E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Wagner Death in Brachstedt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-407-75996-2
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-407-75996-2
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der 15-jährige Leo lebt zusammen mit seinem zunehmend verwirrten Vater. Als der eines Morgens spurlos verschwindet, nutzt Leo die Gelegenheit: Endlich sturmfrei! Mit seinem besten Freund Henri, einem Film-Nerd durch und durch, stürzt er sich in eine bizarre, aufregende Woche. Sie drehen den Kurzfilm 'Death in Brachstedt', eine abenteuerliche Flucht aus der Realität. Während sie sich bei den Dreharbeiten im heruntergekommenen Hotel seines Onkels austoben, ignoriert Leo gekonnt die drohende Katastrophe. Diese schwebt über Wagners emotional ergreifendem Debüt , das Unbehagen und Leichtigkeit raffiniert nebeneinander stellt. Doch das Ende wird kommen. Ohne Schnitt.
Autoren/Hrsg.
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2 – Marsjahr
Es war Sonntagabend, kurz vor acht, kurz vor Tatort. Die kleine Batterie oben rechts im Display meines Telefons zeigte siebzehn Prozent. Ich lief in der Dämmerung durch unsere Straße an einer langen Reihe geparkter Autos entlang. In den Fenstern der Häuser flackerte das Blaulicht der Fernseher. Ganz oben am Himmel zogen Schwalben wie kleine, schwarze Pfeilspitzen ihre Bahnen. Auch bei Familie Saubermann brannte Licht. Bestimmt saßen sie alle vor der Glotze. Saubermann war nicht ihr richtiger Name. Ich hatte ihn mir ausgedacht, nachdem ich sie eine Weile mit Papas Fernglas beobachtet hatte. Im Vorbeigehen blitzten in einem Kellerfenster die Streifen meiner Turnschuhe auf, darüber die kurze Hose. Es war ungewöhnlich warm. Als wollte das Jahr den Frühling überspringen und gleich vom Winter in den Sommer übergehen. »Wir erleben eine historische Anomalie in Sachen Klima«, hatte die Wittich, unsere Klassenlehrerin, am letzten Schultag vor den Ferien erklärt. »Einen Rekordmonat, sagen die Experten.« Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen habe es keinen so heißen März mehr gegeben. Tatsächlich war es seit zwei Wochen so warm, dass manche Biergärten vorzeitig geöffnet hatten. Und auf dem Schulhof standen die Jungs in kurzen Hosen und prahlten damit, dass sie schon im Heidesee anbaden waren. Ich lief die menschenleere Straße entlang, googelte währenddessen und erfuhr, dass Meteorologen sogar das Wetter auf dem Mars beobachteten und protokollierten. Hat das Marsjahr auch einen März?
Hinter dem mit Baugerüsten verkleideten Haus am Ende der Straße ging die Sonne unter. Ich bog nach rechts ab und überquerte einen Zebrastreifen. Die Dämmerung war fast unmerklich der Dunkelheit gewichen. Die Häuser und Autos verloren ihre Farben. Am Spielplatz hinter der Steinmühlenbrücke nahm ich den Weg zur Schleuse, holte mein Telefon erneut hervor und leuchtete mit dem Display auf den Weg vor meinen Füßen. In der Ferne schlug eine Kirchturmglocke acht Mal. Normalerweise saß Papa um diese Zeit vor dem Fernseher und sah sich die Tagesschau an. Nach zweihundert Metern schlug ich mich quer durch die Büsche zum Flussufer. Dort gab es eine Fläche, die frei von Bäumen und Sträuchern war. Ich setzte mich mit dem Rücken an einen breiten Stamm am Rand der kleinen Lichtung, streckte die Beine aus und verstaute mein Handy umständlich in der Hosentasche. Genau an dieser Stelle hatte mein Vater Anfang des Jahres gestanden. Während unseres Neujahrsspaziergangs, auf den Papa nach wie vor bestand, hatte er mich auf die Lichtung geführt und erklärt, er fände es »phänomenal« hier und käme öfter her, um den Fluss und die Tiere zu beobachten. Und übrigens, ein Freund hätte ihm ein Geldgeschenk gemacht. Wir müssten uns ab sofort keine Sorgen mehr machen. Ich hatte noch nie Geldsorgen und fand das alles reichlich merkwürdig damals. Nein, was mich irritierte war die Art, wie er das sagte. Er hatte mich angesehen, als hätte er mir noch mehr mitzuteilen. Als wäre da noch etwas. Aber es kam nichts. Als hätte er schlicht vergessen, was er sagen wollte.
Hinter dem Baum, an dem ich lehnte, machte der Wasserlauf eine Biegung und verlor sich weiter hinten unter der Brücke am Eingang des Parks. Vom Weg aus konnte man dieses Versteck nicht sehen. In diesem Moment fiel mir ein, wen ich längst hätte anrufen sollen. Ich holte das Telefon hervor. Noch vierzehn Prozent. Ich wählte eine Nummer.
»Ja?«
»Ich bin’s«, sagte ich und hob einen Zweig vom Boden auf. »Papa ist weg. Im Ernst, er hat die Wohnung verlassen, ohne ein Wort.«
»Leo? Er ist bei mir, es geht ihm gut«, sagte Tante Lisa. »Ich habe schon versucht, dich zu erreichen. Hast du eine neue Nummer?« Tante Lisa ist Papas Schwester. Sie ist Bibliothekarin an der Uni, wohnt im Süden der Stadt und sie hat eine Katze namens Polli. Sie ist nicht nur an Weihnachten und den Geburtstagen mit den besten Geschenken am Start, sondern immer, wenn man sie braucht.
