Vojnovic / Vojnovic | Vaters Land | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Vojnovic / Vojnovic Vaters Land


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99037-056-8
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-99037-056-8
Verlag: Folio
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Unerschrockenheit, schwarzer Humor und doch große Ernsthaftigkeit prägen Goran Vojnovi?s private Geschichte über die Wurzeln der Selbstzerstörung Jugoslawiens. Als Vladan Borojevic den Namen seines Vaters googelt, stößt er auf ein dunkles Geheimnis: Er findet sich als Sohn eines flüchtigen Kriegsverbrechers wieder. So bricht er auf zu einer Reise durch ein zerstörtes und von Misstrauen zerfressenes Land. Selbst im Visier von Geheimdiensten sucht er nach einem Vater, der ihn als Elfjährigen verlassen hat, getrieben von der Sehnsucht nach einer Familie und einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt.

Goran Vojnovi?, geboren 1980 in Ljubljana. Studium der Regie an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana. Enfant terrible und einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Sein Romanerstling ?efuri raus! hatte den Rücktritt des slowenischen Innenministers zur Folge. Erfolgreicher Regisseur zahlreicher Filme. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.
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1


Meine Kindheit endete unversehens an einem ganz gewöhnlichen Frühsommertag des Jahres 1991. Es war ein schwüler Tag, und die Erwachsenen flehten schon seit dem frühen Morgen das nachmittägliche Gewitter herab, während wir Kinder uns verwundert fragten, woher alle, die in den Kleingärten von Šijana weder Tomaten noch Zucchini zogen, mitten in der Badesaison ein Bedürfnis nach Regen verspürten. Unsere Welt war damals eben noch immer sehr verschieden von der Welt unserer Eltern, und die Erwachsenen waren für uns größtenteils Wesen von einem anderen Stern, die uns nur interessierten, wenn sie ohne Arme oder Beine waren, wenn sie ihre Haare oder Bärte bis zum Boden hinunter wachsen ließen, sich wie Indianer kleideten, tätowierte Rücken hatten oder Muskeln wie Rambo 1, 2 und 3.

Einen dieser interessanten Erwachsenen zu besichtigen hatten wir uns an diesem heißen Morgen auf den Weg gemacht. Mario und Siniša konnten nämlich einfach nicht glauben, dass ich den Typ mit der roten Beule im Gesicht noch nicht gesehen hatte, von der manche behaupteten, dass sie nur ein großer Gehirntumor sei, andere hingegegen, dass es sich um Bulimie handle, eine neue Krankheit, über die man bereits im Fernsehen sprach und die angeblich, wie Siniša behauptete, den Kopf des Betreffenden langsam in eine große rote Beule verwandelte. Den Typ mit der Beule hätten bis dahin schon alle gesehen außer mir, behauptete Mario, während Siniša ein Erlebnis nach dem anderen mit ihm in der Hauptrolle aufzählte. So sei einmal auf dem Vidikovac, laut den Worten des größten Aufschneiders von Pula, eine deutsche Touristin erschrocken vor ihm zurückgeprallt und habe den ganzen Weg bis zu ihrem Hotel auf Verudela rückwärts gemacht, eine italienische Familie habe von seiner Existenz sogar die Polizei und die italienische Botschaft in Belgrad informiert. Beide, Mario wie Siniša, behaupteten, dass ich diesen Menschen unbedingt gesehen haben müsse, denn normal sei nur die eine Hälfte seines Kopfes, die andere sei aufgedunsen und rot wie eine halbierte Wassermelone oder ein Basketball.

