Vollkommer | Unter dem Flammenbaum | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Vollkommer Unter dem Flammenbaum

Wo meine Seele ihr Nest hatte
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7751-7174-8
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wo meine Seele ihr Nest hatte

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-7751-7174-8
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Afrika: Das sind die Klänge und Düfte der Kindheit, die Nicola Vollkommer nie vergessen wird. Das ist die Geschichte einer Familie, die zwischen die Fronten eines Bürgerkriegs geriet. Vollkommer erzählt von ihrem Vater, der dazu beitrug, dass zahllosen Afrikanern das Leben gerettet wurde. Von ihrer Mutter, die ihren Kindern Lebensfreude und Glaubenszuversicht weitergab. Und von ihrem größten Trauma: der Trennung von Afrika und dem Leben in einem englischen Internat.

Nicola Vollkommer (Jg. 1959) ist gebürtige Engländerin und lebt seit 1982 in Reutlingen. Sie engagiert sich in der Christlichen Gemeinde Reutlingen, unterrichtet an der Freien Evangelischen Schule und ist eine gefragte Referentin. Nicola Vollkommer ist mit Helmut verheiratet, das Paar hat vier erwachsene Kinder. Weitere Informationen unter www.nicola-vollkommer-buecher.de
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Kinderparadies aus Staub und Sand


Von den landeskundlichen Hintergründen und Erfahrungsberichten, die unser Vater sammelte, bekamen wir Kinder erst einmal nichts mit. Auch nichts von den folgenschweren Hinterlassenschaften eines hemdsärmeligen britischen Kolonialismus, in den wir als Familie mit blauäugiger Naivität hineinspazierten. Wir Kinder, das waren meine zweijährige Schwester Tanya und ich, gerade mal 15 Monate alt. Eigentlich hätten wir Zwillinge sein können, so eng war die Verbundenheit, mit der wir uns aufmachten, unsere neue Umgebung im untrennbaren Doppelpack auszukundschaften. An ein Leben vor Nigeria erinnerten wir uns bald nicht mehr. Es hatte ja lediglich aus den wenigen Monaten bestanden, die wir in Bushby verbracht hatten und die auf ein paar unscharfen schwarz-weißen Babybildern dokumentiert waren. Es war eine Art graue Vorzeit, in der man unter regenbedeckten Himmeln Wollmützen, dicke kratzige Strümpfe und Schuhe getragen hatte.

Das neue Revier, das zur Kulisse unserer prägendsten Lebensjahre werden sollte, trug den fantasielosen Namen »Vom Road«. Die Siedlung, in der wir wohnten, lag eben an der Straße, die zur nächsten Kleinstadt »Vom« führte. Die Häuser der britischen Einwanderer lagen verstreut auf beiden Seiten der Straße, jedes Haus mit einem großzügigen Gelände umgeben, durch Eukalyptus-, Jakaranda- und Palasabäume und Hecken aus Lantanebüschen voneinander abgeschirmt. Die kleinen, mit Wellblech versehenen Bleiben der Dienstangestellten waren am Rande des jeweiligen Geländes aufgereiht. Das unfruchtbare, karge Land war nicht teuer, und es gab viel davon.

Sobald wir richtig laufen konnten und ohne viel Aufsicht im eingezäunten Gelände spielen durften, machten wir uns energisch auf, jeden Winkel, jeden Stein und jede Pflanze dieser trostlosen afrikanischen Landschaft, die für unsere Kinderaugen einen überwältigenden Zauber entfaltete, zu erforschen. Für uns hatte sie bald eine Seele, und wir bauten aus ihr unsere ganz persönliche Idylle. Wir wussten nichts von der Sesamstraße, hatten keine Ahnung, wer das Sandmännchen war, und selbst Donald Duck und Micky Maus waren für uns Fremde. Fernsehen blieb ein seltenes Erlebnis, in dessen Genuss wir erst viel später auf Heimaturlaub in England kamen. Wir vermissten das alles nicht. Wir hatten nie ein Spielwarengeschäft von innen gesehen.

So schleppten wir tagsüber Puppen und Stofftiere in den Garten und bauten für sie Lager und Höhlen unter den Büschen. Wir verwandelten die Kieselstein-Einfahrt zum Haus in eine Rennbahn und machten mit Spielzeugautos halsbrecherische Wettrennen. Niemand klärte uns auf, dass nur Jungs mit Rennbahnen und Autos spielen. Von den Kindern unserer afrikanischen Angestellten lernten wir, aus einfachem Draht Fahrzeuge selber zu basteln, und bestaunten die einheimische Kreativität, die aus dem Nichts wunderbare Kunstwerke hervorzaubern konnte. Raupen und Eidechsen bekamen Namen und wurden zu Persönlichkeiten. Fiktive Landschaften entstanden in dem großen Sandkasten, bewohnt von mächtigen Stammesoberhäuptern und tapferen Kriegern, die aus Knet geformt und mit Stoffresten bekleidet wurden.

