Buch, Deutsch, Band 6, 346 Seiten, PB, Format (B × H): 136 mm x 211 mm, Gewicht: 510 g
Reihe: Lektionen
Buch, Deutsch, Band 6, 346 Seiten, PB, Format (B × H): 136 mm x 211 mm, Gewicht: 510 g
Reihe: Lektionen
ISBN: 978-3-95749-042-1
Verlag: Theater der Zeit GmbH
In den letzten Jahrzehnten hat die Wahrnehmung der Visualität des Theaterereignisses deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Kostüme und Bühne erzeugen Bilder, sie prägen das ästhetische Erleben des Zuschauers und seinen Zugang zum Stück. Kostüme lenken die Wahrnehmung der Figuren, indem sie deren visuelle Präsenz bestimmen. Die Bezüge zwischen dem Körper des Schauspielers, dem Kostüm als dessen Umhüllung und dem inszenierten Raum kontextualisieren den szenischen Körper, sie sind Substanz der Inszenierung und elementar für die Erarbeitung der Rolle.
Im zeitgenössischen Theater kann der Kostümbildner das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ausloten: Vom Kostüm als skulpturalem Zeichen einer Eigenrealität auf der Bühne bis zum Kostüm, das sich als Alltagskleidung – sei sie eigens angefertigt oder gefunden – zum Zeichen von historischer oder gegenwärtiger Zeitlichkeit machen will, reichen die Ausdrucksmöglichkeiten in allen denkbaren Abstufungen und Verschiebungen.
Lektionen 6 „Kostümbild“ gibt Studierenden, Lehrenden und Kostümbildnern einen umfassenden Überblick über die Grundlagen der Ausbildung, das Kostümbild als Beruf und das Selbstverständnis von Praktikern.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Grundlagen von Ausbildung und Beruf
Figurenerfinder erfinden. Die Aufnahmeprüfung für das Kostümbildstudium
von Florence von Gerkan /Seite 12
Das Alphabet der Schönheit von - Rosalie / Seite 19
Wie man die Wünsche beim Schwanz packt! von Anna Eiermann / Seite 27
Was gestrichen ist, leuchtet im Dunkeln von Bettina Walter / Seite 33
Wie man Professor wird oder ein Doppelleben von Reinhard von der Thannen / Seite 37
Entwurfsprojekte: Vernetzungen von Praxis und Theorie von Miriam Dreysse / Seite 41
Film Kostüm Bild von Lisa Meier / Seite 51
Wege zum Kostüm von Florence von Gerkan / Seite 56
Zu Modekörpern und ihrer Lesbarkeit von Gertrud Lehnert / Seite 82
Thinking (in) Costume – Einige skizzenhafte Überlegungen zur Verabgründung des Kostümbildes von Fanti Baum und Charlotte Pistorius / Seite 91
Produktionsstrukturen im Kostümbild von Kattrin Michel / Seite 102
Das Bühnenkostüm. Aspekte seine historischen Entwicklung von Julia Burde / Seite 106
II. Kostümbildnerinnen und Kostümbildner im Gespräch
Die Hand führt deine Seele zum Papier. Ein Gespräch mit Martin Rupprecht / Seite 190
Opulent war nur die Phantasie. Ein Gespräch mit Moidele Bickel / Seite 200
Ich denke immer in Stoffen. Ein Gespräch mit Barbara Baum / Seite 213
Du kannst gar nichts falsch machen. Ein Gespräch mit Dagmar Niefind / Seite 227
Optische Drehpunkte. Ein Gespräch mit Johannes Schütz / Seite 237
Die Bühne ist nicht das Leben. Ein Gespräch mit Andrea Schmidt-Futterer / Seite 249
Bitte zur Anprobe in die Schlosserei. Ein Gespräch mit Anna Viebrock / Seite 255
Die Figur zur Erscheinung bringen. Ein Gespräch mit Bernd Skodzig / Seite 266
Fritsch war eine Glücksbegegnung. Ein Gespräch mit Victoria Behr / Seite 277
Materie verwandeln. Ein Gespräch mit Lea Søvsø / Seite 289
Das Kleid an sich muss keine gutes Kostüm sein. Ein Gespräch mit Sophie Reble / Seite 301
III. Staatliche Hochschulen Kostümbild
Berlin – Universität der Künste / Seite 314
Berlin – Kunsthochschule Weißensee / Seite 318
Dresden – Hochschule für Bildende Künste / Seite 320
Graz – Universität für Musik und darstellende Kunst / Seite 323
Hamburg – Hochschule für Angewandte Wissenschaften / Seite 326
Hannover – Hochschule Hannover / Seite 328
München – Akademie der Bildenden Künste / Seite 330
Offenbach – Hochschule für Gestaltung / Seite 333
Salzburg – Universität Mozarteum / Seite 337
Stuttgart – Staatliche Akademie der Bildenden Künste / Seite 340
Wien – Akademie der bildenden Künste / Seite 343