Ich brauchte nicht lange überredet zu werden, und schon marschierten wir alle zusammen am Supermarkt vorbei Richtung Männerheim auf der anderen Seite der Dinko-Vitezic-Straße. In diesem todlangweiligen weißen rechteckigen Block lebten neben dem Typ mit der Beule größtenteils Arbeiter der Uljanik-Werft, die nach dem anstrengenden Arbeitstag in der Schiffswerft nachmittags in Ruhe vor dem Eingang saßen, an ihren Nikšicer und Sarajevoer Bieren nippten und ihre bosnischen Themen debattierten. Sie lebten, obgleich um die Ecke von unseren Blocks, in ihrer für uns fast unsichtbaren Parallelwelt, gaben sich mehr oder weniger nur miteinander ab und versammelten sich abends im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Männerheims, um sich den Dnevnik, die Tagesschau, die Übertragung eines Fußballspiels oder eine heimische Serie anzusehen.

Tagsüber, so erklärten mir die über alles informierten Freunde, hocke der Typ mit der Beule gewöhnlich vor dem Fernseher und verfolge vom frühen Morgen an regungslos das Programm von TV Zagreb, von den Smogovci bis zu den Dokumentarsendungen, die der legendäre Delo Hadžiselimovic „ausgewählt“ hatte. Es heiße, so Siniša, dass die Mitbewohner schon einmal Geld gesammelt, ihm einen kleinen tragbaren Fernseher gekauft und den in seinem Zimmer aufgestellt hätten, dass er aber noch immer jeden Tag im Gemeinschaftsraum herumhänge, obwohl er nie mit jemandem je geredet habe. Mario sagte noch, dass der Schweißer Vaha ihm einmal angeblich alle zehn Minuten das Programm umgeschaltet habe, dass der Typ aber überhaupt nicht reagiert habe, so als ob es ihm völlig egal wäre, was er sieht.

Unter diesen Geschichtchen kamen wir vor den Eingang zum Männerheim mit großen Erwartungen, fast so großen wie damals, als wir am Vorabend der Premierenvorstellung zum Zirkuszelt beim Istra-Stadion gingen, um dort heimlich den Übungen der Zirkusartisten zuzusehen, wobei uns aber, noch bevor wir durch das hohe Gras näher geschlichen waren und ins Innere hineingeschaut hatten, ein kleines schreiendes Zigeunermädchen so erschreckt hatte, dass wir drei großen Burschen kopflos vor dem winzigen schwarzen Wesen bis ganz zum Stadion flüchteten.

Aber an jenem Tag hätten wir im Männerheim schwerlich eine Situation antreffen können, die sich von der erwarteten mehr unterschieden hätte. Anstelle des einsamen Typs mit der Beule war der Gemeinschaftsraum nämlich bis zum letzten Winkel gestopft voll und alle glotzten in die Röhre, in der, jedenfalls schien es so, die Nachrichten liefen. Die Stimmung war ähnlich der vom letzten Jahr, als die Bewohner des Männerheims nach dem zweiten Tor von Piksi in dem unvergesslichen Achtelfinale gegen Spanien von einer solchen Euphorie erfasst wurden, dass sogar die Polizei einschreiten und sie zur Ruhe bringen musste und Ramo in der Notaufnahme landete, weil er einen Stromschlag abgekriegt hatte, als er den Fernseher und die Antenne geküsst hatte.

Zwölf Monate später stellten Siniša, Mario und ich, unter den Fußballfans des nachmittäglichen Fernsehprogramms nach dem „Melonenmann“ Ausschau haltend, überrascht fest, dass sich für SFR Jugoslawien nur noch der kleinere Teil der versammelten Mannschaft begeisterte. Die wurden inoffiziell, das sah ein Blinder, von Milo Lola Ribar kommandiert, der jeden Tag eine Kiste Bier oder zwei packte und jetzt lauter als alle brüllte, von wegen „wer gibt noch einen Scheiß“ auf Jugoslawien, wenn es letztes Jahr gegen die Ustascha aus Argentinien verloren habe, und dass es ihn im Leben nicht mehr interessiere. Neben ihm, schon unmittelbar vor dem Fernseher, stand Mali Mirso, ein Sechzehnjähriger, der ein erwachseneres Gesicht hatte als Bata Živojinovic und sich auch so benahm und der jetzt alle Anwesenden auf das Ernsteste warnte, dass jetzt Schluss sei mit Sonnenbaden, Ferragosto und Feuerwerk in der Arena, aber nicht sagte, weshalb. Es waren hier, im Gemeinschaftsraum des Männerheims, noch ziemlich viele Schreihälse versammelt, deren unartikulierte Anfeuerungen uns aber unverständlich blieben, obwohl beim Anblick ihrer hochroten Gesichter klar war, dass sie alles gaben.

