Wachter | Am Ende bin ich | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten

Reihe: Prosathek

Wachter Am Ende bin ich

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25551-0
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten

Reihe: Prosathek

ISBN: 978-3-641-25551-0
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Ich stellte mir vor, wie viele Menschen sich gerade in dieser Stadt befanden – die gehalten und geliebt werden wollten. Wer war ich, dass ich mich von einer Person so quälen ließ?“

Seine Liebe zu Aurora und der Kummer, der damit seinen Anfang nimmt, ist für Luca unerträglich. Er tröstet sich mit unzähligen neuen Bekanntschaften und lernt dabei Frauen und Männer kennen, die allerdings die Sehnsucht nach Aurora eher noch verstärken. Er genießt die Aufmerksamkeit und Zuneigung all dieser Menschen, denen er begegnet und verletzt sie mit seiner Zurückweisung. Im Laufe dieser Erfahrungen kommt er sich jedoch selbst immer näher. Schließlich weiß er, was Glück für ihn bedeutet.
Wachter Am Ende bin ich jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Aurora

13

Die Stewardess reichte mir eine Decke. Ich mummelte mich darin ein. In der Luft erdrückte mich das Gewicht auf meiner Brust weniger. Das erste Mal allein in einem fremden Land, weit weg von zu Hause. Ich versuchte, mir diese Tatsache zu vergegenwärtigen, das Gefühl von Autonomie zu genießen, das es mir gab.

Über meine Kopfhörer drangen die ersten Takte von Jason Mraz’ I won’t give up in meine Ohren und – mit nur einem Streichen der Gitarrenseiten – legte sich der Stein mit alter Schwere auf meine Brust. I won’t give up on us, even if the skies get rough. I’m giving you all my love. Ich verfluchte den Erfinder der Shuffle-Funktion und mich dafür, diese Playlist eingeschaltet zu haben.

Das Meer bedeckte noch den gesamten Horizont, als ich das Fahrwerk ausfahren hörte. In letzter Sekunde tauchte der Boden unter uns auf. Hitze und Palmen begrüßten mich auf meinen ersten Schritten aus dem Flughafen. Ich fühlte, wie die Wärme meinen Körper durchströmte. »Wohin«, fragte mich der Taxifahrer. »Carrer de Pallas, Barcelona«, antwortete ich. Auf der Fahrt in die Innenstadt prasselten Eindrücke auf mich ein: Wilde Farbkontraste trafen auf naturalistische Architektur, hektisches Verkehrstreiben auf temperamentvolle Autofahrer. Und ich mittendrin. Das hätte dir gefallen, Aurora. Aber du wolltest ja nicht.

Das Taxometer zeigte 20,10 Euro an, als wir die Carrer de Pallas erreichten. Mit einer legeren Bewegung des Taxifahrers sprang der Preis auf 32,10 Euro. »Was?«, fragte ich verwirrt. »Äh … Qué?«, wiederholte ich. Der Taxifahrer kratzte sich an der Stirn und fuchtelte mit den Armen, sagte aber sonst kein Wort. Ich bezahlte ohne Trinkgeld.

Mein Zimmer lag im fünften Stock und besaß neben einem großen Bett sogar eine Couch und einen Balkon. Ich lehnte mich gegen die wackelige Brüstung und fragte mich, wie gut deren Schrauben wohl verankert waren. Verwenden Spanier die gleichen Dübel wie die Deutschen? Normalerweise hielt ich mich von maroden Brüstungen fern – jetzt dachte ich mir: Wenn Gott es will, dann sterbe ich eben so.

Eine erste Reisemüdigkeit überkam mich. Ich legte mich auf die voluminösen Decken des Bettes. Mein Kopf versank in den Daunen, und ich versuchte zu schlafen – ein Bild von Aurora tauchte hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Verdammt. Ich schob die Decke von mir weg, zog das Kissen unter meinen Kopf, legte mich auf die Seite. Nichts half gegen dieses furchtbare Gefühl, diese Atemnot, die mich rastlos machte.

