E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Vosganian Als die Welt ganz war
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-552-05897-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-552-05897-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Varujan Vosganian wurde 1958 in Craiova geboren und verbrachte seine Kindheit in Focsani. Von 2006 bis 2008 war er rumänischer Finanz- und Wirtschaftsminister, 2012 bis 2013 Minister für Handel und Industrie. Er ist Präsident der Vereinigung der Armenier in Rumänien. Bei Zsolnay erschienen die Romane Buch des Flüsterns (2013), Das Spiel der hundert Blätter (2016) und der Erzählband Als die Welt ganz war (2018).
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Als die Welt ganz war
Einsamkeiten kann man nicht zusammenfügen. Zwei kleine Einsamkeiten ergeben keine größere Einsamkeit. Ebenso wie man sie nicht zusammenzählen kann, lassen sich die Einsamkeiten auch nicht voneinander abziehen. Zwei Einsamkeiten minus eine Einsamkeit ergeben nicht eine Einsamkeit. Vielleicht hat allein die Multiplikation einen Sinn. Mehrere einsame Menschen, die sich über den Weg laufen, fühlen sich um vieles einsamer.
Coltuc schaute mit großen Augen auf die Menge, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte. Und wenn dies trotzdem geschah, wandten sich die Blicke sogleich wieder von ihm ab, wie ein Schritt, der aus Versehen danebengeraten war. Er ärgerte sich nicht, im Gegenteil, er war der Welt dankbar, denn es gab immer etwas zu sehen, zu verstehen oder zu errechnen. Schau, beispielsweise um diese Uhrzeit, wenn man nachzählte, kamen mehr Leute zur Piata Unirii herunter, als hinauf in Richtung Piata Universitatii gingen. Am Nachmittag verhielt es sich umgekehrt. Wenn man die Geduld aufbrachte hinzuschauen, war das Gewusel der Menge kein in eine Richtung Strömen, wie es die fließenden Gewässer tun. Aber selbst dort geschahen mitunter Wunder.
Die Leute hielten beim Gehen gewöhnlich den Blick gesenkt. Ihre Kleidung wirkte grau, selbst wenn hie und da auch mal ein Farbfleck zu sehen war. Die meisten trugen Einkaufstaschen, manchmal zwei ineinander, damit sie der Last standhielten. Sie schienen nicht an Wunder zu glauben.
Coltuc jedoch war das Wunder des Schauens geblieben. Er hätte sich endlos diese Welt anschauen können, in der er allerlei Sinnfälligkeiten erkannte. Mitunter gab es den Tag der Vogelmenschen. Manch einer erinnerte, wenn man genau hinsah, an einen Vogel. Vor seinen Augen zogen schmale und gebeugte Störche vorbei, Lämmergeier mit verstohlenen Blicken, Gänse mit wiegenden Hüften, Pelikane mit klappernden Schnäbeln, Kernbeißer mit gedrungener Nase, Adler mit krummer Nase und Pinguine, die sich hintereinander aufreihen. Coltuc schaute hinauf zu diesen Mengen wie zu Vogelschwärmen, die sich am Himmel abzeichnen. Und sogar die Jahreszeiten anzeigen: Wenn sich die Störche und Drosseln vermehrten, kam der Frühling, wenn die Leute ein Verhau von Krähen waren, gab es Schnee, und dann, wenn es schon Spätherbst war und die Drosseln trotzdem nicht wegflogen, folgte ein milder Winter.
Ein andermal gab es das Defilee der Tier-Menschen. Die meisten waren Haustiere, bereit, sich dahin und dorthin lenken zu lassen. Aber es gab auch Fuchs-Menschen, Wolfs-Menschen oder solche mit länglichen Gesichtern, die nach schnellen Dachsen oder Wieseln aussahen. Man sah auch Gazellen, die auf dünnen Stöckeln hüpften, schwere und großmäulige Nilpferde, Tapire mit herabhängenden Nasen, als wären ihre Spitzen mit Schrotkugeln vollgestopft gewesen.
