Voltaire | Candide oder der Optimismus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Voltaire Candide oder der Optimismus

Voltaire - französische Literatur in deutscher Übersetzung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-15-962343-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Voltaire - französische Literatur in deutscher Übersetzung

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-962343-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Spritzig, spöttisch und scharfsinnig - auch über 250 Jahre nach seinem Erscheinen hat Voltaires brillanter conte philosophique nichts von seiner Faszination verloren. Der gutgläubige Candide durchschreitet Länder, durchleidet Kriege, durchlebt Liebesabenteuer - und muss erkennen, dass es mit der besten aller möglichen Welten nicht weit her ist. Mit seiner präzisen Neuübersetzung überträgt Dieter Meier den Geist des Originals gekonnt ins Deutsche.

Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet; 1694-1778), französischer Schriftsteller und Philosoph, gilt als einer der herausragenden und produktivsten Akteure der Aufklärung.
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[70]Achtzehntes Kapitel

Was sie in dem Land Eldorado sahen


Cacambo bekannte dem Wirt seine große Neugier, der Wirt sagte zu ihm: »Ich bin sehr unwissend, und ich befinde mich wohl dabei; aber wir haben hier einen Greis, der einst bei Hofe war und der klügste Mann im Königreich ist, und auch der mitteilsamste.« Sogleich bringt er Cacambo zu dem Greis. Candide hatte jetzt die Nebenrolle und begleitete seinen Diener. Sie betraten ein ganz einfaches Haus, denn die Tür war nur aus Silber, und die Täfelung in den Wohnräumen nur aus Gold, jedoch mit so viel Geschmack gearbeitet, dass die reichste Wandverkleidung sie nicht ausgestochen hätte. Das Vorzimmer war zwar nur mit Rubinen und Smaragden ausgekleidet, doch wog die Art, wie alles angeordnet war, diese extreme Schlichtheit auf.

Der Greis empfing die beiden Fremden auf einem mit Kolibrifedern gepolsterten Sofa und ließ ihnen Liköre in diamantenen Kelchen servieren, wonach er ihre Neugier mit den folgenden Worten stillte:

»Ich bin einhundertundzweiundsiebzig Jahre alt und habe durch meinen seligen Vater, einst Schildknappe des Königs, von den staunenswerten Umwälzungen in Peru erfahren, deren Zeuge er war. Das Königreich, in dem wir uns hier befinden, ist die alte Heimat der Inka, die sie sehr unklugerweise verließen, um sich einen Teil der Welt zu unterwerfen, und die schließlich von den Spaniern vernichtet wurden.

Die Fürsten aus ihrer Sippe, die im Land ihrer Geburt blieben, handelten weiser: Mit Einverständnis des [71]gesamten Volkes ordneten sie an, dass kein Bewohner jemals unser kleines Königreich verlassen dürfe; dies hat uns unsere Unschuld und unser Heil bewahrt. Die Spanier haben eine vage Kenntnis von diesem Land, sie nennen es , und ein Engländer, der Ritter Raleigh, ist vor rund hundert Jahren sogar in seine Nähe gekommen. Da wir aber von unzugänglichen Felsen und Abgründen umgeben sind, waren wir bis jetzt stets sicher vor der Raffsucht der europäischen Völker, die eine unvorstellbare Gier nach den Kieseln und dem Dreck unserer Böden haben und uns alle bis zum letzten Mann töten würden, um sie sich anzueignen.«

Das Gespräch war lang; es drehte sich um die Regierungsform, die Gebräuche, die Frauen, die öffentlichen Schauspiele, die Künste. Schließlich ließ Candide, der immer viel für die Metaphysik übrig hatte, Cacambo fragen, ob es in dem Land eine Religion gebe.

