Buch, Deutsch, Band 17, 128 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 205 mm
Reihe: Caracol Prosa
Roman
Buch, Deutsch, Band 17, 128 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 205 mm
Reihe: Caracol Prosa
ISBN: 978-3-907296-39-4
Verlag: Caracol Verlag der Autorinnen & Autoren
Fred hat ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben, weil sie den Lärm in Kopf und Körper nicht mehr aushält. Um in ihren Gedanken Klarheit zu schaffen, will sie schreiben. Dafür muss sie sich an Vergangenes erinnern, aber das ist ihr nur gegen erheblichen inneren Widerstand möglich. Sie braucht eine Ansprechperson und wählt dafür ihre schon längere Zeit verstorbene Schwester Louise.
Fred beginnt beim Naheliegenden, ihrem Alltag, ihrem Schreibtisch, ihrem Wohnort, erzählt sich hinein in die Erinnerung an eine noch sehr gegenwärtige Reise nach Argentinien. Sie besuchte ihr Schwester Alba, die mit ihrer Familie in Buenos Aires lebt und abends zusammen mit ihrem Mann Tango unterrichtet, und reiste weiter nach Ushuaia in Feuerland – die Stadt am Ende der Welt. Ihre Erinnerungsreise führt Fred stückweise in die Vergangenheit, in die eigene Familiengeschichte: zum Suizid ihrer Schwester Louise und zu Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit.
Immer wieder taucht sie aus ihren Erinnerungen auf und kehrt zurück in ihr Dachzimmer. Sie beschreibt den Blick aus dem Fenster: den Flug der Vögel, Szenen auf dem Pausenhof des Schulhauses nebenan, den roten Kran auf der Baustelle in der Nähe. Sie lauscht den Geräuschen des Hauses und seiner Bewohner sowie den Geräuschen der Straße, die durchs offene Küchenfenster strömen. Sie verpflegt sich aus dem Kühlschrank, fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, durch den Wind, durch den Regen und hält dem grimmen Ernst ihr Lachen entgegen. Sie besucht ihren Bruder Anton, dessen Tochter Florin und ihren Onkel Paul, immer auf der Suche nach Antworten und auf der Suche nach sich selbst.
Barbara Walder hat eine eigenwillige Art des Erzählens entwickelt, perspektivische Wechsel zwischen «sie», «du» und «ich» halten zum Mitdenken an und ziehen die Lesenden in ein komplexes Leseabenteuer. Das Verstörende wird immer wieder mit einer subtilen, widerständigen Leichtigkeit verbunden. Textstruktur und Sprachrhythmus spiegeln die Verwirrung der Protagonistin, die Mühe, ihr Leben als wirklich zu begreifen, aber auch das Verlangen, vorwärtszugehen.
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Sicher war es auch der Name, dem ich nicht widerstehen konnte: Tierra del Fuego, Feuererde. Als ich endlich in Ushuaia ankam, mitten in der Nacht, war es erstaunlich hell, erst nachher fiel mir ein, dass so nah an einem der Pole die Nacht bisweilen verschwindet. Etliche Stunden zuvor, an der Grenze zu Chile, nach einer endlos langen Fahrt, hatten wir ein paar Stunden warten müssen. Die Grenzwächter waren kurzfristig im Streik, ich hatte es nicht recht verstanden, wurde jedenfalls langsam nervös, weil ich Angst hatte, das Hostel in Ushuaia würde bei meiner Ankunft schon geschlossen sein. Ich hatte bereits die Nacht zuvor in einem Busbahnhof, auf einer Bank, halb sitzend, an meinen Rucksack gelehnt, übernachtet. Mit einem Chilenen zusammen, der am Boden schlief, einen Arm in einer Schlaufe seines Rucksacks.
Er und sein Rucksack bewegten sich im Laufe der Stunden stückweise auf mich zu, als ob es da irgendeine magnetische Kraft gäbe oder er so möglicherweise etwas gegen die nächtliche Verlorenheit tun wollte, vielleicht ohne es zu wissen, jedenfalls fand ich es eigentlich nicht bedrohlich, was mich im Grunde erstaunte, aber es irrten auch sonst immer wieder Leute durch die Wartehalle. Und es erinnerte mich unweigerlich an eine andere Begegnung, früher auf dieser Reise, es war draußen in einem Park, und der andere war kein Mensch, sondern ein Hund. Es gibt viele Hunde in Argentinien und sie kommen und gehen, wie sie wollen. Du sitzt irgendwo, vielleicht auf einer Wiese, und so ein leicht geduckter Vierbeiner schiebt sich Stück um Stück zu dir hin, ohne dich auch nur einmal anzuschauen. Als ob er kein großes Aufsehen davon machen wollte, sondern nur eben die Gunst der Stunde nutzen und ein wenig Nähe suchen. Schließlich liegt er just an deiner Seite, aber ohne dass eure Körper sich berühren, was dich wiederum berührt. Ihr sitzt oder liegt eine ganze Weile so dort, nebeneinander, bis ein weiterer Hund sich nähert, dann ist der Frieden vorbei, sie beginnen einander anzukläffen und du stehst auf und gehst.