. Und dann, vor einem Jahr, der Schulleiter einer örtlichen Grundschule (in unserer Stadt gibt es drei davon), ein Stammkunde mit der Gewohnheit, seine Einkäufe samt und sonders dem Schulkonto anzulasten. Nachdem ich ihn bedient und ihm seine elegante »The Old and New«-Papiertüte gereicht hatte, blieb er stehen und zögerte. Schließlich räusperte er sich und lud mich für einen Donnerstagabend zum Essen ein, falls mir das passte. Falls ich Zeit hätte. Er besaß ein charmantes Lächeln und dickes, schwarzes Haar, das vermutlich gefärbt war.

An diesem Vormittag brachte mein Vater ein paar Bücher vorbei, alte Bücher, die meiner Babunia gehörten, meiner Großmutter. Sie wohnt schon seit zwei Jahren in einem Pflegeheim, aber wir haben lange gebraucht, bis wir es übers Herz...



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