Waltari / Ludden Turms der Unsterbliche
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86346-188-1
Verlag: Kuebler
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3, 1768 Seiten
Reihe: Mika Waltaris historische Romane
ISBN: 978-3-86346-188-1
Verlag: Kuebler
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Turms hat die Erinnerung an seine Herkunft verloren. Indem er den Tempel der Perser in Sardeis in Brand setzt, gibt er das Signal zum Aufstand der Ionier gegen die persische Weltmacht. Es kommt zur Seeschlacht vor Milet. Er flieht nach Sizilien und später nach Rom. Dort, am Rand des etruskischen Herrschaftsgebiets, wird ihm enthüllt, dass er ein 'Geweihter' ist und das Schicksal ihn zum Priester-Herrscher der Etrusker bestimmt hat. Zahlreiche Nebenhandlungen und Personen (der griechische Krieger Dorieus, der Arzt Mikon, die Witwe Tanakil, die Tempelhetäre Arsinoe und viele andere) bereichern die Geschichte und vermitteln dem Leser ein farbenfrohes und kenntnisreiches Bild der antiken Welt.
Mika Waltari, 1908 in Helsinki geboren, studierte Philosophie und Theologie, wurde Journalist, Übersetzer und schließlich freier Schriftsteller. Vor allem mit seinen historischen Romanen wurde er in der ganzen Welt bekannt und gilt als einer der erfolgreichsten finnischen Schriftsteller. Sein Stil kann mit 'Nüchternheit, Melancholie, subtiler Humor' beschrieben werden, für jeden Roman betrieb er ein ausführliches Quellenstudium.
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Kapitel 4 Das geschah zwischen den düsteren Bergen auf dem Grunde nach Delphi. Als wir das Ufer verließen, flammten über den Berggipfeln weit im Westen die Blitze. Als die Pilger im Dorf angelangt waren, warnten die Dorfbewohner sie vor dem Weitergehen. Es ist Herbst, sagten sie, und die Stürme setzen ein. Der Sturm könne einen Bergsturz hervorrufen und das Geröll auf den Weg herabstürzen. Die reißenden Ströme könnten die Pilger wegschwemmen. Aber ich, Turms, wanderte weiter nach Delphi, um mich dem Orakelspruch zu stellen. Die Krieger Athens hatten mich gerettet und mir Zuflucht auf ihren Schiffen gewährt, als die Bewohner von Ephesos mich schon zum zweiten Male steinigen wollten. Deshalb wartete ich den Sturm auf dem Grunde nach Delphi nicht ab. Die Dorfbewohner lebten von den Pilgern und hielten diese auf der Hin- und Rückfahrt unter mancherlei Vorwänden zurück. Sie bereiteten schmackhafte Speisen, boten bequeme Nachtlager an und verkauften den Pilgern selbst angefertigte Andenken aus Holz, Horn oder Stein. Ihren Warnungen schenkte ich keinen Glauben. Ich fürchtete mich nicht vor dem Sturm und den Blitzen. In brennendem Schuldbewusstsein setzte ich meine Wanderung zwischen den Bergen fort. Es wurde finster am hellen Tag. Die Wolken senkten sich auf die Berge nieder. Die Blitze sprühten um mich herum. Ein ununterbrochener Donner rollte als Echo im Tal. Ich hätte nie geglaubt, dass das Menschenohr ein solches Donnerrollen ertragen könne. Die Blitze zersplitterten Felsen um mich herum. Regen und Hagel peitschten meinen Körper. Der Wirbelsturm stürzte mich fast in die Schlucht hinab. Meine Knie und Ellenbogen waren von den Steinen blutig geritzt. Aber ich empfand keinen Schmerz. Die Blitze schwirrten um mich herum, als ob sie mir ihre blendende Kraft zeigen wollten. Ein ununterbrochenes Grollen dröhnte in meinem Kopf. Das erste Mal in meinem Leben geriet ich in Ekstase. Unbewusst begann ich auf dem Grunde nach Delphi zu tanzen. Im Lichtschein der Blitze, im Gewittersturm fingen die Füße zu tanzen an, die Hände