Wackwitz | Tokyo | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Wackwitz Tokyo

Beim Näherkommen durch die Straßen
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400801-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Beim Näherkommen durch die Straßen

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-10-400801-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit wachem Blick für die sinnlichen Details und einem Ohr für das Echo des Vergangenen durchstreift Stephan Wackwitz eine der faszinierendsten Städte der Welt. Fern davon, Östliches gegen Westliches auszuspielen, verdichten sich seine feinen Beobachtungen zu poetischen Bildern, die die Irritation des Blicks als ein Abenteuer des Verstehens erzählen - ein Flaneur in der Tradition der großen Essayisten der 30er Jahre.

Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016
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Erinnerungen an die Zeit der Weltherrschaft


Nachts gehe ich mit meiner Frau in Tokyo spazieren. Ich versuche mir zu merken, was ich gesehen habe.

Gestern waren es die Böschungsmauern der schmalen Alleen, die durch den Aoyama-Zentralfriedhof von Tokyo führen. Gräber waren mit gusseisernen Zäunen eingegrenzt. Durch die Bäume war in der Ferne ein Horizont aus Leuchtreklamen sichtbar. Von einer Brücke aus ging der Blick in ein Tal. Die Dunkelheit war angefüllt mit sich ruckartig bewegenden Bremslichtern zwischen Holzhütten.

Ein Geschäftshaus aus Beton und Edelstahl ein paar Straßen weiter war tonnenrund. Im gekrümmten Schaufenster schienen Deckenlampen auf das honigfarbene Fußbodenholz. In ihrem weich abgegrenzten Schein lagen Kostüme und Pullover bereit, als seien sie schon lange in Gebrauch und würden von Butlern gepflegt. Als wohne hier ihr Besitzer.

Wir kamen auf eine Hauptstraße. Der Beton schien sich zu bewegen unter den Leuchtbildern, die über ihn hin zuckten und krabbelten. Ein vertikales Labyrinth stand zu beiden Seiten der Straße. Fahles rosagelbes Licht herrschte. Warmer Wind riss an den Kostümen der Frauen. An einem fünfzig Meter hohen marmorweißen Hausblock wirkten Balkons wie in eine Ecke hineingeschnitten. Sie führten aufs Verkehrsgetobe hinaus. Auf dem Dach war aus weißen und eisblauen Neonröhren eine stilisierte Stadt über der Stadt aufgestellt, deren zehn Meter hohes System sich, einmal in der weißen, dann in der blauen Version, jeweils einige Momente lang aufbaute und wieder erlosch. In einer Holzhütte daneben gab es einen altmodischen Frisiersalon. Die Stadt war ein in seinen Varianten untergegangener Text.

***

Die Schönheit europäischer Städte seit der Renaissance offenbart sich von privilegierten Zentralpunkten aus. In manchen gemalten Stadtlandschaften jener Zeit liegt eine Leere über den Straßen, Durchblicken, Palästen und Alleen, als seien sie vor der Erschaffung des Menschen gesehen. Der Beschauer wird im Linienkorridor der Zentralperspektive zum Alleinherrscher. Hinter seinem Kopf ist das Auge Gottes erschienen. Die Welt besteht aus leeren, baumbestandenen Straßen, deren Parallelen weit von hier, vielleicht in der Zukunft, in einen Punkt zusammenlaufen werden.

Von diesem Punkt, als liege er wirklich im Unendlichen, geht eine utopische Strahlung aus. Um dieser Strahlung willen spielen die weit ins Land hineinlaufenden Straßen-, Baumreihen- und Gebäudeachsen in der europäischen Stadtplanung eine so große Rolle, die Rolle des Absoluten. Diese Achsen, von denen jeder Machthaber eine angelegt haben will (Hitlers Berliner Nord-Süd-Achse, die Ischtarstraße in Babylon), symbolisieren, dass die Welt durchschaubar ist und dass sie beherrscht werden kann. Auf ihnen zieht die Macht in die Welt, aber auch der Sinn vom Himmel ins Irdische ein. In Tokyo, das war unser Eindruck von Anfang an, haben Macht und Sinn einen anderen Weg gefunden.

