Volkov | Deutschland aus jüdischer Sicht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 337 Seiten

Volkov Deutschland aus jüdischer Sicht

Eine andere Geschichte

E-Book, Deutsch, 337 Seiten

ISBN: 978-3-406-78172-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Juden in Deutschland haben Revolutionen und Kriege, nationale und demokratische Bewegungen, Reichsgründung und Wiedervereinigung oft anders erlebt als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov erzählt die deutsche Geschichte erstmals konsequent aus jüdischer Sicht. Zu hören sind die Stimmen von bekannten Schriftstellern wie Heinrich Heine und Stefan Zweig, aber auch von unbekannten Beobachtern des deutschen Weges in Nationalstaat, Demokratie und Diktatur, Kriegs- und Nachkriegszeiten. Ein faszinierender Durchgang durch eine 'andere' Geschichte, der uns auch die Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt.
Shulamit Volkov verwebt meisterhaft verschiedene jüdische Perspektiven auf Revolutionen und Kriege, politische Bewegungen und Ideologien, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu einem neuen Bild von der deutschen Geschichte. Sie lässt uns die Aufklärung mit den Augen Moses Mendelssohns sehen, den Wiener Kongress aus der Perspektive jüdischer Delegationen und die Revolution von 1848 aus Sicht der Opfer antijüdischer Ausschreitungen. Die Familien Liebermann und Rathenau haben Kaiserzeit, Ersten Weltkrieg und den Beginn der Weimarer Zeit anders erlebt als nichtjüdische Deutsche. Bertha Pappenheim, Käte Frankenthal und Hannah Arendt geben der Zwischenkriegszeit eigene Konturen. Besonderes Augenmerk gilt dem Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach, in denen Fritz Bauer oder Ignatz Bubis kritisch auf die Zeit von Wirtschaftswunder und deutscher Einheit blickten. In ihrem konzisen Buch führt Shulamit Volkov die deutsche und die deutsch-jüdische Geschichte so zusammen, dass sie am Ende untrennbar erscheinen.
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Einleitung Ein jüdischer Blick – Plural und Singular
Die Geschichte der in Deutschland lebenden Juden könnte sowohl als ein Kapitel der jüdischen Geschichte als auch als eines der deutschen Geschichte geschrieben werden. Diese zweite Möglichkeit wurde jedoch nur selten realisiert. Obwohl sich die Geschichtsschreibung, welche die Juden in der deutschsprachigen Welt Mitteleuropas zum Gegenstand hatte, von Beginn an parallel zur allgemeinen Historiographie dieses Teils Europas entwickelte, gab es nur vereinzelte Versuche, die beiden Erzählstränge über einen längeren Zeitraum zusammenzuführen. Diese Stränge entwickelten ihre akademische, wissenschaftliche Form in den frühen Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts unter dem methodologischen Einfluss Leopold von Rankes und der philosophischen Autorität Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Bald wurde die jüdische Geschichte jedoch zu einer unabhängigen Disziplin innerhalb der Wissenschaft des Judenthums und blieb lange eine mehr oder weniger ausschließlich jüdische Domäne. Während sich die deutsche Geschichte im Rahmen einer neuen Disziplin weiterentwickelte, die sich mit Machtpolitik, Diplomatie, allgemeiner Staatsführung und insbesondere dem Nationalstaat beschäftigte, war die jüdische Geschichte in Ermangelung einer politischen Machtsphäre nicht in der Lage, dieselben Interessen zu entfalten, und wurde zunehmend marginal. Wer über deutsche Geschichte schrieb, stieß meist auf Themen, die dringlicher und bedeutsamer erschienen. Als man mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung begann, interessierte das diejenigen, deren Leben sich außerhalb der akademischen Sphäre bewegte, eher wenig, und das galt für Juden ebenso wie für Nichtjuden. Geschichte wurde noch nicht als ein Mittel betrachtet, das Selbstverständnis und Selbstbestimmung fördert. Tatsächlich war die wichtigste Quelle der jüdischen Identität, wie auch die der meisten Nichtjuden, seit Generationen die Religion gewesen. Nur allmählich, in einem keineswegs linear verlaufenden Prozess, lernten die Europäer, sich nicht nur als Angehörige einer bestimmten religiösen Gruppe wahrzunehmen, sondern auch und vor allem als Teil einer bestimmten Ethnie, eines Volkes, sogar einer Nation. In Deutschland dauerte dieser Prozess besonders lang und war auch besonders kompliziert. Man fühlte sich aus einer Vielzahl von Gründen weiterhin und manchmal zunehmend den relativ kleinen, partikularen politischen Einheiten verbunden. Die Menschen verstanden sich beispielsweise primär als Preußen, Bayern oder Hannoveraner und erst sekundär, falls jemals, als Deutsche. Im späten achtzehnten Jahrhundert konnten noch Goethe und Schiller fragen: «Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.»1 Tatsächlich, die meisten deutschsprachigen Bewohner dieses Teils der Welt waren lange unsicher, wo Deutschland lag und ob sie zu diesem Land überhaupt stehen könnten. Und doch festigte sich mit der Zeit ihr Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Nation, während Fragen der jüdischen Identität, die in der Vergangenheit eher einfach und selbstverständlich schienen, zunehmend komplex wurden. Selbst im Mittelalter, als alle Gruppendefinitionen mit einer religiösen Bildsprache unterlegt waren, wurden Juden als ethnisch definierbare Gruppe betrachtet, die soziale und kulturelle Charakteristika besaß, die sich nicht auf die Religion und die mit ihr verbundenen moralischen Normen und Verhaltensregeln beschränkten. Schließlich war die biblische Auffassung, dass die Hebräer ein Volk seien, tief im Bewusstsein der Juden und