Wajsbrot | Nevermore | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 229 Seiten

Wajsbrot Nevermore

Roman

E-Book, Deutsch, 229 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4780-9
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über das Vergehen der Zeit, über Verschwinden und Wiederkehr, Vergänglichkeit und Ewigkeit - Cécile Wajsbrots neuer Roman, kongenial übersetzt von Anne Weber.

Nach dem Tod einer befreundeten Schriftstellerin zieht sich eine Übersetzerin nach Dresden zurück, um dort an der Übertragung von Virginia Woolfs Roman 'To the lighthouse' zu arbeiten. Aus ihren tastenden Versuchen, sich der fremden Sprache und Zeit anzunähern, und den Überlegungen, die sie dabei anstellt, entsteht eine betörende Musik. Bei ihren nächtlichen Spaziergängen glaubt sie der toten Freundin zu begegnen und noch einmal mit ihr reden zu können. Ihre Einsamkeit weitet sich zu einem gewaltigen Echoraum, der von dem verfallenen Haus in Virginia Woolfs Roman über das einstmals zerstörte Dresden bis zur High Line, einer ehemaligen New Yorker Industrieruine, und zur Verbotenen Zone um Tschernobyl reicht.
Orte, die dem Verfall, der Zerstörung anheimgegeben sind und doch wieder aufleben, abgebrochene Welten, in denen noch Kraft schlummert für einen Neuanfang. Übersetzen
als Über-Setzen zu anderen Ufern, zu den Verschwundenen; in eine andere Zeitlichkeit.
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Vorspiel
»Well, we must wait for the future to show«, said Mr. Bankes, coming in from the terrace. Wir müssen warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Bankes, von der Terrasse kommend. Wir müssen sehen, was die Zukunft für uns bereithält, sagte Mr. Bankes, von der Terrasse kommend. Wir müssen darauf warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Bankes, als er von der Terrasse ins Haus trat. Wir müssen warten, womit die Zukunft uns aufwartet, sagte Mr. Bankes, der von der Terrasse hereinkam. Warten wir, was die Zukunft für uns bereithält. Warten wir ab, was die Zukunft ... Nun, wir müssen abwarten, was die Zukunft ... sagte Mr. Bankes, der von der Terrasse kam.   Es war einmal eine Frau, die schrieb, in einer großen Stadt, einer Hauptstadt, schrieb sie das am Meer verlorene Haus, zu dem sie schon lange nicht mehr hinfuhr, und die verlorene Zeit oder vielmehr – das Vergehen der Zeit. Eine Schriftstellerin, die den Augenblick zu erfassen versuchte, wie sie sagte. Aber auch die Spuren menschlicher Präsenz in der Ewigkeit. In einem Buch, dessen Titel To the Lighthouse ins Französische übersetzt wurde mit La promenade au phare, Der Spaziergang zum Leuchtturm. Die Bewegung, die in dem to steckt, findet sich im Wort promenade, Spaziergang, wieder. Kann man aber eine Fahrt auf dem Meer Spaziergang nennen? Werden Spaziergänge nicht eher an Land gemacht? Später werden noch andere Titel hinzukommen. Voyage au phare, Reise zum Leuchtturm. Vers le phare, Au phare, Zum Leuchtturm hin, Zum Leuchtturm. Alle scheitern ein wenig an der Evidenz des to. Können sie nicht wiedergeben. Die Fahrt zum Leuchtturm, sagt die erste deutsche Übersetzung. Und eine neuere Fassung, Zum Leuchtturm. Das Deutsche erlaubt eine wörtlichere Übersetzung als das Französische, denn es kann die englische Wortkonstruktion nachbilden. Aber das Ergebnis ist kompakt, die Silben sind zu dicht, verglichen mit den luftigen Klängen des Englischen. Vielleicht ist das der Grund, warum in der ersten Übersetzung Die Fahrt hinzugefügt wurde, die Entsprechung unserer französischen Promenade, aber anders als in Promenade steckt in Fahrt die Idee einer Strecke, die eher mithilfe eines Transportmittels zurückgelegt wird, das auch ein Boot, ein Schiff, sein kann. In diesem Sinn wäre Voyage au phare, Reise zum Leuchtturm, die genaueste, auch in der Silbenzahl mit dem leicht-luftigen englischen Titel übereinstimmende Übertragung. Auch wenn »Reise« ein bisschen übertrieben scheint für eine einfache Überfahrt, einen Ausflug. Aber hat diese Reise nicht über zehn Jahre gedauert? Und wer kann die Dauer einer Reise messen? Sie beginnt lange vor ihrem tatsächlichen Beginn und endet erst lange danach – falls sie denn endet ...   »It’s almost too dark to see«, said Andrew, coming up from the beach. Mr. Bankes ist nicht die einzige Figur, er ist auch nicht die Hauptfigur, ebenso wenig wie Andrew. Sind sie überhaupt Figuren? Es ist fast zu dunkel, um noch etwas sehen zu können, sagte Andrew, als er vom Strand zurückkam. Es ist fast schon zu spät, um noch etwas zu sehen, sagte Andrew, vom Strand zurück. Es ist zu dunkel, fast ist nichts mehr zu sehen, sagte Andrew, der vom Strand zurückkehrte. Zu dunkel, zu spät, um zu sehen, etwas zu sehen. Der vom Strand zurückkam, zurückkehrte. Coming in, coming up. Diese nachgestellten in und up sind wirklich kniffelig. Müssen sie genau wiedergegeben werden? Können sie übergangen werden? Natürlich fügen sie etwas hinzu, und dieses Hinzugefügte ist eine wichtige Nuance. Aber wäre es so schlimm, sie zugunsten des Rhythmus und der Wiederholung wegzulassen? Oder den Unterschied woanders hin zu verlagern? Venant, revenant? Hochkam, zurückkam? Und dann, zu dunkel, um was zu sehen – die Zukunft? Die Dunkelheit bricht ein, es wird Nacht, sie gehen einer nach dem anderen nach Hause. »One can hardly tell which is the sea and which is the land«, said Prue. Andrew und Prue gehören der Familie Ramsay an, während Mr. Bankes ein Freund ist. Die Familie Ramsay ist im Zentrum des Romans, vielmehr die Mutter, Mrs. Ramsay. Es gibt acht Kinder, darunter Andrew und Prue, auch James, der Jüngste, der zum Leuchtturm fahren will und dem seine Mutter verspricht, dass sie hinfahren werden, während der Vater ihm sagt, dass es nicht möglich sein wird. Wir werden gehen, sagt die Mutter, falls es nicht regnet. Aber es wird regnen, sagt der Vater. James hasst seinen Vater. Der ganze Hass, den ein Kind auf seinen Vater verspüren kann, verdichtet sich in diesem Gespräch, in der Frage, ob es am nächsten Tag regnen wird. Auf der einen Seite die Mutter, die dem Sohn Hoffnung macht und ihn zu unterstützen versucht, auf der anderen der Vater, der sich an die Tatsachen hält – du wiegst dich in Illusionen, sagt er zu Mrs. Ramsay, es ist offensichtlich, dass es regnen wird. Tatsächlich regnet es am nächsten Tag. Aber für Mrs. Ramsay gibt es etwas Wichtigeres als die Tatsachen, und das sind jene Phänomene, die wolkengleich den Himmel der Kinder durchziehen und die manche Erwachsene sich zu ignorieren bemühen, weil sie die Augen nicht mehr heben und sich nicht von der Erdenschwere lösen können, von jenem Ungreifbaren, das Virginia Woolf in To the Lighthouse und in ihren anderen Büchern dennoch zu greifen sucht; so ungreifbar wie die Übersetzung jenes to in andere Sprachen. Al faro, auf Spanisch. Al faro, auf Italienisch. Zu kurz. Im Italienischen lautet der Titel in der ersten Übersetzung Gita al faro. Gita, Ausflug. Der Sinn ist da, die Anzahl der Silben auch, und trotzdem stimmt etwas nicht. Der Rhythmus vielleicht. Gita, die Betonung liegt auf dem Anfang des Satzes, während wir im Englischen erst das Ende erreichen müssen, um zu dem Wesentlichen zu gelangen, wir müssen warten, bis wir am Leuchtturm angekommen sind.   »One can hardly tell which is the sea and which is the land«, said Prue. Das Meer ist kaum vom Land zu unterscheiden. Was Land ist und was Meer, ist kaum zu unterscheiden. Man hat Mühe zu sagen, was Meer ist und was Land. Es ist schwer auszumachen, was Meer ist und was Land. Es ist aller Zeiten Anfang. Es hat natürlich ein Davor gegeben, es hat den Tag gegeben, aber nun fängt alles an, fängt alles von Neuem an, in der Nacht. Die Schöpfungsgeschichte. Der Zeiten Anfang. Den zweiten Teil von Zum Leuchtturm könnte man als einen Text für sich lesen, man könnte sich ihm nähern wie einer Insel, von der aus zwar die Umrisse der Küste, des Kontinents zu sehen sind, doch was zählt, ist einzig die Erforschung der Insel. Eine Schöpfungsgeschichte. Das Licht von der Finsternis trennen. Die Wasser teilen; die oberen wären der Himmel, die unteren das Meer. Dann gäbe es die Erde. Die Lighthouse-Genesis unterscheidet sich ein wenig von der biblischen. Es ist die Nacht, die sich in den Tag einschleicht, und die Erde ist kaum vom Wasser zu unterscheiden. Es gibt keinen Himmel. Eher einen Neuanfang als einen Anfang.   »Do we leave that light burning?« said Lily, as they took their coats off indoors. »No«, said Prue, »not if everyone’s in.« Lassen wir das Licht brennen? Lassen wir dieses Licht brennen?, sagte Lily, als sie ihre Mäntel auszogen im Haus. Lassen wir das Licht brennen?, sagte Lily, während sie im Haus ihre Mäntel ablegten. Nein, sagte Prue, nicht, wenn alle drinnen sind. Nein, sagte Prue, nicht, wenn alle zu Hause sind. Lassen wir das Licht brennen?, sagte Lily, während sie ihre Mäntel auszogen. Und indoors? Warum das Wort nicht beiseite lassen, wenn es doch im nächsten Satz enthalten sein wird? Übersetzung ist eine ungenaue Wissenschaft, ein immer neu nicht zum Scheitern, aber zur Unvollkommenheit verdammter Versuch. Auf dem Weg von einer Sprache zur anderen stößt das Schiff auf Hindernisse, denen es trotzt oder die es umschifft, auf Wogen oder leicht bewegter See, Strömungen, die tragen, und Gegenströmungen. Es ist eine Überquerung mit einem Ausgangs- und einem Ankunftspunkt, aber das Dazwischen, die Reise und ihre Hindernisse, kennt nur eine Person, die alle Zwischenetappen durchlaufen hat.   »Andrew«, she called back, »just put out the light in the hall.« Andrew, rief sie zurück, schalte das Licht in der Diele aus. Andrew, rief sie, mach das Licht im Eingang aus. Kannst du das Licht in der Diele ausschalten? In letzterem Fall wäre eine Frage hinzugekommen, aber könnte man nicht das just abbilden, indem man den Imperativ etwas (ein wenig zu sehr) abschwächt? Schaltest du das Licht in der Diele aus? Das Licht in der Diele? Jedenfalls geht das Licht aus, die Nacht kann hereinbrechen und die Geschichte beginnen, neu beginnen. Wenn auch nicht ganz.   One by one the lights were all extinguished, except that Mr. Carmichael, who liked to lie awake a little reading Vergil, kept his candle burning rather longer than the rest. Eines nach dem anderen erloschen die Lichter, nur Mr....


Weber, Anne
Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman »Kirio« stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017. Für »Annette, ein Heldinnenepos« erhielt sie 2020 den Deutschen Buchpreis. Für ihre Übersetzung von Cécile Wajsbrots »Nevermore« erhielt sie 2022 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie »Übersetzung«.

Wajsbrot, Cécile
Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt auch Hörspiele, die in Frankreich sowie in Deutschland gesendet werden.
2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Künste in Berlin. 2014 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2016 den Prix de l`Académie de Berlin.


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