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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten

Reihe: Die Familie-Boysen-Reihe

Volks Wintergäste

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-423-42849-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten

Reihe: Die Familie-Boysen-Reihe

ISBN: 978-3-423-42849-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte der Familie Boysen »All das Kommen und Gehen in unserer Familie begann mit einem angekündigten Tod und einem unangekündigten Sturm. Mond und Flut, Schnee und Sturm, Brüder und Schwestern, Geliebte und ungeborene Kinder trafen ohne Vorwarnung aufeinander. Über Nacht verwandelte sich unser Haus in eine Insel im Eismeer und unsere Sippe in eine Gemeinschaft Schiffbrüchiger.«   Die Nachricht von Inge Boysens Tod war ein Fehlalarm. Doch da haben sich Kinder und Kindeskinder bereits in dem kleinen Haus hinter dem Deich versammelt. Kurz vor dem Jahreswechsel schneidet ein Schneesturm Haus Tide und seine Bewohner von der Außenwelt ab. Während draußen die Welt vereist, kochen im Innern alte Feindseligkeiten und neue Sehnsüchte hoch.   Drei Generationen in einem eingeschneiten Inselhaus - in wenigen Tagen entfaltet sich zwischen ihnen das Leben in seiner ganzen Tragik, Komik und Magie.   Die Geschichte der Boysens geht in >Die Glücksreisenden< weiter!

Sybil Volks lebt als Autorin in Berlin. Sie hat mehrere Romane sowie Erzählungen und Gedichte veröffentlicht. Der historische Berlin-Krimi >Café Größenwahn< war nominiert für den Glauser-Preis als bestes Krimidebüt. Ihr hochgelobter Roman >Torstraße 1< erzählt von zwei Familien und einem geschichtsträchtigen Gebäude im Herzen Berlins. 2015 erschien der Roman >Wintergäste< um drei Generationen in einem eingeschneiten Inselhaus, der ein Bestseller wurde. In ihrem vierten Roman >Die Glücksreisenden< gibt es ein Wiedersehen mit Haus Tide und den Boysens aus >Wintergäste<.
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Erstes Intermezzo von der anderen Seite der Kugel


Valparaíso, das Paradiestal, liegt staubig und träge in der Mittagshitze wie die Katzen, die im Schatten auf den ausgetretenen Stufen der Hauseingänge schlafen. Zum Schutz gegen die steil von oben brennende Sonne wäre eine Schirmmütze nützlich, doch Boy hat keine Lust, wie einer dieser albernen Touristen herumzulaufen. Ein Rest Würde muss sein, auch wenn man bancarrota, broke, pleite, kaputt ist. Gestern der unvermeidliche Abstieg vom Hotel in die Absteige. Doch selbst eine durchgelegene Matratze und der Blick auf die Mülltonnen im Hof sind nicht umsonst im Leben. Boy bleibt stehen, drückt sich in einen Hauseingang, zählt die Scheine und Münzen im Portemonnaie, überschlägt, für wie viele Tage es ausreicht. Viel ist es nicht, kann man in einer Nacht verbrennen, hat er oft genug gemacht. Mit dem billigsten Bett, der nötigsten Nahrung lässt sich damit zur Not auch eine Woche älter werden, auch das hat er schon mehr als einmal geschafft. Das war allerdings vor dem Sturz, als seine Knochen und sein Optimismus noch unversehrt waren. Jetzt bezahlt er doppelt für Absteigen und durchgelegene Matratzen, mit letzten Scheinen und einem beim Aufwachen schmerzenden Rücken.

Boy lässt sich auf die Treppe vor der orangefarbenen Haustür fallen. Beinahe hätte er sich auf die im Eingang schlafende rote Katze gesetzt, der ein halbes Ohr fehlt; sie öffnet einen Spaltbreit die Augenschlitze, faucht ihn an, er beginnt sie zu kraulen. Sie faucht leiser, lässt ihn kraulen, ganz allmählich geht das Fauchen in Schnurren über. Er lächelt. Sie erinnert ihn an wen, hatte ebenfalls rote Haare, lang ist’s her. Mit der freien Hand nimmt Boy die Wasserflasche aus dem Rucksack, trinkt den vorletzten Schluck. Er muss dringend für Nachschub sorgen.

Das hat es seit Jahren nicht gegeben, dass er in einem Hafen gestrandet ist ohne Anschlussvertrag, ohne das nächste Engagement, das ihn auf einem anderen Schiff in einen anderen Hafen brachte, Kost und Logis und mehr oder weniger Lohn gegen allabendliches Geklimper auf dem Schiffsklavier oder Schifferklavier. Notfalls kann man auch an Land gegen Bares klimpern, sagt er sich, in einem Hotel oder Restaurant. Doch wer weiß, ob sie einen Gringo wie ihn in Chile Bandoneon spielen lassen. Die Touristen wollen einen Latino für ihr Geld, lackschwarzes Haar und Kaffeehaut – wozu fliegt man um die halbe Welt? Er trinkt einen lauwarmen Schluck Wasser, hält die Flasche kopfüber, schüttelt die letzten Tropfen in den Mund. Ein Auftritt in irgendeiner Kaschemme für die Einheimischen, das wäre für ihn die letzte betretbare Stufe. Nur nicht auf der Straße spielen, nie wieder, eher hält er irgendjemandem seinen nicht mehr ganz taufrischen Arsch hin. »People are strange, when you’re a stranger«, singt er leise, »faces look ugly, when you’re alone. Women seem wicked, when you’re unwanted. Streets are uneven, when you’re down.«