Andererseits war vieles anders eingerichtet, als es hätte sein müssen. Die Vogel-Menschen und Tier-Menschen oder gar Wörter-Menschen betrachtend, gelang es ihm nicht, der Menge eine einzige Gestalt zu verleihen oder sie dahin zu bringen, dass sie in ein einziges Wort passten.
Hör mal du, Coltuc, keifte ihn der Lahme an und wechselte von einer Krücke auf die andere, denn von einem Bein aufs andere zu wechseln wäre zu viel für ihn gewesen. Was ist das denn für ein Name?
Coltuc zuckte mit den Schultern, das konnte er tun.
Ein Name eben, antwortete er. Damit man den Kopf umwenden kann, wenn jemand nach einem ruft.
Ist es etwa ein Spitzname?
Ein Spitzname ist es nur, wenn man auch einen anderen Namen hat, befand Coltuc. Ich habe keinen anderen Namen, also …
Aber er hielt plötzlich inne, jemand hatte sich ihm genähert, heute hatte der Junge den Leuten noch keine Gestalten verliehen, also konnte es ein Reiher oder ein Luchs oder sonst etwas sein, jener beugte sich herab und legte ihm einen Apfel in die Büchse, die er am Hals hängen hatte.
Schau, Bruder, wie das ist, erwog der Lahme jetzt, da er sich besser postiert hatte und seine Schultern ihn nicht mehr so schmerzten. Ich heiße Constantin, so hat mich der Pope getauft. Dass man mich auch der Lahme nennt, dafür kann ich nichts … Du kannst dich nicht über die ganze Welt ärgern. Man nennt mich eben Costica Ologu. Das ist also mein Künstlername. Der andere da heißt ?tefan, auch ein erstklassiger Name. Seit er den Blitz gesehen hat, nennt man ihn Fane den Einäugigen. Also nicht den Blinden, selbst wenn er blind ist wie die Nacht, du kannst ihn tagsüber all das machen lassen, was er genauso auch bei Nacht tun würde. Auch er hat einen Bühnennamen, wir sind beide Künstler, gib uns eine Bühne, und du wirst staunen! Also gut. Der Pope hat uns schöne Namen gegeben, christliche. Wer mag der bekloppte Pope gewesen sein, der dich Coltuc getauft hat?
Costica Ologu, der Lahme, hatte die Frage genüsslich in die Runde geworfen. Die Passanten aber nahmen keinen Anteil an seinem Wissensdurst. Es war kalt geworden, sie hasteten dahin, als triebe sie von hinten jemand an. Ganz und gar häusliche Mienen, in Wollstoffen und mit sanften Augen, aus Tiertagen.
Mich hat kein Pope getauft, sagte der Junge.
Das glaube ich, stimmte der Lahme zu. Mit einem Namen wie diesem … Sowas hat es früher auf Bezugsschein gegeben.
Das hat nicht am Namen gelegen … Der Pope hat gesagt, ich sei ohnehin nicht geeignet, getauft zu werden. Er müsse einem die Stirn und die Achselhöhlen salben …
Was soll das, Bruder? Dann soll er dich eben salben.
Er hat gesagt, das geht nicht … Ich hätte keine Achselhöhlen …
Costica schaute ihn so aufmerksam an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
So ist es, bei meinem Schwanz, sagte er. Du hast keine Achselhöhlen …
Und irgendwie beklommen schob er seinen Blechteller etwas weiter nach vorne. Beinahe hätte er damit einen Fußgänger zum Stolpern gebracht, der aber wich aus, ohne stehen zu bleiben.
Nun halt auch mal die Schnauze!, plusterte sich der blinde Fane auf, der eben, weil er einäugig und blind war, das Gehör eines Windhundes hatte. Auch verfügte er über eine tiefe Brummstimme, die ihm im Verbund mit dem ungepflegten Bart und den weißen Strähnen, die ihm unter der Mütze hervorquollen, das Aussehen eines Patriarchen verliehen. Die Leute glauben, wir sind zum Schwatzen hier …
Sei’s drum, es ist ein blöder Tag, grummelte Costica der Lahme. Man wundert sich geradezu, wo die alle hinrennen.