»Ach was«, sagte ich und begann die kleinen Blätter des Zweiges abzuzupfen. In diesem Moment hätte mir ein Stein vom Herzen fallen sollen, wie man so schön sagt. Stattdessen stellte sich ein eher mulmiges Gefühl ein. Und ich wurde wütend. Was waren denn das für Methoden? Ausreißen und nicht Bescheid geben! Mein Vater war eigentlich ganz okay. Wir kamen gut zurecht. Aber für seine jüngsten Eskapaden fehlten mir die Worte. »Ja, neue Nummer«, sagte ich grimmig.
»Wolfgang hat plötzlich durchs Fenster geschaut«, erzählte Tante Lisa. »Ich habe mich vielleicht erschrocken. Ich glaube, er ist mit der Bahn gekommen.«
»Was hat er denn gesagt? Ich meine, warum ist er zu dir gefahren, ohne mir Bescheid zu sagen?«, fragte ich. »Sonntagabend sitzt er normalerweise vor dem Fernseher.«
»Das habe ich ihn auch gefragt, aber er stand nur da und sagte nichts. Ich habe ihn reingelassen und Tee gemacht. Jetzt schauen wir Tatort.«
»Tante Lisa, mein Akku ist gleich leer.« Ich steckte ein Ende des Zweiges in die Öffnung einer leeren Coladose.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie. »So geht das nicht. Das ist mir zu abenteuerlich, wenn Wolfgang umherirrt und keiner weiß, wo er ist. Und du kannst dich nicht um ihn kümmern. Du musst lernen.«
»Ja«, sagte ich.
»Du lernst doch? Für Mathe?«
»Ja, sicher.«
»Mir wäre wohler, wenn Wolfgang erstmal hierbleibt«, sagte sie. »Morgen gehe ich mit ihm zu Doktor Pilz. Wir können dich so lange allein lassen?«
»Morgen geht nicht«, erwiderte ich.
»Was meinst du?«, sagte sie. »Du hast doch Ferien.«
»Ja, aber du kannst morgen nicht zu Doktor Pilz.« Ich schleuderte die Dose im hohen Bogen Richtung Fluss, wo sie aufs Wasser patschte. Vielleicht schafft sie es bis zur Elbe, dachte ich, und später in die Nordsee und immer weiter. »Die Praxis ist montags geschlossen. Erst am Dienstag …«
»Wir machen es anders«, unterbrach sie mich. »Wolfgang bleibt vorerst bei mir. Und übermorgen gehen wir zu Doktor Pilz.« Sie müsse zwar zur Uni, sprach sie weiter, da sei zurzeit die Hölle los wegen der Abschlussprüfungen, sie habe auch so einen Pfeifton im linken Ohr, wie jedes Jahr um diese Zeit. Aber egal, ich solle sie in den nächsten Tagen besuchen kommen, sie wolle mich sehen, damit sie sicher sei, dass alles in Ordnung ist. Dann würde sie mir auch etwas Geld geben.
Ob ich bis dahin zurechtkäme?
»Sicher«, sagte ich. »Kein Problem.«
Zehn Sekunden blieb es still in der Leitung. »Welches Problem? Leo?«, rief Tante Lisa. »Du warst kurz weg.«
»Kein Problem«, sagte ich laut, klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr und zerbrach den Zweig. »Nur mein Akku!«
»Sag mal, lässt er noch Bananen herumliegen?«, fragte sie.
Es hatte tatsächlich mit Bananen angefangen. Das war das erste, was mich irritiert hatte. Mein Vater ließ eine Zeit lang überall in unserer Wohnung Bananen herumliegen. Keine Äpfel oder Kiwis oder Melonen oder weiß der Geier. Ausschließlich Bananen. Zur Hälfte geschält, ein-, zweimal abgebissen und irgendwo hingelegt. Aufs Schuhregal oder neben den Fernseher, oder auf den Waschbeckenrand. Aber das hatte so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte.
»Nein, keine Bananen zurzeit«, sagte ich.
»Gut, dann sehen wir uns.« Tante Lisa summte zwischen den Sätzen. Das tat sie, wenn sie nervös war. »Hörst du? Safe the date.«
»Safe the date?« Ich hob die Augenbrauen.
»Das sagt ihr doch heutzutage?«
»Nope«, sagte ich.
»Na gut. Ich verlasse mich auf dich.«
»Geht klar«, sagte ich und blickte eine Weile auf das helle Display des Telefons. Danach brauchten meine Augen einige Sekunden, bis sich die Umrisse der Bäume wieder gegen den Nachthimmel abzeichneten. Ich wählte erneut den Notruf.
»Ja?«, sagte Noras Stimme.
»Ich nochmal. Meinem Vater geht es gut. Er … ist bei meiner Tante.«
»Alles klaro«, sagte Nora. »Was wirst du jetzt machen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Solltest du nicht lieber nach Hause gehen?« Sie klang besorgt. »Das ist doch sicher gruselig, nachts allein im Park?«
»Bisher nicht«, antwortete ich und sah mich um. Die Äste der Bäume, die meisten waren kahl,...