E-Book, Deutsch, 471 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 204 mm
von Benda Beckmann Nach dem Tagebuch
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-907336-01-4
Verlag: Secession Verlag für Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Schicksal von Anne Frank und der anderen Untergetauchten aus dem Hinterhaus
E-Book, Deutsch, 471 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 204 mm
ISBN: 978-3-907336-01-4
Verlag: Secession Verlag für Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der letzte Tagebucheintrag von Anne Frank stammt vom 1. August 1944. Drei Tage spa¨ter wurden sie und die sieben ande- ren Untergetauchten im Amsterdamer Hinterhaus entdeckt und verhaftet. Als ihr Vater Otto Frank am 27. Januar 1945 in Auschwitz von russischen Soldaten befreit worden war, begann fu¨r ihn die Suche nach seiner Frau Edith, den To¨chtern Margot und Anne und den anderen vier, die sich gemeinsam mit ihnen im Hinterhaus versteckt hatten: Herman und Auguste van Pels, ihr Sohn Peter und Fritz Pfeffer. Es dauerte einige Monate, dann hatte Otto Frank Gewissheit: Von diesen acht war er der einzige U¨berlebende der deutschen Lager.
Bas von Benda-Beckmann hat die Spur noch einmal aufgenommen, um auf der Grundlage aller verfu¨gbaren Zeugnisse und Dokumente so viel wie mo¨glich u¨ber das Schicksal der Untergetauchten aus dem Hinterhaus nach ihrer Verhaftung herauszufinden. Mit seiner detaillierten und bewegenden Schilderung fu¨llt der niederla¨ndische Historiker eine Leerstelle nicht nur in der Biografie von Anne Frank, sondern in der Geschichte des Holocaust.
Mit 160 Abbildungen und einem ausführlichen Register.
Weitere Infos & Material
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Auschwitz. Anne Frank. Ihre Stimme spreche für sechs Millionen, wird Anne Frank nachgesagt.1 Sechs Millionen ermordete Juden. Und Auschwitz gilt oft als das Symbol für die Shoah. Auschwitz und Anne Frank, zusammengenommen klingt das auf den ersten Blick umfassend. Doch dieser Eindruck ist falsch. Denn Anne Frank spricht nur für sich. Wenn man so will, als eine von sechs Millionen Stimmen.2 Wer nur ihr Tagebuch liest, weiß noch nichts über Auschwitz. Er kennt nur einen Ort jenes unvorstellbaren Menschheitsverbrechens, das seine Spuren nahezu im gesamten Europa hinterließ. Mit dem letzten Satz in ihrem Tagebuch, dem letzten von ihr schriftlich überlieferten Satz, fängt Annes Weg nach Auschwitz überhaupt erst an. Aber was war nach dem Tagebuch? Der niederländische Historiker Bas von Benda-Beckmann hat diese Frage gewiss nicht als Erster gestellt, bereits Annes Vater hatte begonnen, Antworten zu suchen. Und weil sie im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263 zu acht versteckt waren, wollte Otto Frank nach seiner Befreiung ebenso das Schicksal der anderen Mitglieder dieser Schicksalsgemeinschaft rekonstruieren, von denen, wie sich erst noch herausstellen sollte, niemand überlebt hatte. Bas von Benda-Beckmann konnte an diese und auch noch an weit mehr Forschungen anknüpfen. Mit der präziseren Frage: Was war wie nach dem Tagebuch? Anne Franks Tagebuch ist nicht das Einzige seiner Art, es gibt zahllose weitere Aufzeichnungen, in denen Jugendliche ihren verstörenden Alltag aus der Perspektive verfolgter Juden beschrieben. Sie notierten in Verstecken oder in Ghettos, was sie fühlten und dachten, höchst privat und bei allgegenwärtiger Lebensgefahr.3 Für die Öffentlichkeit war Anne Franks