Unverhofft öffnet sich in seinem Rücken die Tür, eine Frauenstimme kreischt, dass der hijo de puta, der Hurensohn, mitsamt seinem dreckigen Hintern verschwinden soll, so viel kann er dem Wasserfall ihrer Verwünschungen entnehmen. Noch ehe er ganz auf den Beinen ist, ergießt sich ein Schwall Putzwasser über seine Füße. Das Wasser versickert wie nichts zwischen den Steinen, der Boden ist durstig wie er; seit Wochen ist kein Tropfen gefallen, aber das ist nichts Besonderes hier im Dezember. Die rote Katze hat sich maunzend aufgerappelt, ihr Bauch hängt fast bis zum Boden. Wenn das hier ihr Zuhause ist, werden die Kleinen im Handumdrehen ersäuft. Boy dreht sich zur Alten und lüpft den Hut.

»Danke für die Erfrischung«, sagt er zum Abschied und meint es – die Abkühlung hat ihn auf Trab gebracht. Wollen doch mal sehen, was hinter der nächsten Biegung auf ihn wartet. Der Stillstand des Mittags löst sich auf, fließt hinüber in einen dunstblauen Nachmittag. Man kann wirklich nie wissen.

Nehmen wir zum Beispiel diesen Bankrott. Sein nächstes Engagement wäre bei einer Reederei gewesen, die von heute auf morgen hops gegangen war. Die alte Gesellschaft war nicht mehr für ihn verantwortlich, die neue hatte sich in Luft aufgelöst. Geradezu ausgesetzt hat er sich gefühlt in dieser Bucht am Pazifik, seinem Schicksal überlassen, gestrandet. Sein Pech, hat es geheißen. Doch in diesem Augenblick, als er am Ende der engen Gasse weit unter sich das Gleißen des Meeres erahnt, den Schweiß in den Nacken rinnen fühlt, die fremde Luft einsaugt, in dieser Sekunde, als die ersten klaren Pianoklänge durch die geschlossenen Fensterläden dringen – »This is just a little samba, built upon a single note« –, ist er beinahe sicher, dass der Bankrott sein Glück gewesen ist oder doch eines seiner Glücke.

Nie hätte er sie sonst näher kennengelernt, die geschundene Schöne, ausgebreitet auf fünfundvierzig Hügeln, das Gesicht zum Meer gewandt, die Geliebte der Hippies und der Bohème, durch deren krumme Gassen der Duft von Musik und Freiheit wehte. Bis eines Septembertages das Dröhnen der Militärstiefel Musik wie Freiheit siebzehn lange Jahre zum Schweigen brachte. Ausgerechnet vom Hafen des Paradiestales aus hatte sich das Grauen seinen Weg gebahnt, die Hügel aufwärts von Haus zu Haus, durch die Stadt und das Land. Die Plätze und Gassen, zuvor von Gelächter und Leben erfüllt, lagen an den Abenden totenstill. In den Nächten sammelten Soldaten die Leichen von den Straßen, noch vor dem Morgengrauen wurde das Blut von den Bürgersteigen gespült. Zwei Monate nach dem Putsch waren die jungen Männer aus der Stadt verschwunden. Inzwischen sind sie zurückgekehrt ins Paradiestal, die jungen Menschen, die Musik. Aber nicht die Toten, verbessert sich Boy, die Toten sind nicht zurückgekehrt. Die Jugend der damals Jungen kam niemals zurück. Das Leben ging ohne sie weiter. Es geht immer weiter.

Es geht weiter am Cerro Alegre, »fröhlicher Hügel« genannt wegen der Klaviermusik, die einst aus den Wohnzimmern drang und zwischen den Hängen hallte, heißt es. Es spielt weiter am fröhlichen Hügel, wo die alten Melodien wieder aufgenommen und neu gemischt werden und die Stromkabel schief in den Gassen baumeln wie geschmolzene Notenlinien.