„Wir fundieren also unsere Moral des Kostüms auf der Notwendigkeit, in jedem Fall den sozialen Gestus des Stückes zu manifestieren. Das heißt, dass wir dem Kostüm eine rein funktionelle Rolle zuweisen werden und diese Funktion eher intellektueller Art sein wird als körperlich gestaltend oder emotional. Das Kostüm ist nicht mehr als der weitere Ausdruck einer Beziehung, der in jedem Moment den Sinn des Werkes seiner äußeren Erscheinungsform hinzufügen muss. Also ist alles im Kostüm schlecht, was die Klarheit dieser Beziehung verwirrt, dem sozialen ‚Gestus‘ des Stückes widerspricht, ihn verschleiert oder verfälscht; im Gegensatz ist alles gut, was in Formen, Farben, Substanzen und ihrer Anordnung dem Verständnis dieses ‚Gestus‘ hilft.“ (Roland Barthes, Essais critiques, Paris 1964)
Was Roland Barthes in den 1950er Jahren in Auslegung des epischen Theaters von Bertolt Brecht formuliert hat, lässt sich als der Beginn der Entwicklung des Kostümbildes als Kunst im modernen Sinne lesen. War das Kostümbild im 19. Jahrhundert die textile Ergänzung zum bürgerlichen Literaturtheater, bezeichnet es nun ein künstlerisches Handlungsfeld, das weit über das hinausgreift, was man einmal mit dem Begriff Ausstattung benannt hat, es wird zum mitdenkenden Gestalter einer Inszenierung. Das Ziel dieser Inszenierung war für Brecht ein neuer Realismus, der nicht das Abbild einer Wirklichkeit im Sinne des psychologischen Realismus von Stanislawski ist, sondern die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung zur Erscheinung bringt. Im epischen Theater werden die Mittel der Inszenierung als solche vorgeführt und emanzipieren sich im weiteren Verlauf der jüngeren Theatergeschichte von der ihnen zugeschriebenen funktionellen Rolle. Sie beanspruchen mehr und mehr ästhetische Autonomie, indem die Materialität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund tritt.
Das Kostümbild hat im zeitgenössischen Theater den Anspruch, eine eigenständige künstlerische Setzung zu sein, bei der der Kostümbildner innerhalb des künstlerischen Leitungsteams, also gemeinsam mit dem Bühnenbildner und dem Regisseur, eine Welt erfindet. In diesem Anspruch trifft es auf ein weites Verständnis dessen, was Theater sein kann: Neben die psychologisch motivierte Figureninterpretation des klassischen Dramentextes treten Einflüsse aus der bildenden Kunst, dem Tanz und der Performance, die mit ganz anderen Strategien der Verkörperung arbeiten. Der Versuch, einen anderen Wirklichkeitsbezug auf der Bühne herzustellen, kennt gleichermaßen Formen des Dokumentartheaters, die mit Laien arbeiten, wie kunstautonome Bestrebungen, die die Realität des Bühnenereignisses und die Präsenz des Akteurs zum Thema machen. In diesem Spektrum haben die ästhetischen Setzungen, die das Kostümbild macht, völlig verschiedene Aufgaben; doch bei aller künstlerischen Eigenständigkeit kann das Kostüm nie isoliert von dem Menschen auf der Bühne betrachtet werden, mit dem es agiert.
Wenn man also den Entwurf des Kostümbilds als einen künstlerischen Handlungsmodus begreift, der mit Formen und Materialen am Körper des Darstellers arbeitet, wie lässt sich diese Kunst erlernen? Und welche Voraussetzungen sind es, die ein junger Mensch mitbringen sollte, der Kostümbildner werden will? Florence von Gerkan gibt in ihrem Beitrag zur Aufnahmeprüfung einen Einblick, nach welchen Interessen und Fähigkeiten bei den Bewerbern gesucht wird, um „Figurenerfinder“ zu finden. Dabei geht es jedoch nicht darum, eine bestimmte Schule vorzuführen, sondern durch die Beiträge der Lehrenden verschiedener Hochschulen wird im ersten Kapitel die gesamte Breite und Vielfalt im Verständnis des Fachs und seiner Vermittlung dargestellt. Im kreativen Zentrum steht dabei der Entwurf, das „Alphabet der Schönheit“, wie es rosalie in ihrem Artikel sinnlich und sinnhaft beschreibt. An allen Beiträgen ist abzulesen: Der Entwurf ist ein zutiefst ernsthafter, an eine Subjektivität gebundener schöpferischer Prozess, der zugleich nur im Zusammenspiel der Theaterkünste funktionieren kann.
