Wacker | Stromland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Wacker Stromland

Roman
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8270-7957-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7957-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Iquitos am Amazonas, 1984: Irina ist gemeinsam mit ihrem Freund Hilmar auf der Suche nach ihrem Zwillingsbruder. Thomas war Teil der Filmcrew um Werner Herzog und Klaus Kinski, ist jedoch nach Abschluss der Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo« spurlos verschwunden. Entlang der großen Flüsse reisen die beiden in den Regenwald des Amazonasbeckens und tief hinein in die Abgründe menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte. Auf mehreren Ebenen erzählt »Stromland« von Verschollenen und der Suche nach dem richtigen Leben, nach unberührten Orten und neuen Wahrheiten. Dabei führt der Roman durch drei Jahrhunderte, in denen Auswanderer und Abenteurer ihre Spuren hinterlassen haben, und verknüpft Orte, Personen und Familiengeschichten über die Zeit hinweg zu einem engen Netz, in dem sich alle Figuren verfangen haben.

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Buchveröffentlichungen: Albuquerque (2014), Dahlenberger (2015) und Stromland (2018). Für das Manuskript seines Romans Weiße Finsternis (2021) wurde er vorab mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2023 veröffentlichte er den Krimi Die Spur der Aale, und im April 2024 erschien sein neuer Roman Zebras im Schnee im Berlin Verlag. Florian Wacker lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code. Mehr unter www.florianwacker.de
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1751


Sie kommen von Norden und von Osten, sie kommen von den Küsten Venezuelas und aus den weiten Ebenen Perus. Auf den großen Strömen folgen sie denjenigen, die vor ihnen diesen Weg gegangen sind: Orellana, Pizarro, Belalcázar, Federmann. Sie sind ihnen dicht auf den Fersen, mit denselben aufgerissenen Augen, denselben schmalen, erschöpften Gesichtern, schwitzend, zerstochen, halb irr vom Scharren und Glucksen des ewigen Urwalds und den Gedanken an das eine: Gold. Die glänzenden Dächer und Straßen einer tief im Wald verborgenen Stadt, in der sich ein König jeden Abend mit Goldstaub bestreichen lässt und auf einer Sänfte hinunter zum Ufer der Lagune getragen wird, wo er ins Wasser taucht und den Sonnenuntergang golden färbt. Sie werden die Bilder nicht mehr los, sie sind ihnen ausgeliefert, hetzen ihnen nach: plötzliches Geschrei, einer will was gesehen haben, sie stolpern übereinander, hintereinander, einer hat etwas im Dickicht gesehen: Verdammt, lasst mich durch, ihr Idioten, los jetzt! Und alle hinterher, das Biest schlägt Haken, aber sie kreisen es ein, einer rammt ihm die Hellebarde in die Seite, versucht es zu halten, ein Zweiter feuert seinen Bolzen ab, sie johlen, öffnen den Bauch des Capybaras und stehen schweigend um die dampfenden Gedärme.

Sie segeln in ihren Brigantinen den Magdalenenstrom hinab, sie kommen über die Gebirge von Lima, ankern vor Belém do Pará im Delta des mächtigen Amazonas und warten auf besseres Wetter. Sie folgen dem stürzenden Wasser, es bahnt sich seinen Weg von den Höhen hinab in die Senken, es tobt krachend um die Felsen, der Nebel bleibt an den Bergrücken hängen, das Tal öffnet sich: ein schier unendlicher Teppich, grün gefleckt, struppig und schreiend. Sie rasten auf den Sandbänken, an den Lagunen, wo es Fisch im Überfluss gibt. Sie tragen Dokumente bei sich, die ihnen die Inbesitznahme des Landes erlauben. Sie stammen aus der Mancha, aus Hessen, der Provence, aus Utrecht und Lisboa, sie halten irgendeine Flagge, schwören demjenigen die Treue, der am lautesten mit Münzen klimpert, sie sehen das Potenzial: neues Land, Minen, Häfen, unerlöste Seelen.