Wenn wir zu müde zum Spielen waren, zerrieben wir Eukalyptusblätter und atmeten den heilsamen Duft ein, lauschten dem Wind in den hohen Eukalyptusbäumen und beobachteten die zwitschernden gelben Webervögel, deren Nester wie kleine Höhlen oder Birnen in den höchsten Ästen der Bäume hingen. Oder wir legten uns auf den Boden und blickten nach oben in das feurige Blütenmeer des »Flammenbaumes«, wie wir den »Flame of the Forest« nannten. Abends erzählten wir uns Geschichten – ganze Serien davon, jeden Abend eine neue Episode. Oder wir sangen uns gegenseitig in den Schlaf. Wenn wir morgens aus dem Bett stiegen, machten wir einen gewaltigen Sprung, fast bis zur Mitte unseres Zimmers. Denn in unserer Fantasie wohnte eine Familie von hungrigen Krokodilen unter jedem Bett, deren Lieblingsfutter die zarten Füße von kleinen Mädchen waren.

Für uns war es normal, die Erdbeerpflanzen mit einem langen Stock nach Schlangen abzutasten, bevor wir mit der Hand nach einer saftigen Frucht griffen. Ebenso das Gebüsch, in dem wir unsere Puppenlager bauten. Oder sorgfältig in den Sandalen nach Skorpionen zu schauen, bevor wir sie anzogen. Auch Steine im Garten konnten Skorpione beherbergen, und diese waren gefährlich. Wir dachten, alle Kinder der Welt würden es so machen.

Tanya war schon als kleines Kind über ihre Jahre hinaus reif und vernünftig. Mit Führungsqualitäten ausgestattet, die manch einen Geschäftsführer neidisch machen würden, bestimmte sie mit liebevoller Entschiedenheit das Tagesgeschehen. Ich hatte das große Glück, einziges Objekt ihrer fürsorglichen Aufsicht zu sein. Eine ängstliche, schüchterne kleine Schwester war für sie das perfekte Gegenüber, zumal meine Mutter wenig Geduld mit wehleidigen Kindern – wie ich eins war – hatte, und mich gerne der Regie meiner großen Schwester überließ.

Mitten in diese Kleinkind-Idylle der ersten zwei Afrikajahre platzte eines Tages die Nachricht, dass aus unserem Zweierpack bald ein Dreierpack werden sollte. Mein Vater hatte mit der für ihn typischen Gründlichkeit bereits im Vorfeld im Auftrag seiner Frau die medizinische Versorgung vor Ort ausgelotet. Gerade in der Kleinstadt Vom, nach der unsere Straße benannt war, befand sich ein Missionskrankenhaus.

Ein Geschwisterkind von jetzt auf nachher in unserer Spielwelt unterzubringen war für Tanya und mich unvorstellbar. Wir begrüßten die Aussicht mit einem Naserümpfen und gemischten Gefühlen, beschlossen aber, dass wir einen kleinen Bruder durchaus verkraften könnten – einen mit einem hellblonden Lockenkopf und strahlenden, blauen Augen, wie unsere Mutter. Wir beide, zu unserem ewigen Bedauern, hatten glatte, braune Haare und waren dunkeläugig wie unser Papa.

Es war der 17. April, 1962, und es wurde ein Mädchen, Andrea Denise – mit dunklen Haaren und braunen Rehaugen – ganz der Papa.

Als Rache dafür, dass Andrea nicht der gewünschte Junge war, nannten wir sie am Anfang »Peter«.