Direkt am Eingang, wo wir wegen des Gedränges stecken geblieben waren, stand Pulas berühmter Filmvorführer Cera. Cera ließ uns, seine „kleinen Komše“, seine kleinen Nachbarn, wie er uns nannte, umsonst zu den Abendvorstellungen im Kino Beograd. Dann war der Saal gewöhnlich leer, denn ganz Pula wusste, dass bei Cera nach acht Uhr die „Spulen durcheinanderkamen“ und er die Filme von der Mitte oder vom Ende her laufen ließ. Doch ungeachtet aller Liebe zur Biska, dem istrischen Mistelschnaps, war Cera einer der nettesten Menschen, die ich kannte, auch an diesem Tag drehte er sich, nachdem er gesehen hatte, dass keinem von uns auch nur im Geringsten klar war, was hier lief, zu uns um und erklärte uns: „Sollen die Janeze doch nach Luxemburg baden gehen, wenn sie Jugoslawien nicht mögen.“

Es war offensichtlich, dass bei Ceri die „Spulen“ heute schon erheblich früher durcheinandergekommen waren als gewöhnlich, und so sahen wir noch immer verwundert auf die von den Nachrichten hypnotisierte Menge vor uns. Alle lebten wir in der Überzeugung, dass TV Kalender eine noch interessantere Sendung als TV Dnevnik war, deshalb verstanden wir absolut Bahnhof von dem, was da geredet wurde. Siniša und Mario schlugen vor, dass wir uns verziehen sollten, und schon machten wir Anstalten zurückzumarschieren zu unserem Block, aber ich wollte ja den Typ mit der Beule sehen und machte einen Schritt nach vorn, um den Blick noch ein wenig über die Menge der immer mehr in Feuer geratenden Fernsehzuschauer wandern zu lassen. Doch anstelle des „Melonenmannes“ erblickte ich durch die Glaswand am gegenüberliegenden Ende des Raums niemand anderen als meinen Vater, der am Männerheim vorüber langsam nach Hause strebte.

Mein Vater schaute auf seinem Heimweg aus dem Dienst gewöhnlich wenigstens für ein paar Minuten bei den Heimbewohnern rein, trank ein Bier, erfuhr die Tagesneuigkeiten und kommentierte sie, meistens gemeinsam mit Mali Mirso, der sein Liebling war. Aber an diesem Tag, während Mirso auf dem Stuhl vor dem Fernseher stand und der versammelten Menge wütend zubrüllte, jetzt kämen „Zeiten, die auch die größten Idioten zur Vernunft bringen werden“, ging mein Vater in Gedanken versunken seinen Weg, ohne sich auch nur für einen Augenblick nach dem umzusehen, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt abspielte.

Ich versuchte mich durch die Menge zu drängeln und ihn vor dem Eingang des Blocks gegenüber abzufangen, aber ich musste rasch erkennen, dass ich, wenn ich mich durch die Schreier drängelte, die mit den Händen fuchtelten, nur mein Glück herausforderte und mir ganz nebenbei eine...


Goran Vojnovic, geboren 1980 in Ljubljana. Studium der Regie an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana. Enfant terrible und einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Sein Romanerstling Cefuri raus! hatte den Rücktritt des slowenischen Innenministers zur Folge.
Erfolgreicher Regisseur zahlreicher Filme. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.



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