Es sind Jesuiten, schwarzgekleidete, ernste Männer, sie heißen Fritz, Las Casas, Baucke, Sommervogel, sie stammen aus Böhmen, aus Sevilla, aus Schlesien und dem Hessischen. Sie kommen durch die Steppen und Wüsten, durch das Hochland von Puna. Sie reisen in kleinen Gruppen, manchmal schließen sie sich den Expeditionen an, manchmal besteigen sie alleine ein Kanu und lassen sich durch die Stromschnellen tragen. Sie führen keine Waffen mit sich, tragen einfache Gewänder, und wenn sie die Einsamkeit überkommt, spielen sie Flöte oder singen die heiligen Lieder. Sie errichten primitive Altäre, dort stehen sie und sprechen in den Urwald hinein, die Verse ihres großen Buches. Dann ziehen sie weiter in die Dörfer und Siedlungen, sie sagen: Wir sind einfache Männer, lehrt uns, und wir lehren euch, und was sie tun, findet Anklang: Sie legen Felder an, Wassergräben, zahlreiche Schafe, Rinder und Ziegen weiden auf den Grasflächen und Lichtungen, sie singen zusammen, sie schmücken die kleine Kapelle und ziehen in einer fröhlichen Prozession durchs Dorf hinunter an den Fluss; es gibt für alle zu essen, jede Familie hat ihr Stück Land, sie sagen: Ihr seid Seine Kinder, und Er liebt seine Kinder, ihr müsst zu Ihm sprechen. Sie sagen: Er ist euer Vater. Aber die Indianer antworten: Wir haben Vater und Mutter schon, sie heißen Jaguar und Schlange. Die Schwarzröcke werden nicht wütend, sie lächeln milde und nicken, sie wissen, alles hat seine Zeit, und ihre Zeit wird kommen, sie sagen: Ihr seid jetzt Bürger Spaniens, wir werden euch beschützen. Sie ziehen weiter umher auf der Suche nach unentdeckten Siedlungen, denn das Licht muss weitergetragen werden in den Dämmer des Urwalds, kommt zu uns, bei uns seid ihr sicher vor den Bluthunden und Peitschen der Bandeirantes. Und die Indianer kommen aus dem Dickicht des Waldes, Männer, Frauen, Kinder. Die Schwarzröcke weinen vor Freude, einige werden krank und sterben schnell, andere vertreiben die alten Schamanen und treten an ihre Stelle.

Es sind einfache Männer, Conquistadores, sie sind zwölf, sie heißen Andreas, Sebastián, Nikolaus, Gaetano, Battista, ihr Hauptmann ist ein Hochaufgeschossener aus dem Hunsrück, Johann Wilhelmi. Zu Beginn hatten sie Pferde, jetzt haben sie nur noch ihre Füße und die Augen der Yurimagua. Vor zwei Wochen waren sie noch fünfzehn. Johann Wilhelmi lässt auch den Jungen beerdigen, am Rand einer schmalen Lagune, wo der Boden locker ist und sie schnell ein klaftertiefes Loch ausgehoben haben. Sie wickeln den bleichen Körper in ein Leinentuch, schlaff hängen seine Arme herunter, als sie ihn anheben und langsam in die Grube senken, seine dunklen Augen starren hinüber in die andere Welt. Johann spricht das Gebet, die Männer kratzen sich, sie haben Hunger, aber Johann besteht auf das Gebet, reißt euch zusammen, Jungs, Scheiße noch mal, ihr selbst könntet da liegen. Und sie reißen sich zusammen, sie pulen sich den Dreck unter den Nägeln hervor, während Johann spricht, irgendwas zu fressen wird’s heute wohl noch geben. Der Junge war keine achtzehn, sah schon beim Aufbruch krank aus, ein blasses Bürschchen, aber ein Maul wie ein Riese; nach nur sieben Tagen Marsch hat ihn das Fieber von den Beinen geholt, keine Chance, so einer macht es hier nicht lang. Sie schlagen hastig das Kreuz vor der Brust, sie tun es nicht für den Jungen, jeder tut es für sich selbst: Heilige Maria, Mutter Gottes, befreie mich aus diesem Drecksloch, mach, dass das Brennen beim Pissen aufhört, ihr Heiligen, lasst uns endlich was Brauchbares finden, goldene Straßen und Dächer, spielende Kinder mit Ketten, Mädchen mit langen Ohrringen. Sie sammeln ihre Sachen zusammen, stehen eine Weile schweigend und tropfend unter den Bäumen und sehen hinaus auf das graue Wasser der Lagune.