***

Als wir erst ein paar Tage hier waren, konnten wir nachts nicht schlafen, bekamen Hunger, zogen uns an und verließen das Haus. Der warme Nachtwind blies. In den Bäumen eines kleinen Parks stand das Grillengeschrei als Schallmauer. Getränkeautomaten leuchteten vor Holzhäusern in schmalen Seitenstraßen, die so dunkel waren, als lägen sie in einem Dorf. Wir tranken im Gehen schwachrosa gefärbte Pfirsichlimonade aus einer Dose. Arbeiter mit weißen Handschuhen und rotleuchtenden Signalstäben sperrten eine Lichtinsel am Straßenrand ab, wo im Schein starker Lampen gebaggert wurde. Die Stadt war ein Song von Prince, in dem die wie jeweils gesondert poliert wirkenden Details wunderschön waren, während Stimme, Melodie, Ausdruck nur parodistisch auftraten.

In einer kleinen Garküche am sechsspurigen Aoyama Dori-Boulevard (er wurde hier von zwei leeren Fußgängerbrücken auf Stahlstelzen gekreuzt) aßen wir eine Schale Nudelsuppe. Es war halb drei Uhr nachts. Auf unserem Rückweg stießen wir auf den Eingang zu einer Allee. Sie ging schnurgerade und übergangslos von der Stadtautobahn ab. Die Kronen von Ginkgobäumen bildeten einen Laubengang, in dem der Nachtwind rauschte. In den zentrumslosen Straßen kam es mir, übermüdet und von dem eben bestandenen Ess-Abenteuer aufgekratzt, vor, als habe sich die gepflegte Baumparallele (Natur und Planung waren als Zivilisation ineinander aufgegangen) inmitten eines dichten Waldes eröffnet, wo sie unvermittelt begann und im Nichts endete. Das Grillengekreisch war ein kompakter Dauerton.

Am nächsten Tag (es war ein Samstag) kehrten wir dorthin zurück. Uniformierte Schulmädchen saßen im Schatten und aßen ihre Vesperbrote. Hinter Hecken wurde in der Mittagssonne Tennis gespielt. Im Fluchtpunkt der Allee war jetzt ein Kuppelgebäude erschienen, das hinter Fontäne, Wasserbecken und Fahnenstange einen der Stadt fremden Gedanken formulierte. Wir betraten die Formen einer Zentralitätsrhetorik, die andernorts in Tokyo nicht zu vernehmen ist. Ihr Hauptargument, jener Kuppelbau, sah beim Näherkommen aus wie eine Befestigung, in der sich Tote verteidigen. Der Portalturm mit den drei Rundbögen war so hoch, dass die Kuppel nicht mehr sichtbar war, als wir schließlich vor der Sandsteinfreitreppe standen und die Köpfe in den Nacken legten. Zwei fensterlose Flügel erstreckten sich zuseiten des Zentralbaus, geschmückt mit Ornamenten in monumentalisierendem Art deco, putzig und überdimensioniert zugleich, als seien es Riesinnenbroschen aus den zwanziger Jahren oder an der Mauer festgebackene Versteinerungen zehn Meter großer Schaben.

***

Die »Meiji Memorial Picture Gallery«, in deren düsterem Kuppelgebäude wir nun verschwanden (in einem hölzernen Häuschen in der Vorhalle verbeugte sich die Kartenverkäuferin, eine ältere Frau, im Sitzen vor uns) ist eine Art Kultstätte (»Museum« wäre nicht treffend) für Historiengemälde aus der Geschichte des ersten Meiji-Kaisers, unter dessen Herrschaft entschlossene Politiker mit einer strategisch geplanten Reformanstrengung innerhalb weniger Jahrzehnte in Japan die Moderne eingeführt haben.