des christlichen Europa verankert. Obwohl keine allgemeine Übereinkunft darüber bestand, ob es eine klare Verbindung zwischen dem biblischen Volk Israel und den zeitgenössischen Juden gab, hatte man eine solche Verbindung stets angenommen. In der frühen Moderne interessierten sich deutsche Theologen – manchmal nannte man sie Orientalisten oder, genauer, sogar Hebraisten – zunehmend für die Juden ihrer Zeit, für ihren Alltag und ihre Sprachen. So wurde das Leben der zeitgenössischen europäischen Juden oft zur Informationsquelle über die alten Hebräer und umgekehrt. Der einflussreichste Interpret der Geschichte der alten Hebräer war der Philosoph und Theologe Johann Gottfried Herder. Er zweifelte zwar nie ihre Leistung an, als Volk einen so gewichtigen literarischen Schatz hervorgebracht zu haben, verachtete aber trotzdem, wie Voltaire auf der anderen Seite des Rheins, die zeitgenössischen Juden, ihre vermeintlichen Eigenheiten und ihre Art von Gemeinschaftsleben. Etwa zur selben Zeit beharrte Johann David Michaelis, ein hoch geschätzter Orientalist an der Universität Göttingen, darauf, dass sich die unter der brennenden Sonne der riesigen Wüsten des Nahen Ostens entstandenen Charakteristika der Juden niemals ändern könnten. Die Juden könnten sich auch niemals in das Europa der Aufklärung einfügen oder an die sich damals schnell herausbildende deutsche Nationalkultur anpassen.2 Interessanterweise glaubten Juden oft selbst, singuläre Eigenschaften zu besitzen, jenseits ihrer Religion und über diese hinaus. Schließlich lebten sie gemäß einer gemeinsamen halachischen Ordnung in einer strengen Endogamie und einem umfangreichen System sozialen Zusammenhalts. Obwohl sie seit jeher eine weit verstreute Diaspora bildeten, waren sie immer sowohl eine Religionsgemeinschaft als auch eine Nation. Im neunzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der Emanzipation, voranschreitender Säkularisierung und der Umwälzungen durch Revolution und Industrialisierung, suchten auch sie nach neuen Quellen für ihre Identität, einer neuen Definition ihrer selbst – als Gruppe und als Einzelne. Sie brauchten, ebenso wie die Nichtjuden dieser Zeit, eine neue Interpretation ihrer Vergangenheit, von der man sich eine bessere Zukunft versprechen konnte. Beide erforschten nun jeweils ihre eigene Geschichte, und so vergrößerte sich allmählich die Kluft zwischen jüdischer und nichtjüdischer Geschichte. In beiden Fällen reichte der bloße, über Generationen durch vorgeschriebene Rituale und heilige Texte tradierte Erinnerungsschatz nicht mehr aus. Die gemeinsame Erinnerung an vergangene Ereignisse musste nun durch ein wissenschaftlich beglaubigtes Narrativ gestützt oder sogar ersetzt werden.3 Sowohl Christen als auch Juden suchten nach einer Geschichte, die einerseits wissenschaftlichen Standards entsprechen sollte, andererseits aber ihren Interessen entsprach, die in den passenden «Quellen» verankert war und zugleich der Stimmungslage der Moderne entgegenkam. Nicht einmal die nach 1945 vor allem in Westdeutschland wieder auflebende jüdische Geschichtsschreibung konnte diese jahrhundertalte Spaltung überwinden. Man hätte vermuten können, dass die deutsche Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische Themen nicht mehr ignorieren könnte. Die Ungeheuerlichkeit der Katastrophe, die europäische Juden durch die Nationalsozialisten, ihre Helfer und Helfershelfer erleiden mussten, würde nicht erlauben, dieses Thema zu übergehen. Doch dies war nicht der Fall. Karl Dietrich Bracher verfasste die erste historische Abhandlung über Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus. Lediglich ein kurzer Abschnitt seines berühmten Buches Die deutsche Diktatur (1969) handelte von den sechs Weltkriegsjahren und ein noch kürzerer – 12 von 550 Seiten – von der sogenannten Endlösung. Und das war kein rein deutsches Phänomen. Eines der brauchbarsten und viel gelesenen Bücher über das moderne Europa damals, Europe Since Napoleon (1961) des englischen Historikers David Thomson, erwähnt die europäischen Juden so gut wie überhaupt nicht und geht nur ganz kurz über die elementarsten Fakten zum Holocaust hinaus. In den ersten Nachkriegspublikationen blieb die jüdische Erfahrung während der NS-Zeit bestenfalls ein separates Thema; fast nie wurde sie zum integralen Teil dieser extensiv und intensiv erforschten Periode. Erst später näherten sich die jüdische und die nichtjüdische Geschichte in Deutschland und anderswo einander an. Jüngere Historiker begannen, über das Schicksal der Juden in Friedens- und Kriegszeiten zu arbeiten, und versuchten jetzt, deren Geschichte in ihre Darstellung zu integrieren. In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts entstand besonders in Nordamerika eine neue jüdische Geschichtsschreibung. Als man sich allmählich von der einst so zentralen Vorstellung von den USA als melting pot distanzierte, gewannen die ethnischen Minderheiten, die sich über ihre sogenannte Bindestrich-Identität definierten, an Bedeutung. Man schrieb über...


Shulamit Volkov ist emeritierte Professorin für Vergleichende Europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv und Mitglied der israelischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessuren und Fellowships führten sie nach München, Berlin, Oxford und New York. Sie wurde mit dem Friedrich-Gundolf Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie mit dem Humboldt-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschien von ihr zuletzt "Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland" (2012).


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