Der Greis errötete ein wenig. »Wie denn«, sagte er, »könnt Ihr daran zweifeln? Haltet Ihr uns für undankbar?« Cacambo fragte ehrerbietig, welches die Religion von Eldorado sei. Der Greis errötete erneut. »Kann es denn zwei Religionen geben?«, sagte er, »wir haben, so scheint mir, dieselbe Religion wie alle Welt, wir verehren Gott vom Abend bis zum Morgen.« – »Habt ihr nur einen einzigen Gott?«, fragte Cacambo, der den Einwänden Candides immer weiter als Dolmetscher diente. »Offensichtlich«, sagte der Greis, »gibt es doch weder zwei, noch drei, noch vier. Ich muss gestehen, dass die Leute aus Eurer Welt recht seltsame Fragen stellen.« Candide wurde nicht müde, den guten Alten befragen zu lassen; er wollte wissen, wie man in Eldorado zu Gott bete. »Wir beten nicht zu Gott«, sagte der gute und ehrwürdige Weise, »es gibt nichts, um das wir ihn [72]zu bitten hätten; er hat uns alles gegeben, was wir brauchen, wir danken ihm unaufhörlich.« Candide war neugierig, die Priester zu sehen; er ließ fragen, wo sie seien. Der gute Alte lächelte. »Meine Freunde«, sagte er, »wir sind alle Priester; der König und alle Familienoberhäupter singen jeden Morgen feierlich Dank- und Lobeshymnen, und fünf- oder sechstausend Musiker begleiten sie.« – »Wie! Ihr habt gar keine Mönche, die lehren, die streiten, die regieren, die intrigieren, die jeden verbrennen lassen, der nicht ihrer Ansicht ist?« – »Da müssten wir wohl verrückt sein«, sagte der Greis, »wir sind hier alle derselben Ansicht, und wir verstehen nicht, was Ihr mit Euren Mönchen sagen wollt.« Candide war bei allen diesen Reden völlig verzückt und sagte bei sich selbst: »Welch ein Unterschied zu Westfalen und zum Schloss des Herrn Baron; hätte unser Freund Pangloss Eldorado gesehen, so hätte er nicht mehr gesagt, das Schloss von Thunder-ten-tronckh sei das Beste, was es auf der Welt gibt. Man muss reisen, das steht außer Frage.«

Nach dieser langen Unterredung ließ der gute Alte sechs Schafe vor eine Staatskarosse spannen und gab den beiden Reisenden zwölf seiner Bedienten mit, um sie zum Hof zu geleiten. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, »mein Alter hindert mich, mir die Ehre zu geben, euch zu begleiten. Der König wird euch auf eine Weise empfangen, die euch nicht unbefriedigt lässt, und sicher werdet ihr Nachsicht mit den Gebräuchen des Landes haben, falls einige davon euch missfallen.«

Candide und Cacambo stiegen in die Karosse; die sechs Schafe flogen dahin, und in weniger als vier Stunden war man beim Königspalast angekommen, der am einen Ende der Hauptstadt lag. Das Tor war zweihundertzwanzig Fuß [73]hoch und hundert breit; zu sagen, aus welchem Material es bestand, ist unmöglich. Das zeigt schon, wie wundersam erhaben es war über jene Kiesel und jenen Sand, die wir als Gold und als Edelsteine bezeichnen.

Zwanzig schöne junge Frauen von der Garde salutierten, als Candide und Cacambo aus der Karosse stiegen, führten sie zu den Bädern, legten ihnen Kleider an aus einem Stoff, der aus Kolibriflaum bestand, worauf die Großoffiziere und die Großoffizierinnen der Krone sie, dem gewöhnlichen Brauch entsprechend, durch zwei Reihen von je tausend Musikern hindurch zu den Gemächern Seiner Majestät führten. Als sie sich dem Thronsaal näherten, fragte Candide einen der Großoffiziere, wie man sich verhalten müsse beim Begrüßen Seiner Majestät. Ob man sich auf die Knie warf oder flach auf den Boden; ob man die Hände auf den Kopf legte oder auf sein Hinterteil; ob man den Staub vom Saalboden leckte; kurzum, welches das Zeremoniell sei. »Es ist der Brauch«, sagte der Großoffizier, »den König zu umarmen und auf beide Wangen zu küssen.« Candide und Cacambo fielen dem König um den Hals, und er begrüßte sie mit aller Anmut, die man sich vorstellen kann, und lud sie höflich zum Souper ein.