Tagebuch, als es 1947 in den Niederlanden publiziert wurde, noch beispiellos. Während in der westdeutschen Bundesrepublik Schuld und Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere auch Anklagen gegen Täter, immer weiter in den Hintergrund rückten, kletterten die Auflagen der Tagebuch-Übersetzung ins Deutsche von 1950 an rasant nach oben. Diese enorme Wirkung, zumal auch die vielfältigen Projektionen auf diesen einzigartigen Text, lässt sich eigens diskutieren. Doch wie immer man es wendet, steht am Ende ein literarisches Werk von Weltrang, in über 70 Sprachen übersetzt, seit 2009 als Dokument von »universellem Interesse« ein Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Millionen von Leserinnen und Lesern durchlitten mit Anne Frank die etwas mehr als zwei Jahre, die sie und ihre sieben Leidensgefährten im Versteck verbrachten. Wie sollen sie sich je eine authentische Vorstellung davon machen können, wie sich deren Lebenswege nach ihrer Verhaftung fortsetzten? Anne Frank hat dazu nichts überliefert. Was man von ihr weiß, wird von anderen formuliert, zitiert, ihr mitunter auch zugeschrieben. Als Fragmente eines kurzen Weiterlebens, dessen Individualität für die Außenwelt verlorengegangen ist. Unwiederbringlich. Und schier unerträglich für die, die sich in die Empfindungswelt der jungen Frau hineingelesen haben und nur zu gerne und in ihren eigenen Worten vernommen hätten, wie es weiterging. Genauer: wie es für sie weiterging. »Manche wollen zu viel und zu schnell verstehen, sie haben für alles Erklärungen; andere weigern sich zu verstehen und betreiben eine wohlfeile Sakralisierung«, schreibt Giorgio Agamben4, als hätte er genau dieses eine Dilemma vor Augen und nicht ganz allgemein das, womit seine Reflexionen überschrieben sind: »Was von Auschwitz bleibt«. Als den einzig gangbaren Ausweg aus diesem Dilemma sieht Agamben: In dieser Kluft zu verweilen. Genau das ist es, was »Nach dem Tagebuch« versucht, und hier begegnen wir dem Historiker Bas von Benda-Beckmann und den anderen Mitarbeitern der Anne Frank Haus, Erika Prins, Gertjan Broek und Teresien da Silva, die die Lebensereignisse der acht Untergetauchten rekonstruiert haben. Dieses Buch steigt nicht aus der privaten Geschichte aus, sie bleibt einerseits Leidfaden – und wird andererseits zum Leitfaden für die weitere Recherche. So folgt Bas von Benda-Beckmann den acht jüdischen Frauen und Männern aus dem Amsterdamer Hinterhaus ins Durchgangslager Westerbork und von dort in die Lager Auschwitz, Bergen-Belsen, Raguhn, Neuengamme und Mauthausen. Unterwegs geht es ihm um mehr als nur um die Rekonstruktion der individuellen Erfahrungshorizonte, denn er erweitert sie um den objektiven Wissensstand über die jeweiligen Aufenthaltsorte der acht Protagonisten. Mit geschichtswissenschaftlichen und ethnografischen Methoden entsteht so eine eigene Textur aus dem, was geschah, und dem, wie es sich in den Köpfen der Betroffenen darstellt. Beziehungsweise wie es sich in deren Köpfen dargestellt haben könnte. Denn berichten, was ihm widerfahren ist, kann nur Otto Frank. Für die sieben anderen findet Bas von Benda-Beckmann Zeugnisse von Überlebenden, die sich an Anne Frank und die Ihren erinnern oder ihnen nahe waren oder wenigstens an deren vermutlichen Aufenthaltsorten selbst erlebten, wie es dort zuging. Die personalisierende Geschichtsschreibung erhellt das Geschehen weit zutreffender als es die pure Faktenaufbereitung vermag. Denn es geht um mehr, nämlich auch