E-Book, Deutsch, 196 Seiten, Format (B × H): 1550 mm x 225 mm, Gewicht: 326 g
Vokinger / Kradolfer / Egli Begegnungen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-03805-428-3
Verlag: buch & netz
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Beiträge von Assistierenden zum 50. Geburtstag von Thomas Gächter
E-Book, Deutsch, 196 Seiten, Format (B × H): 1550 mm x 225 mm, Gewicht: 326 g
ISBN: 978-3-03805-428-3
Verlag: buch & netz
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sozialversicherungsrecht, Gesundheitsrecht und öffentliches Recht – in diesen Rechtsgebieten prägt das wissenschaftliche Schaffen von Prof. Dr. Thomas Gächter die juristische und gesellschaftliche Diskussion. Aus Anlass seines 50. Geburtstags denken (ehemalige) AssistentInnen im Rahmen einer Jubiläumsschrift über aktuelle sozialversicherungsrechtliche, gesundheitsrechtliche und öffentlichrechtliche Problemstellungen nach, die sich aus Begegnungen mit Thomas Gächter ergaben. Die Beiträge vermitteln einen Überblick über Entwicklungstendenzen in den genannten Rechtsgebieten sowie über gegenwärtige und zukünftige Fragen, mit denen sich Praxis und Rechtsetzung zu befassen haben werden.
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Inhalt
Wie alles begann
Die meisten Studierenden der Rechtswissenschaft zieht es nach Abschluss des Studiums ins Anwaltspraktikum oder sie schreiben eine Doktorarbeit. Ich hatte andere Pläne: Seit meinem fünften Lebensjahr tanzte ich Ballett. Da ich meine Leidenschaft zum Beruf machen und der nächsten Generation diese Leidenschaft für die Bühne weitergeben wollte, absolvierte ich nach dem Studium eine Ausbildung zur Ballett- und Tanzpädagogin an der «Accademia Teatro alla Scala» in Mailand, Italien. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre und war eine Mischung aus Präsenzunterricht für die Praxis und Theorie von zu Hause aus. Da sich die Ausbildung an Berufstätige richtete, war ich nicht zu 100% ausgelastet, weshalb ich eine Teilzeitstelle als Juristin suchte. Ich war jung und naiv und glaubte, Teilzeitstellen für Juristen würden auf der Strasse liegen. Aber weit gefehlt! Damals waren Teilzeitstellen generell rar und für Juristinnen und Juristen frisch ab Studium praktisch inexistent. Es hagelte Absage um Absage, z.T. mit dem Hinweis, dass ich für eine Vollzeitstelle zu einem Gespräch eingeladen werden würde, nicht aber für eine Teilzeitstelle. Anfangs scherzte ich, dass ich doktorieren würde, falls ich keine Teilzeitstelle finden sollte. Irgendwann wurde aus Spass Ernst. Eigentlich wollte ich das Anwaltspraktikum absolvieren und die Anwaltsprüfung bestehen, um dann als Anwältin in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten; selbstverständlich in Teilzeit, damit ich auch noch Ballett unterrichten könnte. Aber es kommt nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt…
Nach einem Jahre des erfolglosen Bewerbens realisierte ich, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war. Also informierte ich mich über das Doktorat. Leider war mein Lizenziat II nicht so brillant und ich war ein Fall von §10 Abs. 2 der Promotionsverordnung der Universität Zürich. Ich musste mir ein Fakultätsmitglied suchen, welches sich bereit erklären würde, meine Betreuung zu übernehmen. Strategisches Handeln war also angezeigt. Ich erinnerte mich mit grosser Freude an die Vorlesungen im Sozialversicherungsrecht, welche von Prof. Thomas Gächter gelesen wurden und bei mir auf grosses Interesse stiessen. Sozialversicherungsrecht war damals ein Wahlfach und wir waren dementsprechend wenige Studierende, die diese Vorlesung besuchten. Ich gehörte zu denjenigen Studierenden, die die Prüfungsfächer nach Interesse (und nicht nach möglichst geringem Lernaufwand) aussuchten. Und so hatte ich eine mündliche Prüfung bei Thomas Gächter im Sozialversicherungsrecht. Wir waren damals drei (!) Studierende, die diese Prüfung ablegten und ich war die einzige Frau (!). Ich schnitt ziemlich gut ab, was mir die Hoffnung gab, dass Thomas Gächter sich vielleicht – auch nach zwei Jahren – an mich erinnern könnte und sich bereit erklären würde, mein Doktorvater zu werden. Nervös griff ich zum Telefonhörer, bereit meinen zuvor auswendig gelernten Text vorzutragen und was sagte Thomas Gächter, nachdem ich meinen Namen gesagt habe? «Auf Sie habe ich gewartet.»
Planlos wie ich war, hatte ich nicht einmal ein mögliches Dissertations-Thema. «Irgendwas mit Sozialversicherungsrecht», war mein Wunsch. Thomas Gächter unterbreitete mit daraufhin ein paar Vorschläge und ich wählte das ungeheuer weite Feld «Angehörigenpflege». Seine damalige Assistentin Brigitte Blum-Schneider gab mir Starthilfe und so fing ich an zu diesem Thema zu recherchieren und schreiben. Einige Monate, nachdem ich mit meiner Dissertation begonnen hatte, bot mir Thomas Gächter eine Assistentenstelle bei ihm am Lehrstuhl an. Eine Teilzeitstelle! Mit allen Freiheiten der Welt! Flexible Arbeitszeiten, freie Arbeitsgestaltung, Möglichkeit zum Home-Office. Ich war im Paradies gelandet. Der einzige Nachteil: So eine Stelle und so einen Chef gibt es kein zweites Mal. Gibt es doch, wie ich mittlerweile weiss.[1]
Ich bekam von Thomas Gächter zahlreiche Publikationsmöglichkeiten, die mir bis heute viele Türen geöffnet haben und sicher weiterhin öffnen werden. Gerade mein Dissertationsthema «Angehörigenpflege» ist in den letzten Jahren stark in den Fokus der Politik gerückt.