Bis es so weit war, ließ er ihnen die Stadt zeigen, die öffentlichen Gebäude, die bis zu den Wolken reichten, die von tausend Säulen umstandenen Märkte, die Brunnen mit klarem Wasser, die Brunnen mit Rosenwasser und die mit Zuckerrohrlikören, die unablässig flossen auf großen Plätzen, welche mit einer Art von Edelsteinen gepflastert waren, von denen ein Duft wie von Würznelken und Zimt ausging. Candide wollte den Gerichtshof sehen, das Parlament. Man gab ihm zur Antwort, dass es keines gab, dass es [74]nie Gerichtsverhandlungen gab. Er fragte, ob es Gefängnisse gebe, und man verneinte. Was ihn mehr noch erstaunte und ihm am meisten Vergnügen bereitete, war der Palast der Wissenschaften, wo er eine zweitausend Schritt lange Galerie voller mathematischer und physikalischer Instrumente sah.

Nachdem man den ganzen Nachmittag lang annähernd ein Tausendstel der Stadt durchstreift hatte, brachte man die beiden wieder zum König. An der Tafel nahm Candide zwischen dem König, seinem Diener Cacambo und mehreren Damen Platz. Nie hatte er besser gespeist, und nie war jemand bei einem Souper geistvoller als Seine Majestät. Cacambo erläuterte Candide die Bonmots des Königs, und obwohl sie übersetzt waren, blieben es immer noch Bonmots. Von allem, was Candide in Erstaunen versetzte, war dies nicht das Geringste.

Sie blieben einen Monat lang in diesem gastlichen Haus. Candide sagte fortwährend zu Cacambo: »Noch einmal, mein Freund, es stimmt schon, dass das Schloss, in dem ich geboren wurde, nicht an das Land heranreicht, in dem wir uns befinden, und doch: Fräulein Kunigunde ist nicht hier; sicher habt Ihr auch irgendein Liebchen in Europa. Bleiben wir hier, so werden wir nur sein wie alle anderen hier; wenn wir hingegen in unsere Welt zurückkehren, auch mit nur zwölf Schafen, die wir mit den Kieselsteinen von Eldorado beladen, werden wir so reich sein wie sämtliche Könige zusammen, wir brauchen keine Inquisitoren mehr zu fürchten und können Fräulein Kunigunde mit Leichtigkeit zurückgewinnen.«

Diese Rede gefiel Cacambo; man liebt es doch so sehr, umherzuschweifen, sich aufzuspielen vor den Seinen, zu [75]protzen mit dem, was man auf seinen Reisen gesehen hat, dass die zwei Glücklichen beschlossen, es nicht mehr zu sein und von Seiner Majestät ihren Abschied zu erbitten.

»Ihr begeht eine Torheit«, sagte der König zu ihnen, »ich weiß wohl, dass mein Land nichts Großartiges ist; doch wenn man sich irgendwo einigermaßen wohl befindet, soll man dort bleiben. Ich habe ganz gewiss nicht das Recht, Fremde aufzuhalten, eine solche Willkür ist bei uns weder Brauch noch Gesetz; alle Menschen sind frei, geht fort, wann ihr wollt, doch der Weg hinaus ist sehr schwierig. Dass ihr den reißenden Fluss wieder hinauffahrt, auf dem ihr wunderbarerweise gekommen seid und der unter Felsgewölben verläuft, ist unmöglich. Die Berge, die mein ganzes Königreich umgeben, sind zehntausend Fuß hoch und senkrecht wie Mauern, jeder hat eine Breite von über zehn Meilen, hinab kommt man nur durch Abgründe. Doch da ihr unbedingt fort von hier wollt, werde ich die Verwalter der Maschinen anweisen, für euch eine zu bauen, die euch bequem transportiert. Wenn man euch dann auf die andere Seite der Berge gebracht hat, kann euch niemand mehr begleiten, denn meine Untertanen haben geschworen, diese Umgrenzung niemals zu überschreiten, und sie sind viel zu klug, um ihren...



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