bewegten sich, aber ich ahmte im Tanze nicht andere nach, auch tanzte ich nicht etwas Erlerntes, sondern der Tanz war und lebte in mir, und meine Glieder sowie mein ganzer Körper tanzten in einem unbeschreiblichen, jubelnden Freudentaumel. Eigentlich hätte ich bei diesem Zorn der Götter über meine Schuld schaudern müssen. Stattdessen wurde ich von der strahlenden Gewissheit erfüllt, dass ich über allem Schuldigsein stand. Die Blitze begrüßten mich als ihren Sohn, sich über meinem Kopf kreuzend und spaltend. Als seinen Sohn begrüßte mich der Sturmwind. Mit unausgesetzt grollendem Donner grüßte mich das Tal. Mir zu Ehren prasselten Felsblöcke von den Hängen als feierlicher Gruß nieder. Da erkannte ich mich selbst – zum ersten Mal. Mir konnte nichts Böses geschehen. Nichts konnte mir Schaden zufügen. Während meines Tanzes auf dem Grunde nach Delphi brachen aus meinem Innern Worte fremder Sprachen, die ich nicht verstand. Aber ich sang sie, ich wiederholte sie unentwegt in gleicher Weise, so wie ich in Vollmondnächten an meinem eigenen Schrei erwachte und die Worte, die ich nicht verstand, immer aufs Neue wiederholte. Der Rhythmus meines Liedes war mir fremd. Die Tanzschritte waren mir fremd. Aber im Zustande der höchsten Ekstase brach dies alles aus mir und war ein Teil meiner selbst, obwohl ich nicht wusste wieso. Als ich an der Felswand vorbeigekommen war, sah ich das runde Tal von Delphi von Wolken verdunkelt und vom Regen verschleiert vor mir liegen. Im gleichen Augenblick verstummte der Sturm, die Wolken hoben sich und die Sonne warf ihre Strahlen über Delphis Bauten, Denkmäler und heilige Tempel. Die herbstliche Erde, von Tropfen übersät, glitzerte silbern, die Hagelkörner schmolzen, und nie habe ich Lorbeerbäume so dunkelgrün, so glänzend gesehen wie die heiligen Lorbeerbäume, die den Tempel von Delphi umstanden. Ohne fremde Hilfe fand ich die heilige Quelle, legte meine Ledertasche auf die Erde, zog die verschmutzten Kleider aus und sprang in das reinigende Wasser. Der Regen hatte das Wasser im Teich getrübt, aber der aus dem Löwenrachen quellende Wasserstrahl reinigte Hände, Gesicht, Füße und Haare. Nackt stieg ich heraus in die Sonne, und die Ekstase in mir hielt weiter an, so dass meine Glieder wie Feuer brannten und ich keine Kälte verspürte. Als ich die auf mich zukommenden Tempeldiener in ihren wallenden Gewändern, mit den heiligen Bändern um den Kopf bemerkte, hob ich den Blick und sah hoch über allem, den Tempel überragend, den schwarzen steilen Abhang und die schwarzen großen Vögel, die nach dem Sturm über der Schlucht kreisten. Ohne zu fragen wusste ich, dass es die Gerichtsstätte war, von der Menschen, die unsühnbare Verbrechen begangen haben, heruntergestoßen werden. Ich lief zwischen Statuen und Denkmälern die Stufen zum Tempel hinauf, ohne den heiligen Weg zu beachten. Als ich den Tempel erreicht hatte, legte ich die Hand auf den mächtigen Altar und rief: „Ich, Turms aus Ephesos, stelle mich unter den Schutz der Götter und unterwerfe mich dem Orakelspruch.