E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: dtv
Voß So sieht es also aus, wenn ein Glühwürmchen stirbt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-423-43526-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: dtv
ISBN: 978-3-423-43526-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maike Voß lebt in Hamburg, ihre Herzensstadt ist London. Wenn sie nicht an neuen Romanen schreibt, steckt ihre Nase in einem. Ihre Reisen durch Städte und Bücher teilt sie über Instagram (maikevoss_). Die Autorin steht für Veranstaltungen zur Verfügung.
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1
Sie
Es ist Ende Februar. Langsam, oder besser endlich, wird es kalt, darauf habe ich schon seit November gewartet. Aber ich friere nicht, habe meinen Mantel zugeknöpft und meinen Schal um den Hals geschlungen, eine Hand in der Manteltasche, die andere in seiner. Seine Finger sind mit meinen verschlungen, ganz so, als wären sie es jeden Abend. Es ist spät und die Straßenlaternen leuchten.
»Hat es dir gefallen?«, fragt er, seine Stimme eine ganz leichte Spur rau, sodass man es nur hört, wenn man darauf achtet, und sein Atem riecht nach Rauch von den gelegentlichen Zigaretten.
»Ja, es war wirklich … toll«, sage ich.
Nicht die beste Wortkombination, keine Antwort auf die ich stolz sein kann, aber er nimmt es mir nicht übel.
Er liebt mich, so einfach ist das. Deswegen übersieht er auch, dass ich nicht mehr alleine bin, sondern mich der Alkohol begleitet, der sich schon lange mit meinem Blut vermischt hat. Daher achte ich im Moment eher auf meine Füße als auf meine Artikulation.
Ich glaube nicht, dass er es überhaupt mitbekommen hat, wie ich mir an der Bar des Docks ein Glas Wein – oder waren es zwei? – genehmigt habe, als er sich nach dem Konzert entschuldigte, um das Männerklo aufzusuchen. Der Barkeeper – Tunnel, Tattoos, so ein richtiger Barkeeper eben – hat nicht einmal ’ne Augenbraue hochgezogen, als ich die Gläser hinunterstürzte und dann wortlos einen 20-Euro-Schein auf den Tresen legte. Hier in Hamburg ist das nicht ungewöhnlich. Hier nicht. Zeit ist Geld, jedes nette Wort Verschwendung, oder es wird fälschlicherweise als Flirt bezeichnet. Ganz nach dem Motto: Warum sollte ich nett zu dir sein, wenn ich nicht mit dir ins Bett will? Es geht nur darum, oder nicht? Aber gleichzeitig lesen wir Bücher von Nicholas Sparks und wollen das, was haben.
»Obwohl ich mich kaum auf die Band konzentrieren konnte«, sagt er und ich komme aus meinen Gedanken heraus und sehe wieder meine Füße.
»Wieso? Wir standen doch ganz vorne.« Ich merke, wie der Druck seiner Finger ein bisschen stärker wird, und obwohl ich weiß, was er damit bewirken will, muss ich lächeln.
Es müssten nur noch ein paar Minuten bis zu ihm sein, genau weiß ich es aber nicht. Obwohl ich in Hamburg geboren und aufgewachsen bin, habe ich keinen Orientierungssinn und schaffe es eher mit Beschreibungen von Häusern, Bäumen und Brücken, den Weg zu finden, statt anhand von Straßennamen. Wir sind mit der U2 bis zur Station Rauhes Haus gefahren und jetzt Richtung Tierheim unterwegs. Gerade gehen wir über irgendeine Brücke auf die andere Seite eines Flusses, dessen Namen ich nicht kenne. Weit kann es nicht mehr sein.
Er bleibt stehen. Es ist romantisch, mitten auf der Brücke, allein, der ausnahmsweise klare Himmel mit den leuchtenden Sternen über uns, und er steht vor mir und schaut mich an. Er will mir mit seinem Blick sagen, um was es ihm geht, dass er mich liebt und dass ich es ihm doch endlich glauben soll. Dass ich ihm vertrauen kann.
Ich liebe, was er in mir auslöst, dass er mich für ein paar Minuten vergessen lässt, wer ich bin, wo ich bin und dass morgen ein neuer Tag anbricht, und das bedeutet, dass der heutige enden wird. Er lenkt mich davon ab, dass ich eigentlich gar nicht hier sein will.
Romantisch wie er ist, streicht er mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und lässt seine Hand auf meiner Wange liegen. Die andere legt er ebenfalls auf mein Gesicht. Ich kann nicht anders, als ihn anzusehen.
Schon im Docks, als wir der Musik von Kodaline lauschten und dazu tanzten, hat er mich immer wieder berührt, scheinbar zufällig, doch ich weiß, dass das nicht stimmt, dafür streifte seine Hand meinen Hintern eindeutig zu oft. Aber es stört mich nicht. Warum beschweren sich Frauen, wenn ihre Typen ihnen erklären, dass sie geliebt werden, weil sie hübsch sind? Wäre es ihnen umgekehrt lieber? Noch öfter flüsterte er mir etwas zu: Und auch ich konnte mich mit der Zeit immer weniger auf die Lieder konzentrieren.
Deswegen bin ich auch mit ihm hier und stehe auf dieser Brücke, stelle mich auf meine Zehenspitzen, wie in diesen kitschig-romantischen, auf weheartit.com oder tumblr.com verbreiteten Vorstellungen, und küsse ihn. Ich schließe meine Augen. Ich lasse mich an ihn heranziehen, damit er mich noch intensiver küssen kann, und genieße diese Nähe. Wenig später gibt er mich wieder frei und sieht mich an: lese ich in seinem Blick und in mir flammt ein leiser Anflug von Hoffnung auf.