Hirobumi Ito, Vorsitzender des Geheimen Staatsrates und einer der wichtigen Reformintellektuellen der Meiji-Zeit, sagte 1888 auf der Eröffnungssitzung der Beratungen über den Reichsverfassungsentwurf: »In Europa findet sich in diesem Jahrhundert kein Land mehr, das kein konstitutionelles Regierungssystem hätte. Aber dieses System hat sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet, und seine Wurzeln liegen in allen Fällen in der fernen Vergangenheit. In unserem Lande ist es dagegen eine völlig neue Erscheinung. Deshalb müssen wir vor der Abfassung der Verfassung zunächst nach der Achse unseres Landes fragen und festlegen, was diese Achse bilden soll. Wenn man ohne eine solche Achse die Politik dem willkürlichen Räsonnement des Volkes überlässt, verliert das Regieren seine Ordnung und der Staat geht in der Folge zugrunde. Das Einzige, was in unserem Lande eine Achse bilden kann, ist das Kaiserhaus. Wir haben deshalb in diesem Verfassungsentwurf diesem Punkt ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet und uns bemüht, die monarchische Gewalt zu respektieren und möglichst wenig einzuschränken.«

Wir standen dann unter der Kuppel, die wir aus der Entfernung gesehen hatten. Die zwanzig Meter hohe und zehn Meter weite Säule aus Nichts war am Ansatz der Einwölbung mit großen blinden Rundornamenten gesäumt, von denen Marmordraperien herunterhingen. Sie ruhte auf einem spiegelglatt polierten Marmorfußboden, der mit Seilen abgesperrt war. Durch schwere Messingtüren sah man das Grün der Sportfelder. Die Fontäne rauschte. Jogger kreuzten das Blickfeld. Zuseiten der Fahne sprengten zwei Phantasietiere, Pferde mit Drachenköpfen, im Anfangssprung erstarrt, in die Symmetriegegenden hinaus. Kein Besucher außer uns war zu sehen, Der höchste Wert »Zentralität«, den die japanischen Verfassungsväter aus Europa importiert und in dieser Kuppel hatten darstellen lassen, war erkennbar nichts anderes als die Leere.

Nach rechts wies ein Holzschild mit der weißen Aufschrift: »Japanese style pictures«. Die Wände des gewölbten Raums, über dessen Parkett wir jetzt in die Geschichte des ersten Meiji-Kaisers hineinschritten, waren bedeckt von Monumentalgemälden im Stil traditioneller japanischer Goldgrundmalerei. Aufgrund der Fensterlosigkeit des Gebäudes war es, als sähe man durch die Bilder hinaus ins Land. Sehr weit in der Ferne, aber immer deutlich sichtbar, stand, saß, ritt oder schritt auf jedem der Tenno, umgeben von einem Streifen undurchdringlicher Leere. Der Kaiser war auf den Bildern so zentral und so allein wie der rote Punkt im weißen Feld der japanischen Staatsflagge. Sein dickes Gesicht mit den schweren Lippen sah wichtig und traurig aus. Auf jedem der Gemälde war etwas an sich äußerst Belangloses dargestellt (ein Spaziergang im kaiserlichen Park, eine Betriebsbesichtigung, das Verlesen eines Edikts, die Eröffnung einer Staatsratssitzung), das jedoch durch die Anwesenheit des Herrschers und durch die Anwesenheit jener Geisterluft um ihn in unabsehbare Bedeutungsbereiche gerückt wurde.

Die Gestaltung der Leere schien die eigentliche Aufgabe der Gemälde. Auf einem der eindrücklichsten saß der uncharismatische, nur durch den leeren Raum distinguierte Mann schreibend inmitten eines komplizierten Gewirks blühender Kirschzweige, flankiert von sich verbeugenden Dienern. Ein Blumenstrauß in einer graugrünen Vase stand neben ihm. Möwenartige Vögel flogen im Vordergrund, und aufgespritztes Blattgold leuchtete durch die weißen Blüten. Der ausgesparte Raum um die Hauptfigur war schmal, aber so bestimmt hingesetzt, dass er zum Zentrum des...


Wackwitz, Stephan
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹, ›Die Bilder meiner Mutter‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹, ›Fifth Avenue‹ und ›Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan‹.

Literaturpreise:

Wilhelm-Müller-Preis 2010
Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012
Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016

Stephan WackwitzStephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹, ›Die Bilder meiner Mutter‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹, ›Fifth Avenue‹ und ›Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan‹.

Literaturpreise:

Wilhelm-Müller-Preis 2010
Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012
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