“ Ich blickte um mich und sah an der Stirnwand des Tempels Artemis mit ihren Hunden dahinjagen und Dionysos Feste feiern. Da wusste ich, dass dies für mich nicht genügte. Die Tempeldiener suchten mich durch warnende Rufe zurückzuhalten. Ich entriss mich jedoch ihrem Griff und lief in den Tempel. Ich lief durch die Vorhalle an silbernen Riesenurnen, kostbaren Statuen und Weihgeschenken vorbei. Ich drang bis in das Innerste des Tempels vor, bis ich auf einem kleinen Altar das Ewige Feuer und daneben den vom Rauch der Jahrhunderte geschwärzten Nabel der Welt entdeckte. Ich legte meine Hand auf diesen heiligen Stein und stellte mich unter den Schutz der Götter. Aus dem heiligen Stein strömte ein unsagbares Gefühl der Ruhe in meine Hand, und ich spürte, wie mein ganzer Körper ruhig wurde. Furchtlos blickte ich um mich. Ich sah die ausgetretenen Steinstufen, die in die Schlucht führten. Ich sah das Heilige Grab des Dionysos. Ich sah über mir in des Tempels heiliger Dämmerung die Tempeladler des Höchsten aller Götter. Ich war geborgen. Diesen Raum durften die Diener nicht betreten. Hier konnte ich nur den Priestern von Delphi, den Geweihten, den Herolden der Götter begegnen. Durch die Diener alarmiert, eilten vier alte Männer, vier heilige Männer herbei. Beim Eintreten ordneten sie ihre Stirnbänder und rafften die Schöße ihrer Überwürfe zusammen. Ihre Gesichter waren säuerlich und ihre Augen vom Schlaf gedunsen. Sie lebten schon an der Schwelle des Winters und erwarteten keine bedeutenden Pilger mehr. Des Sturmes wegen erwarteten sie heute überhaupt keine. Weil ich im Heiligsten des Tempels nackt auf der Erde lag und mit beiden Armen den Weltnabel umklammert hielt, wagten sie nicht, Gewalt gegen mich anzuwenden. Außerdem mochten sie mich nicht berühren, bevor sie wussten, wer ich war. Sie sprachen gereizt mit gedämpfter Stimme untereinander. Schließlich fragten sie: „Klebt Blut an deinen Händen?“ Ich beeilte mich zu erwidern, dass kein Blut an meinen Händen hafte. Eine Bluttat hätte ich nicht begangen. Dies beruhigte sie, denn sonst hätten sie den Tempel reinigen und weihen müssen. „Hast du dich gegen die Götter versündigt?“, fragten sie weiter. Ich überlegte einen Augenblick und antwortete: „Gegen die Götter der Hellenen habe ich mich nicht versündigt. Im Gegenteil beschirmt mich die heilige Jungfrau, die Schwester eures Gottes.“ „Wer bist du denn, und was willst du“, fragten sie voller Zorn. „Wie kommst du tanzend aus dem Sturm und tauchst ohne Erlaubnis in das heiligste Wasser. Wie wagst du Ordnung und Sitten des Tempels zu brechen?“ Zum Glück brauchte ich ihnen keine Antwort zu geben, denn Pythia, auf ihre beiden Dienerinnen gestützt, betrat den Tempel. Sie war noch ein junges Weib. Ihr Antlitz war entblößt und furchterregend, ihre Augen weit aufgerissen. Sie wankte beim Gehen. Sie sah mich an, als ob sie mich von jeher gekannt hätte, ihr Gesicht begann zu glühen und sie schrie mit sich überschlagender Stimme: „Endlich kommst du, Ersehnter. Nackt kommst du, auf tanzenden Füßen, gereinigt durch das Quellwasser. Sohn des Mondes, Sohn der Muschelschale, Sohn des Seepferdchens. Ich kenne dich. Du kamst aus dem Westen.“ Ich wollte ihr sagen, dass sie sich irre, da ich doch aus dem Osten, aus Ionien, käme, und zwar so schnell, wie die Ruder und Segel der Kriegsschiffe mich herzubringen vermochten. Ihre Worte hatten mich erschüttert. Ich fragte: „Heiliges Weib, kennst du mich wirklich?“ Sie brach in ein wildes Gelächter aus, trat – obgleich die Dienerinnen sie daran zu hindern suchten – noch näher an mich heran und sprach: „Ich sollte dich nicht kennen. Erhebe dich und blicke mich an.“ Unter dem Zwang dieses furchterregenden, entblößten Antlitzes lösten sich meine Hände vom heiligen Stein des Weltnabels und ich sah sie an. Ihr Antlitz verwandelte sich vor meinen Augen. Ich erkannte darin das glühende Antlitz Dionens, die mir einst einen Apfel zugeworfen, in dessen Schale sie mit einem Messer ihren Namen eingeritzt hatte. Darauf verwandelte sich das Gesicht Dionens in das schwarze der vom Himmel von Ephesos...