Sie sind immer hungrig, immer wollen sich ihre Augen an etwas sattsehen, wollen ihre Hände in etwas hineingreifen. Altes Brot kennen wir, sie sagen: Es muss leuchten, es muss mehr sein, als die Könige von Kastilien und Aragonien sich je erträumen können, und dann starren sie den Kolibris und Faltern hinterher. Vor einer Woche ist ihnen das letzte Pferd ersoffen, der Reiter fast mit. So eine verdammte Scheiße, Johann tobt: Ihr Idioten, lernt schwimmen und prügelt nicht auf die Tiere ein, denjenigen, den ich das nächste Mal dabei erwische, hacke ich in Stücke. Er ist ihr Hauptmann, sie senken die Köpfe, kratzen sich die Stiche wieder und wieder blutig, von Kratern übersäte Arme und Beine. Johann ruft zum Aufbruch, und hintereinander trotten sie weiter, der Boden ist aufgeweicht, schlammig, der Urwald glänzt und schmatzt, schon seit Tagen keine Spur mehr von den Nacktärschen. Die Yurimagua erzählen, dass die Waldleute sich auf die hohen Bäume zurückziehen, wenn das Wasser kommt, manchmal verhungern sie dort oben, sie schlafen viel, kauen Pflanzenstängel, schnupfen die letzten Reste vom Curubá.

Seit Tagen keine Spur mehr, sie gehen im Kreis, ein Baum gleicht dem anderen, an diesem Fluss waren sie doch bereits, es muss aber ein anderer sein, vielleicht ein Nebenfluss. Dann schließt sie das Wasser ein. Sie können nur zurück, aber zurück können sie nicht. Ich hock mich auf keinen Baum, sagt Andreas, ich auch nicht, sagt Gaetano, also bauen wir ein Floß. Und sie zerren gefallene Stämme aus dem Unterholz, fällen junge Palmen, binden alles mit Lianenfasern und Seilen zusammen. Wohin mit den Pferden? Sie brechen in Gelächter aus und schieben sich wiehernd Stöcke zwischen die Beine, wohin mit den Hunden?, sagen sie und kläffen und jaulen an den Bäumen hinauf. Über Nacht steigt das Wasser weiter, es überspült ihre Feuerstelle, fluchend und durchnässt ziehen sie sich tiefer in den Wald zurück. Am anderen Morgen schieben sie das Floß ins Wasser, der Urwald ist dicht, immer zwei müssen durch das Wasser waten und schieben, während vorne mit der Machete gearbeitet wird gegen die Schlingpflanzen. So geht es langsam vorwärts. Sie fangen kleine Fische, aber es reicht kaum. Johann hockt grübelnd auf dem Floß, umkehren oder weiter hinaus, bei dem Regen quillt uns der Schlamm bald aus den Ohren, er krault seinen nassen Bart, er massiert sich die Wangen. Der Fluss wird breiter, lichter, die Sonne ist hinter dünnen Wolken, das Wasser dampft, als würde es kochen. Und dann sieht er das Zeichen: ein über dem Wasser schwebender Schwarm weißer Falter, der im Licht glänzt wie Goldstaub. Johann sieht das Zeichen und befiehlt, die Sandbank anzufahren, der am Bug mit der Machete schreit: Da liegt einer, ein Toter, da liegt einer. Und sie sehen: Da liegt einer, und über ihm schweben die goldenen Falter.

Die Männer stehen um ihn. Ist er tot? Der ist hinüber, was tut er hier draußen? Ein Priester, sagt Johann, ein Schwarzrock. Sie sehen, seine Kleidung ist zerrissen, an seinem Hinterkopf klafft eine Wunde, das Blut ist bereits getrocknet; er scheint geschrumpft zu sein, als habe etwas das Blut aus seinem Körper gesogen. Sie sehen, an den Füßen fressen schon die Ameisen. Wir müssen ihn begraben. Als er zu stöhnen beginnt, fahren die Männer zurück, bekreuzigen sich: Der lebt ja noch, heilige Scheiße, der ist am Leben! Und sie drehen ihn um und sehen in ein aufgequollenes Gesicht. Ist das noch ein Mensch? Er stöhnt, er flüstert. Johann beugt sich zu ihm, nimmt seinen Kopf: Ich bin ihr König, ihr König, hört er den Pfaffen sagen. Johann nickt, er richtet den Blick an seine Männer. Seht euch um, in der Nähe muss die Siedlung sein. Und die Männer sehen sich um, schon bald kommen sie zurück: Si, capitán. Zwei fassen den Pfaffen unter den Armen, dann folgen sie einem schmalen Pfad hinein in den Urwald, auf eine...


Wacker, Florian
Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband »Albuquerque« (2014), der Jugendroman »Dahlenberger« (2015) und der Roman »Stromland« (2018). Zuletzt wurde er mit dem Limburg-Preis (2015), dem Mannheimer Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur (2017) und dem Harder Literatur-Förderpreis (2018) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.



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