Die Treppe zu einem der Häuser mit ihren weiß gemalten Stufen und schwarzen Balken gleicht einer Klaviatur. Boy springt die Stufen hinauf und hinab – D7 – Db7 – C7 – B7 – und summt dazu. »This is just a little samba, built upon a single note. Other notes are sure to follow, but the root is still that note.«

Am Ende der Gasse öffnet sich der Blick auf zwei Meere. Das Türkise, Gelbe, Rote, Grüne, Weiße der über die Hügel gewürfelten Häuser und der ihnen zu Füßen liegende dunkelblaue Pazifik. Boy hält die Hand über die Augen, geblendet, und dankt dem Gott des Bankrotts. Nie hätte er sonst ein Stückchen kennengelernt von diesem Chile, das sich mehr als viertausend Kilometer in die Länge zieht, vom südlichen Wendekreis bis hinunter nach Feuerland und Kap Hoorn, wo die höchsten Gipfel fast siebentausend Meter in den Himmel wachsen und das Meer vor der Küste achttausend Meter in die Tiefe fällt. Ein Land wie ein Rückgrat, eine einzige Küstenlinie, als gelte es, wenn man schon Land sein muss, sich niemals weiter als nötig vom Meer zu entfernen. Eines der Länder, das er sich ausgewählt hätte zum Leben, wäre es einzig und allein nach der Silhouette gegangen. Und hätte keine Insel zur Wahl gestanden, kein Archipel, kein Schiff.

Der Anblick von oben ist atemberaubend, die geschwungene Bucht, der Hafen, die farbigen Häuserwürfel und Containerstapel, vom Wind zerzauste Palmen und die Schiffe weit draußen an einem Horizont, der auf Tausende Kilometer Wasser und nichts als Wasser hinausweist. Boy fühlt sein Herz höher schlagen. Wieder einmal ist er frisch verliebt. Doch es fällt ihm nicht schwer, sich loszureißen von dieser Aussicht in einer Stadt, in der hinter jeder Ecke ein weiterer nie gesehener und ebenso hinreißender Anblick wartet. Diese Schönheit ist ganz nach seinem Geschmack. Man kann sie erobern, entdecken und ohne Bedauern verlassen. In jedem Hafen lässt er eine Hafenstadt zurück.

Auch in diesem Café ist einmal Blut geflossen. Das »Café Vinilo« war früher eine Metzgerei. Heute dreht sich schwarzes Vinyl auf den Plattentellern. Boy ist wegen des Namens gekommen und weil er gehört hat, dass dies ein Ort ist, an dem man bleiben kann, auch wenn man sich stundenlang an ein Glas Wasser klammert. Ein Ort, an den manche Gäste ihre eigenen Platten mitbringen, weil ihre Plattenspieler kaputt sind, auf dass ihr Song gespielt und ihre Sehnsucht gestillt wird.

Ein Blick durch die Glasscheibe genügt ihm, um zu erkennen, dass die Zeit hier nicht stehen geblieben ist und die Wasserglas-Geschichte zur Gattung »Es war einmal« gehört. Das »Café Vinilo« ist einer der vielen Orte auf der Welt, den Menschen des 21. Jahrhunderts auf ihrer erbitterten Suche nach dem Authentischen heimsuchen, so lange und zahlreich, bis er sich in eine Kulisse seiner selbst verwandelt. Eine schöne Kulisse allemal.

Boy setzt sich an einen der dunklen Holztische vor einer heiter gefliesten Wand. Am frühen Nachmittag ist das Lokal fast leer, doch es bedarf keiner überbordenden Fantasie, um sich auszumalen, wie es sich am Abend mit Leben füllen wird unter den Regalen voller Weinflaschen, den gerahmten Vinylscheiben hinter Glas, auf den Barhockern vor der alten Fleischertheke, in der jetzt Bierflaschen Marke Cerro Alegre neben Café-Vinilo-T-Shirts und alten Platten liegen. Auf einer anderen Theke stehen zwei Plattenspieler, dahinter Hunderte Schallplatten, und Boy sieht vor sich, wie...


Volks, Sybil
Sybil Volks lebt als Autorin in Berlin. Sie hat mehrere Romane sowie Erzählungen und Gedichte veröffentlicht. Der historische Berlin-Krimi ›Café Größenwahn‹ war nominiert für den Glauser-Preis als bestes Krimidebüt. Ihr hochgelobter Roman ›Torstraße 1‹ erzählt von zwei Familien und einem geschichtsträchtigen Gebäude im Herzen Berlins. 2015 erschien der Roman ›Wintergäste‹ um drei Generationen in einem eingeschneiten Inselhaus, der ein Bestseller wurde. In ihrem vierten Roman ›Die Glücksreisenden‹ gibt es ein Wiedersehen mit Haus Tide und den Boysens aus ›Wintergäste‹.

Sybil Volks lebt als Autorin in Berlin. Sie hat mehrere Romane sowie Erzählungen und Gedichte veröffentlicht. Der historische Berlin-Krimi ›Café Größenwahn‹ war nominiert für den Glauser-Preis als bestes Krimidebüt. Ihr hochgelobter Roman ›Torstraße 1‹ erzählt von zwei Familien und einem geschichtsträchtigen Gebäude im Herzen Berlins. 2015 erschien der Roman ›Wintergäste‹ um drei Generationen in einem eingeschneiten Inselhaus, der ein Bestseller wurde. In ihrem vierten Roman ›Die Glücksreisenden‹ gibt es ein Wiedersehen mit Haus Tide und den Boysens aus ›Wintergäste‹.



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