Vielleicht liegt es am Wein, vielleicht an ihm, möglicherweise ist beides daran schuld – oder sollte ich besser sagen, möglicherweise habe ich es beidem zu verdanken? –, dass ich es zulasse, dass er meine Hand nimmt und mich mit sich zieht, weg von der Brücke und der Romantik, zurück in die Realität.
Wir gehen in Richtung der Hauseingänge, die sich kurz hinter der Brücke aneinanderreihen. Am zweiten bleiben wir stehen und gehen die paar Stufen zur Tür hinauf, er schließt auf und wir stehen im menschenleeren Treppenhaus – kein Wunder um ein Uhr nachts. Es ist eines dieser Gebäude, bei dem sich Wohnung auf Wohnung stapelt und sich jeder dieser Stapel an den nächsten lehnt. Von außen sah es schön aus, eine alte Backsteinfassade, aber von innen sehe ich davon nichts mehr. Hier ist nur das kühle Treppenhaus, dessen Licht anscheinend nicht funktioniert, denn es ist immer noch aus, als wir die Stufen bis in den dritten Stock hochgestiegen sind und vor seiner Tür haltmachen. Die Tür zu der Wohnung, die ich nach dem letzten Mal nicht wieder betreten wollte. Und doch trete ich über die Schwelle.
Er lässt meine Hand los, ich ziehe meine Jacke aus und löse endlich den Zopf, sodass meine Haare über meine Bluse fallen. Sie sind durcheinander, leicht gewellt, und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, fahre ich mit meinen Fingern durch sie hindurch. Er hat sich seine Jacke ebenfalls ausgezogen und hängt sie neben meine an die Garderobe. Dabei beobachtet er mich, wie ich meine Hand aus dem unordentlichen Haar löse. Ich sehe ihn an und weiß, wie es ihm geht. Mir geht es genauso. Immer wieder fühle ich es, wenn ich ihn ansehe und den langsam aufkommenden Wunsch in mir bemerke, dass er mich wieder küsst. Und das tut er dann auch. Ich habe meine Hand kaum sinken lassen, da ist er schon bei mir.
»Wie kann Haar nur so sexy sein?«, murmelt er zwischen den Küssen und ich will nur, dass er aufhört zu reden.
Ich habe mich selbst davor gewarnt. Immer wieder habe ich mir eingetrichtert, mich nicht in ihn zu verlieben, diesem naiven Gefühl nicht nachzugeben, und nicht nur einmal musste ich die Grenze zwischen uns neu ziehen, damit auch er nicht auf falsche Gedanken kam. Ich will es nicht kaputt machen. Ich lüge nicht, ich habe diese verfluchten Schmetterlinge im Bauch und sie flattern mir in diesem Moment in den Kopf und in meinen ganzen Körper.
»Halt die Klappe«, keuche ich.
Ich habe mich nicht einmal umgeschaut, aber er dirigiert mich in eine bestimmte Richtung. Er stößt eine Tür auf – keine Ahnung, ob auf der linken oder rechten Seite des Flurs, denn er küsst mich immer noch. Seine Finger sind mittlerweile schon damit beschäftigt, meine Bluse zu öffnen, und ich kann ebenfalls nicht mehr an mich halten und fahre mit den Händen unter seinen Pullover. Es war so verflucht kalt draußen und es ärgert mich, dass er ein Hemd darunter trägt und ich seine Haut erst ein paar Sekunden später spüren kann. Ich bekomme eine wohlige Gänsehaut, als er mir die Bluse von den Schultern streift. Mir fällt ein, dass auch ich ein Top drunter trage, und ich hasse die frostigen Temperaturen noch mehr. Doch alles andere wäre Fiktion.
Seine Lippen lösen sich von meinen, und er sagt es: »Ich liebe dich!«
Als hätten diese Worte mich geweckt und wie Dornröschen zurück in die Wirklichkeit geholt, obwohl ich eigentlich weiterschlafen will. Aber in diesem Moment hat er mich, als würde er mich besitzen. Alle guten Vorsätze sind auf einmal verschwunden und ich komme nicht umhin, seine Worte in mich aufzusaugen und ihnen einen glühenden Funken Glauben zu schenken.
»Ich weiß«, antworte ich außer Atem und ein liebevolles Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.
Er bildet sich ein, dass er mich ändern kann, dass er derjenige ist, der mich rettet. Ich will, dass er es ist, weil ich ihn liebe. Und dann presst er wieder seinen Mund auf meinen und ich lasse mich von ihm weiter in das Zimmer drängen.
Er zieht sich Pullover und Hemd in einem Zug aus und ich tue das Gleiche mit meinem Top. Wenn ihn mein Haar eben schon beeindruckte, kann er sich ein »Wow« nun nicht verkneifen, als ich so in BH und Jeans vor ihm stehe, mir die Schuhe abstreife und sie achtlos zur Seite kicke. Doch ich will nicht, dass er redet. Das eine Wort ist schon zu viel.
Ich sehe nichts mehr, habe meine Augen geschlossen und lasse mich von ihm verführen, werde süchtig nach seinen Berührungen und verliere immer mehr die Kontrolle. Wie der Rest der Kleidung unsere Körper verlässt, bekomme ich gar nicht mit. Wir liegen im Bett, das plötzlich da ist und das ich vorher nicht einmal bemerkt habe, und er sagt zum hundertsten Mal, dass er mich liebt, und sieht mich zum tausendsten Mal mit diesem liebevollen Blick an, als würde er verstehen, was in diesem Moment in mir vorgeht.
»Zeig es mir«, fordere ich ihn auf.
Ich weiß, was Liebe ist, in meinen wundervollsten Interpretationen, aber auch in ihrer hässlichsten Definition: nur Drücken und Stoßen, aufs Körperliche...