Da das Thema «Angehörigenpflege» extrem breit ist und niemand genau weiss, wer denn eigentlich diese «Angehörige» sind, habe ich mein Thema darauf eingeschränkt, die sozialversicherungsrechtliche Absicherung unentgeltlich pflegender Personen im Erwerbsalter zu untersuchen.[2] Ich klärte ab, was informell pflegende Personen von den Sozialversicherungen für ihre Arbeit erhalten (nichts[3]), was die gepflegte Person von den Sozialversicherungen zur Finanzierung ihrer informellen Pflege erhält (wenig[4]) und wo der informell pflegenden Person Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung entstehen (überall[5]), wenn sie ihr Arbeitspensum wegen der hohen Pflegebelastung reduzieren oder aufgeben muss.
Meine Dissertation erschien im Jahr 2016. In den letzten fünf Jahren scheint das Thema das Interesse der Politik und der Bundesämter geweckt zu haben. Ich erhielt im letzten Jahr und diesem Jahr verschiedene Anfragen, mich zu diesem Thema zu äussern. Tatsächlich wurde auch einiges im Bereich der «Angehörigenpflege» gemacht. Wurde aber genug getan?
Ausgangslage
Überalterung der Gesellschaft
Warum ist das Thema «pflegende Angehörige» überhaupt so wichtig? Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2011 über Pflegebedürftigkeit und deren Auswirkungen droht eine Überalterung der Gesellschaft.[6] Zumindest für die Schweiz scheint sich diese Prognose zu verwirklichen: Im Jahr 2019 gehörten bereits 18,7% der Wohnbevölkerung zur Gruppe der über 64-Jährigen. Parallel dazu steigt auch die Anzahl der pflege- und betreuungsbedürftigen Personen. Die Klientel von ambulanten Pflegediensten wuchs auf 394‘400 Personen an. Dazu kommen etwa 164‘600 pflegebedürftige Personen in den Pflegeheimen der Schweiz.[7] Die Anzahl der pflegebedürftigen Personen in der Schweiz wird also in den nächsten Jahren weiter ansteigen.[8] Obwohl viele Menschen bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen, steigt auch die Anzahl der pflegebedürftigen Personen.[9]
Auch die Anzahl der an Demenz erkrankten Personen steigt: Aktuell leben in der Schweiz über 144‘300 Menschen mit Demenz und verursachen Gesamtkosten von geschätzten CHF 11,8 Mrd., wovon CHF 5,5 Mrd. von den Angehörigen getragen werden. Diese Kosten entsprechen dem Marktwert der unbezahlten Pflege- und Betreuungsleistungen durch Angehörige und Nahestehende.[10] Die demografische Entwicklung in der Schweiz wird auch in naher Zukunft eine der grossen politischen Herausforderungen bleiben.
Pflegekräftemangel
Zur Überalterung der Gesellschaft hinzu kommt ein Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften, welcher sich in Zukunft zu verschärfen droht. Da die Politik diesbezüglich weitgehend untätig blieb, lancierte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) eine eidgenössische Volksinitiative für eine starke Pflege. Die Initiative hat zum Ziel, dem Pflegekräftemangel durch Massnahmen wie die staatliche Unterstützung der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften, Erhöhung des Ausbildungslohnes und der Definition und Förderung von Weiterbildung entgegenzuwirken. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments wurde am 19. März 2021 verabschiedet.[11]
Ein grosser Teil der Pflege- und Betreuungsaufgaben wird durch informell pflegende Personen, wie eben Angehörige, abgedeckt. Ungefähr 600‘000 Personen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene und gar hochaltrige Personen – übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben für Angehörige, wovon rund zwei Drittel der Erwachsenen mit Betreuungsaufgaben erwerbstätig sind. Die zahlenmässig grösste Gruppe an betreuenden Angehörigen sind Frauen und Männer im Alter von 50 bis 65 Jahren.[12]
Im Hinblick auf den drohenden bzw. den sich bereits verwirklichten Pflegekräftemangel wird der Pflege und Betreuung durch informell pflegende Personen immer grössere Bedeutung zukommen.[13]
Zwischenfazit
Aus diesen beiden Gründen – der Überalterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden steigenden Anzahl von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen sowie dem Pflegekräftemangel – wird die Übernahme von Pflege- und Betreuungsaufgaben durch informell pflegende Personen an Bedeutung gewinnen. Durch die Kombination der Überalterung mit dem Pflegekräftemangel droht die Versorgung von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen durch formelle Pflege und Betreuung allein nicht mehr gesichert zu sein. Zudem stellt sich die Frage nach den Kosten, d.h. wie soll künftig sowohl die formelle als auch die informelle Pflege und Betreuung finanziert werden? In Bezug auf die informelle Pflege sind die Kosten zwar vorläufig aufgeschoben, aber lange nicht aufgehoben.[14]
Probleme
Absicherung der informell pflegenden Person
Ein grosses Problem ist die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung der informell pflegenden und betreuenden Personen. Oft wächst der Pflege- und Betreuungsaufwand so stark, dass die informell pflegende Person – wenn sie noch im Erwerbsleben steht – ihr Arbeitspensum reduzieren oder ihre Erwerbstätigkeit gänzlich aufgeben muss. Problematisch ist, dass unser Sozialversicherungssystem weitegehend...