Das dritte Mitglied am Rande eines eingeschworenen Zweiergespanns zu sein, war für die kleine Andrea kein einfaches Los. Dies störte sie nicht, solange sie die meiste Zeit in ihrem Kinderwagen verbrachte. Sobald sie aber laufen konnte, spielte sie die Rolle des legendären fünften Rads am Wagen. Sie war nützlich, wenn wir eine lebendige Puppe brauchten, aber die meiste Zeit nervig und unerwünscht. Wir versteckten ihre Spielsachen, uns selber und unsere Geheimnisse, neckten und hänselten sie oft und voller Schadenfreude. Andrea dagegen entwickelte flinke und effektive Abwehrmechanismen. Mit diesen war der Familienfriede der ersten zwei Nigeriajahre mit einem Schlag vorbei. Sie knallte Türen mit einer Gewalt, die die Hausangestellten in die Flucht trieb. Sie inszenierte ihre Wutausbrüche mit einem beeindruckenden Register von Nebeneffekten: stampfen, schreien und sich auf den Boden werfen. Wenn sie irgendein Objekt durch die Luft schleuderte, waren ihre Geschosse zu hundert Prozent treffsicher. Beißen und kneifen konnte sie so schnell und unauffällig, dass sie selten dabei erwischt wurde. Selbst nach den übelsten Missetaten schaute sie erwachsenen Menschen mit umwerfendem Charme in die Augen. Mehr brauchte es meistens nicht, um andere von ihrer Unschuld zu überzeugen. Ihre Fähigkeit, im Dasein von Erwachsenen das misshandelte Opfer zu spielen, brachte uns schier auf die Palme.

Manch ein Gast schmunzelte über die einsame kleine Figur, die fest an ihrem Daumen lutschte und eine alte Decke hinter sich herzog, während sie geduldig hinter zwei großen Schwestern hertrottete, an deren Entdeckungsreisen teilzunehmen versuchte und anfing, laut zu heulen, wenn sie es nicht durfte. Der unermüdliche Einsatz irgendeiner lieben Tante oder Oma aus den Reihen unserer Vorfahren, die stundenlang kunterbunte Vierecke zusammengehäkelt hatte, wurde durch Andrea's Liebe für dieses Stück Wolle in jeder Hinsicht belohnt. Die Decke wurde überall mitgeschleppt – auf Bäume, durch Pfützen, Gras und Schlamm, über Sand und Erde, und abends mit ins Bett. Wenn die Decke doch gelegentlich in die Wäsche musste, trauerte Andrea und lief rastlos in der Gegend herum, bis sie sie von der Leine hinunter und zurück ins Leben holen konnte. In die Decke wurde nach und nach Andrea's ganze Kindheitsgeschichte hineingestrickt.

Andrea trug die Außenseiterrolle ihrer ersten drei Lebensjahre mit der Würde einer Märtyrerin. Sie wurde dafür belohnt. Nach und nach durfte sie zuhören, wenn Tanya und ich die nächste Kletteraktion in den Flammenbaum planten. Wir teilten ihr ihren eigenen Ast zu, wenn wir Decken und Stofftiere den dicken Stamm hochschleppten und Baumhäuser zwischen den hellgrünen Blättern und feurigen Blüten einrichteten. Dann beobachteten wir von unseren Hochsitzen aus, wie der Gärtner Blumenstauden abschnitt, der Koch Tomaten für die nächste Mahlzeit erntete, oder Gäste, die gerade ankamen oder wieder gingen. Im Flammenbaum konnte man es mit der Hilfe einer Wasserflasche und eines Bananenvorrats stundenlang aushalten. Er diente außerdem als ideales Versteck, wenn unerwünschter Besuch kam und wir keine Lust hatten, uns fein zu machen und von unserer bravsten Seite zu zeigen. Von unten konnte man uns in dem dichten Laub nämlich nicht sehen. Als stolze Inhaberin ihres eigenen Astes war Andrea nun endlich ein vollwertiges Mitglied der Clique. Sie erfuhr, wo Schätze vergraben waren und wo Geheimgänge durchs Gebüsch zu einem Lager führten. Weil sie zierlich und wendig war, konnte sie durch die kleinsten Löcher kriechen. Außerdem kletterte sie wie ein...


Vollkommer, Nicola
Nicola Vollkommer (Jg. 1959) ist gebürtige Engländerin und lebt seit 1982 in Reutlingen. Sie engagiert sich in der Christlichen Gemeinde Reutlingen, unterrichtet an der Freien Evangelischen Schule und ist eine gefragte Referentin. Nicola Vollkommer ist mit Helmut verheiratet, das Paar hat vier erwachsene Kinder. Weitere Informationen unter www.nicola-vollkommer-buecher.de

Nicola Vollkommer (Jg. 1959) ist gebürtige Engländerin und lebt seit 1982 in Reutlingen. Sie engagiert sich in der Christlichen Gemeinde Reutlingen, unterrichtet an der Freien Evangelischen Schule und ist eine gefragte Referentin. Nicola Vollkommer ist mit Helmut verheiratet, das Paar hat vier erwachsene Kinder. Weitere Informationen unter www.nicola-vollkommer-buecher.de



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