Jede Inszenierung ist anders, das Theater und seine Menschen sind ebenso ein lebendiger Körper wie der Träger des Kostüms. Eine allgemeingültige Anleitung für eine gelingende Arbeit kann es daher nie geben. Um aber die Praxis erfahrbar zu machen, zeigen wir hier modellhaft am Beispiel von Richard III in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne die Arbeitsschritte am Kostümbild von Florence von Gerkan.
„Körper und Kleid sind aufeinander angewiesen und dieses Verhältnis ist wechselseitig“, schreibt die Modetheoretikerin Gertrud Lehnert in einem der theoretischen Beiträge für diesen Band, und fährt zuspitzend fort: „Der Körper ist da, damit das Kleid existiert, und das Kleid ist da, damit der Körper existiert – nämlich damit er auf eine bestimmte Weise realisiert werden kann: als kultivierter Körper.“ Als solcher kann er, wie Lehnert sagt, „gelesen“ werden, er ist sozial und geschlechtlich markiert.
Was zwischen den bekleideten Akteuren im Alltagstheater in der Regel unbewusst abläuft, ist im Theater eine bewusste ästhetische Setzung. Die Kostümhistorikerin Julia Burde hat hier erstmals den Versuch unternommen, die Geschichte des Bühnenkostüms von der Antike bis in die Gegenwart zu beschreiben. Sie „liest“ die zeitspezifische Zeichenhaftigkeit des Kostüms und macht diese anhand der Stilisierung, d. h. der stilistischen Entfernung des Bühnenkostüms von der Alltagskleidung, deutlich. Die verschiedenen Epochen der Theatergeschichte kennen unterschiedliche Grade der Stilisierung, in der Antike beispielsweise ist die Nähe zur Alltagskleidung groß, im Barock gering; man findet aber auch innerhalb einer Epoche Unterschiede, etwa im 19. Jahrhundert, das sowohl die täuschend echten Kopien alltäglicher Kleidung im Naturalismus als auch die Kostümierungen des Unterhaltungstheaters kennt. Als ein Kennzeichen des Kostüms der Gegenwart sieht sie dessen „Ahistorizität, seine Emanzipierung von der ursprünglich im Stück vorgegebenen Zeit oder Epoche“. Diese Ahistorizität entspringt einem konzeptuellen Denken, das sie in Zusammenhang damit sieht, was wir unter dem Stichwort Regietheater verstehen. Ein Stück erfährt eine Aktualisierung und Interpretation durch einen Regisseur und damit auch eine ästhetische Setzung, die ihr Pendant im Kostümbild findet, das sich zwischen Ganzkörpermaske und Straßenkleidung bewegen kann. Die Vielfalt dieser „Handschriften“ lässt sich an den Gesprächen mit Kostümbildnerinnen und Kostümbildnern im zweiten Kapitel ablesen. Es sind Vertreter dreier Generationen, die gerade auch in ihrer Gegensätzlichkeit die unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Theater und damit von Kostüm vor Augen führen.
Eines haben die Gespräche gemeinsam: Für alle der Befragten führte der Weg zum Beruf des Kostümbildners über eine künstlerische Ausbildung. Nicht immer fand die im Rahmen eines Studiums des Kostümbildes statt. Genau genommen fast nie, da es außer der Universität der Künste in Berlin keinen reinen Studiengang Bühnenkostüm gibt. Die meisten Studierenden finden sich in den Studiengängen Bühnenbild, in denen eben auch Kostüm unterrichtet wird, wie die Übersicht über die staatlichen Hochschulen im deutschsprachigen Raum in dritten Kapitel zeigt. Wenn wir hier den Versuch unternehmen, den Beruf des Kostümbildners vorzustellen, hat dies durchaus auch das Ziel, zur Selbstbestimmung einer Kunst beizutragen, die entscheidend ist für das Gelingen einer Inszenierung. Das Kostüm bekleidet nicht, es verhüllt und enthüllt den lebendigen Körper und gehört zur Kunst.
Ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Der Beruf des Kostümbildners wird überwiegend von Frauen ausgeübt. Dennoch haben wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschlossen, weitgehend auf eine gendergerechte Auszeichnung zu verzichten. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.
Wir danken Petra Peters, Isabelle Pikörn, Bernd Stegemann und Sibyll Wahrig für ihre Anregungen, konstruktive Kritik und Unterstützung sowie allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die dieses Buch durch ihre Texte und Interviews möglich gemacht haben.
Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer
Berlin im März 2016