um das Wesen der Konzentrationslager, die ihnen eigenen Erlebniswelten, die veränderten Verhaltensweisen, die außer Kraft gesetzten Konventionen, die Brutalität des SS-Personals, die Allgegenwart eines systemischen Vernichtungswillens. Ein Historiker kann schlicht feststellen, dass die Situation für die Häftlinge in Auschwitz hoffnungslos war. Ein Beispiel, nicht aus diesem Buch, gibt die Niederländerin Froukje de Leeuw, die für eineinhalb Jahre als Gefangene in Block 10 des sogenannten Stammlagers in Auschwitz saß. Sie schrieb nach ihrer Befreiung: »Es war kein Ende zu sehen als das, dass man wahrscheinlich zu Tode kommen wird. Ja, das war es eigentlich, wir lebten dem Tod entgegen.«5 Ihre Feststellung unterscheidet sich nur in einer Nuance, und greift doch viel weiter. Aus der Sicht der Häftlinge offenbart sich die volle Wirkung der abgrundtief zerstörerischen Unmenschlichkeit. Den Alltag im Lager authentisch beschreiben kann nur, wer ihn selbst erlebt hat. Darum bleiben Zeitzeugenberichte unverzichtbar, so fragmentarisch sie auch immer sind und so zwangsläufig sie nur Ausschnitte der Lagerrealität wiedergeben können. Und zu alledem: Sie enthalten, wie Primo Levi nahelegt, nichts über die zu Ende geführte Vernichtung. »Die Untergegangenen hätten, auch wenn sie Papier und Bleistift gehabt hätten, niemals Zeugnis abgelegt, weil ihr Tod schon vor der Vernichtung ihres Körpers begonnen hatte.«6 Am Ende der Leben von Anne Frank, ihrer Schwester Margot und beider Mutter Edith, von Auguste und Hermann van Pels mit ihrem Sohn Peter sowie von Fritz Pfeffer steht das Unbezeugbare. Jedes aufgespürte Körnchen, das in eine Verbindung mit den acht aus dem Hinterhaus zu bringen ist, hebt sie ein Stückchen weiter aus der Anonymität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Durch die Augen von Zeugen sieht man sie für einige Momente auftauchen, scheinbar belanglose Szenen gewinnen den Rang von Existenznachweisen. Was in diesem Buch gelungen ist, lässt erahnen, was in anderen Fällen bei einem früheren Nachkriegsinteresse an personalisierbarem Erfahrungswissen noch alles hätte gerettet werden können – einmal ganz davon abgesehen, was bei angemessenen politischen Reaktionen am Ende der Weimarer Republik alles hätte verhindert werden können. Viel zu lange nährte sich Geschichtswissen zu großen Teilen nur aus Täterquellen. Und der Gegenentwurf einer puren Oral History verliert leicht die Orientierung. Vorbildhaft verstand es Ende der 1990er-Jahre Saul Friedländer, durch seine Verknüpfung verschiedener Erzählebenen der standardisierten Geschichtsschreibung entgegenzuwirken. Eine »gewaltige Herausforderung« sei es, schickte er seiner monumentalen Studie »Das Dritte Reich und die Juden« voraus, »eine historische Darstellung des Holocaust zu schaffen, in der sich die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Raum behandeln lassen«.7 In ähnlicher Weise plädierte auch der Empirische Kulturwissenschaftler Utz Jeggle, die Möglichkeiten und die Verantwortlichkeit der individuellen Lebenswelten »auch in ihrer geschichtlichen Eigentümlichkeit gegenüber der kolonialisierenden Übermacht von gesellschaftlichen Ansprüchen festzuhalten«.8 Auch hier geht es nicht um das Ergänzende und Exemplarische, sondern um die Zusammenschau im Dienste neuer Erkenntnis, um den »innere[n] Zusammenhang zwischen Geschehen und Erlebensmodalität«. Mit der Chance, »in Geschichten innere Wahrheiten zu entdecken, die sicherlich wenig Neues...