Ich kramte nach meinem iPhone und öffnete die Tinder, ließ auch Männer in meinen Vorschlägen aufscheinen. Mal sehen, was Barcelona so zu bieten hatte. Zunächst antwortete ich den Leuten, die mir bereits geschrieben hatten, dann wischte ich mich durch die Bilderflut. Ich verglich jede Frau mit Aurora. Die meisten wischte ich nach links, sie alle kamen nicht annähernd an sie heran. Für einen Moment blieb mir das Herz stehen, als ein Mädchen mit demselben Kussmund wie sie in die Kamera lächelte. Die wischte ich natürlich nach rechts. Bei den Jungs war ich weniger wählerisch. Guter Body, halbwegs attraktives Lächeln: Warum nicht? Zwei Mädchen schrieben mir. Auf den zweiten Blick waren beide relativ uninteressant – ich löste die Verknüpfungen auf, anstatt zu antworten. Dann schrieb ich weitere an und legte das Handy weg, als niemand von ihnen sich sofort meldete.

Obwohl mir die Augen zufielen, fand ich keine Ruhe. Ich stand auf. Der Rezeptionist markierte mir Tourist Hotspots auf einem Stadtplan. Da es bereits dämmerte, entschied ich mich, die Gegend um den Plaça de Catalunya auszukundschaften. Während ich die Baumallee der Las Ramblas entlangschlenderte, beobachtete ich die Menschen um mich herum. Familien mit Kindern, denen spanische Verkäufer Propellerspielzeuge andrehten. Dunkelhäutige Riesen, die einem exklusive Einladungen zu Rooftop-Partys oder Marihuana anboten – und natürlich die allgegenwärtigen verliebten Pärchen, die händchenhaltend im Gleichschritt die Straße hinunterspazierten, sich ständig küssten und zärtlich aneinanderschmiegten. Nicht zum Aushalten! Ich verlor mich in einer der Nebenstraßen, stieß auf einen Delikatessenmarkt. In den Auslagen befanden sich mir unbekannte Lebensmittel, von denen ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie pflanzlichen oder tierischen Ursprungs waren. Aus einem korallenähnlichen Ding tropfte auf den zweiten Blick verdächtig viel rote Flüssigkeit heraus, und ein Schwamm schrumpfte auf die halbe Größe zusammen, als die Verkäuferin ihn versehentlich berührte. Ich ging weiter.

Labyrinthartige Gassen lenkten meine Schritte immer weiter weg von dem geschäftigen Treiben. Ich hatte von der hohen Kriminalitätsrate in Barcelona gehört und stellte mir vor, dass solche Gassen ideal dafür geeignet waren, Touristen wie mich auszurauben. Doch auch das störte mich gerade nicht. Irgendwie reizte mich der Gedanke sogar. Sollte man mich doch ausrauben und verprügeln. Körperlicher Schmerz im Tausch gegen seelischen – diesen Handel würde ich sofort eingehen. Vielleicht würden mich die Straßenräuber sogar erschießen. Wäre auch nicht schlimm. Plötzlich erschreckte mich der Gedanke. Natürlich wäre das schlimm, sagte ich mir und beschleunigte meine Schritte.

Sie trugen mich zur Plaça Reial. Ich wollte unbedingt eine traditionelle Paella essen und suchte mir ein Restaurant aus, das auf spanische Küche spezialisiert war. Der Kellner teilte mir mit, dass eine Paella erst ab zwei Personen zu bestellen war. Das soll wohl ein Scherz sein! Ich stand auf und ging. Auf dem Weg zurück zur U-Bahn fand ich einen kleinen Dönerladen. Ein Teenager äffte mich nach, als ich »no tomatos« zu dem Verkäufer sagte.

Im Bett öffnete ich wieder meine Dating-App. Einige Nachrichten waren eingegangen. Ich legte das iPhone weg, ohne etwas davon durchzulesen. Meinen ersten Tag in Barcelona wollte ich mit den Eindrücken der Stadt vor Augen beenden und nicht mit Duckfaces und nackten Oberkörpern. Doch als ich die Augen schloss, geisterte Aurora wieder vor meiner Netzhaut. Ich griff zum iPhone, schrieb mit Amelia, Carla und Josh, bis ich einschlief.