So weit die Augen reichen, fügte Fane der Blinde hinzu.
Jeder hat, was ihm fehlt. Er, Coltuc, was konnte er schon sagen … Er saß unter und bei ihnen, bestens auf den Brettern aufgepflanzt, die so eine Art Wägelchen mit Rädern bildeten. An der Stelle, wo die Beine hätten beginnen müssen, waren die Hosenbeine eingerollt und mit Haken fixiert, damit ihn das Holz nicht aufrieb. Aus den Schultern sprossen ihm ein paar krumme Finger, wie Vogelkrallen. Sie waren allein dazu gut, das jeweilige Ende der Schultern einzufassen, wie Drahtenden, die man hatte hängen lassen, nachdem der Sack gut verschnürt worden war. Da er weder in die Höhe noch in die Breite wachsen konnte, hatte sich sein Körper im Leib selbst verdichtet. Sodass, ging man von der Breite seiner Brust aus, Coltuc ein großer und kräftiger Jüngling hätte sein müssen. So aber maß er kaum zwei Ellen, und da rechnen wir die Kapuze und alles andere hinzu, auch das Wägelchen und die Kugellager darunter. Gedrungen, aber nunmehr mit männlicher Statur, einer ebenso männlich krummen Nase und wie Weinranken gekringelten, spärlichen Barthaaren. Coltuc sah aus wie ein altes Kind. Und gerade deshalb hatten sich seine Augen darauf versteift, kindlich zu bleiben. Mit den Blicken eilte er die Straßen entlang, schlängelte sich durch die Menschen hindurch, hüpfte zwischen den Autos einher, hängte sich an die Hochspannungsleitungen, als hinge er an einer Trapezstange, wo er Possen riss, er drehte sich um die eigene Achse und empfing, das Gesicht nach oben gereckt, den verspäteten Raureif des Novembermittags.
Etwas aber gefiel ihm an jenem Ort nicht.
Schau, die Passage, sagte er. Ich sehe die Leute hin und her rennen und die Autos und die Straßenbahnen, Bewegung ist der allerschönste Anblick. Und diese Passage verschlingt sie anscheinend alle …
Gäbe es keine Bewegung mehr, gäbe es auch keinen Tod mehr, erwiderte der Blinde mit seiner von tief innen kommenden rauen Stimme.
Da fickste doch!, rief bewundernd der Lahme, Costica Ologu … Und dann, den Hals in Richtung Ampel an der Piata Unirii gereckt, schrie er: Die Polizei auf sechs Uhr …
Er schaute kein zweites Mal hin, um sich etwa zu vergewissern, dass er sich nicht geirrt hatte. Besser zweimal geflohen als einmal erwischt. Er schnappte sich seinen blechernen Teller vom Boden, drückte ihn an die Brust und knöpfte die Jacke darüber zu. Der Blinde griff tastend nach der Schnur von Coltucs Wägelchen. Sie wussten, in welche Richtung sie sich zu wenden hatten, den Ort hatten sie sich am frühen Morgen schon ausgesucht, dort würde sie niemand finden. Allein, sie mussten die Ecke gegenüber erreichen, bei der Mo?ilor Vechi, und dann durch die Gänge der aufgelassenen Häuser.
Schneller, keuchte Costica Ologu, aber auch er wusste, dass es nicht schneller ging.
Vorneweg ging der Blinde gemessenen Schrittes und mit emporgereckter Stirn, als genieße er die rußige Luft. Mit der einen Hand umfasste er den Knauf des Stockes, mit dem er seine Schritte ankündigte, indem er gegen das Straßenpflaster schlug, und mit der anderen zog er an der Leine das Wägelchen hinter sich her. Dem Blinden folgte Coltucs Körper, dem sämtliche Gelenke fehlten bis auf den Hals, den er stets hin und her drehte, um erschrocken mal auf die eine und mal auf die andere Seite zu schauen. Den Abschluss aber...