Mein Wecker klingelte um zehn Uhr. Ich blieb bis zwölf im Bett liegen, chattete mit weiteren Personen. Ein dunkelhäutiger Marokkaner wohnte im selben Hotel wie ich. Er wollte bei mir im Hotelzimmer vorbeikommen. Mein Adrenalinpegel stieg. Wollte ich wirklich mit dem Kerl schlafen? Ist er überhaupt mein Typ? Auf einen zweiten Patrick verzichtete ich dankend. Ich schrieb ihm, dass ich einen Termin hätte, aber wir uns gerne am Abend treffen könnten. Er mochte die Idee – schlug aber dennoch vor, kurz vorbeizukommen, um zu sehen, ob die Chemie stimmte. Ich sprang aus dem Bett und unter die Dusche, bevor ich ihm mein Einverständnis schrieb. Es klopfte, als ich mir gerade die Haare trocken rubbelte. Pockennarben grinsten mir auf dem Gesicht des Marokkaners entgegen, seine breiten Oberarme spannten sein Shirt. »Hi, you’re handsome!«, sagte er, und ich erwiderte das Kompliment, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es stimmte. Ich bat ihn hereinzukommen. Er griff mir in den Schritt und begann meinen Penis durch die Hose zu massieren. »Take it off!« Ich zog die Hose aus, und er begutachtete mich. »I like it. I like you.« »Thank you«, war das Einzige, das mir über die Lippen kam. »I think it will work. Looking forward to this evening.« Dann ging er.

Die Sonne knallte mir auf den Nacken, als ich die Stufen des Montjuïc bestieg. Mein Rucksack klebte an meinem Rücken, als ich das Gipfelkreuz erreichte. Ich versuchte, ein Selfie zu machen, ohne dass andere Touristen im Bild waren. Ich setzte mich auf den Sockel des Kreuzes, ließ den Ausblick auf mich wirken. Im Endeffekt saß ich bis zum Sonnenuntergang auf dem Berg und beobachtete das gigantische Wimmelbild zu meinen Füßen. Ich stellte mir vor, wie viele Menschen sich gerade in dieser Stadt befanden – die gehalten und geliebt werden wollten. Wer war ich, dass ich mich von einer Person so quälen ließ?

Als ich bei meinem Abstieg wieder in die gestaute Hitze der Stadt eintauchte, waren meine Beine erschöpft, aber meine Seele fühlte sich lebendig und zum ersten Mal wieder hoffnungsvoll. Obwohl der Montjuïc mir blutige Blasen als Abschiedsgeschenk mitgegeben hatte, stattete ich dem Restaurant vom Vortag auf dem Plaça Reial erneut einen Besuch ab. Derselbe Kellner begrüßte mich und lachte, als ich eine Meeresfrüchte-Paella für zwei Personen bestellte. »Sólo para usted?«, fragte er mich. Womöglich war es Einbildung, aber die Paella schmeckte besser als jede Mahlzeit, die ich in den letzten Wochen gegessen hatte. Den Rest ließ ich mir einpacken.

Im Hotelzimmer ließ ich mir eine Badewanne ein. Das heiße Wasser war eine Wohltat. Für einen kurzen Moment, dachte ich daran, dem Marokkaner Bescheid zu geben, dass ich wieder im Hotel war. Ich entschied mich dagegen: Heute Abend war es für mich in Ordnung, alleine zu sein. Sobald mein Kopf das Kissen berührte, schlief ich ein. Mein Handy hatte ich nicht aus meiner Hosentasche genommen.

Am dritten Tag zog es mich zum Meer. Auf dem Weg dahin spazierte ich die Calle des Arc du Triomf hinunter. Heute mit bequemeren Schuhen und Blasenpflastern ausgestattet. Der rote Triumphbogen ragte imposant in den Himmel. Eine kleine Gruppe Deutscher unterhielt sich in Hörweite, gerade als ich ein Foto von dem Bogen machen wollte. Dem dürftigen Bartwuchs der Männer nach zu schließen waren sie in meinem Alter. Aus ihrer Unterhaltung schloss ich, dass sie ursprünglich nicht als...


Wachter, Alexander
Alexander Wachter wurde 1994 in Feldkirch geboren. Der facettenreiche Österreicher arbeitete bereits als Steinmetz, Pfleger, Bibliothekar, Kellner, Redakteur und Social-Media Manager. Seit 2014 studiert er Englische Literatur und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wozu ihn ein einjähriges High School Jahr in New York inspirierte. Seine Kurzgeschichten und Gedichte wurden in u.a. in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Er las und moderierte bereits auf Bühnen in Bayern und Österreich. Seit 2019 ist er Stipendiat des Max Weber-Programms des Freistaats Bayern.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.