E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Vogt Versprich, dass ich es behalten darf
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7481-1425-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-7481-1425-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Luca hat ihre Schwester nie kennengelernt. Sie glaubt auch nicht, dass Hanne noch lebt. Dennoch vergeht kein Tag, an dem sie sich nicht fragt, was damals geschehen ist. Auf eigene Faust stellt sie Nachforschungen an - und stößt auf eine unglaubliche Geschichte ... VERSPRICH, DASS ICH ES BEHALTEN DARF ist ein Roman, der das Schicksal zweier Familien auf tragische Weise miteinander verknüpft.
Ludgera Vogt, Jahrgang 1958, ist gebürtige Ostwestfälin. Wie der Menschenschlag, so ihr Schreibstil - trocken und frei weg. Mit spitzer Feder lässt sie den Leser am Leben ihrer Romanfiguren teilhaben und ihn tief in ihre Seelen blicken. Nebenberuflich beginnt sie das Schreiben mit einer kleinen Kinderbuchreihe. Die Sophie-Bände zieren noch immer ihren Schreibtisch. Mittlerweile ist sie allerdings im Krimi-Genre angekommen. Nach "Libori-Lüge" (Emons Verlag) stellt sie mit "Versprich, dass ich es behalten darf" ihren zweiten Roman vor.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Seit ich denken kann, umgibt meine Familie eine melancholische Aura. Meine Eltern hatten ein Trauma erlitten: Sie haben ein Kind verloren. Die daraus entstandene Sorge um mich, ihre jüngere Tochter, beraubte mich aller Freiheiten. Als Kindergartenkind und junges Schulkind hatte ich es noch cool gefunden, eine ständige Begleitperson um mich zu haben. Ich wurde mit dem Auto gefahren, während sich die anderen Kinder mit schweren Schultaschen entweder zu Fuß auf den Heimweh machten oder in überfüllte Busse quetschen mussten. Aber dieses behütete Leben machte auch einsam. Kaum eingeschult merkte ich, dass ich zum Außenseiter zu werden drohte. Die Gemeinschaft der anderen Kinder schloss mich aus. Das Königskind, das keinen Schritt unbewacht tun durfte, es passte nicht zu ihnen. Ständig hatte ich meine Mutter im Schlepptau. Spontane Einladungen von Freunden konnte ich nicht annehmen. Es musste immer erst alles durchorganisiert werden. Unser Haus glich einer Festung. Beim Herumtollen im Garten löste ich wenigstens zwei Mal pro Woche Alarm aus, weil alles verkabelt und gesichert war. Ich hasste diesen Zustand je älter ich wurde. Hannes Verschwinden hatte meine Kindheit und Jugend zu sehr eingeschränkt, als dass ich unter ihrem Verlust sehr gelitten hätte. Außerdem war es für mich schwierig, einen Menschen zu lieben, von dem es nur ein Ultraschallbild gab und das Foto einer Sofortbildkamera, das ein schreiendes, rotgesichtiges Neugeborenes zeigte. Es gab Tage, an denen ich meine Schwester verfluchte. Besonders schlimm war es in der Adventszeit. Während andere Familien ihre Fenster schmückten und Weihnachtslieder aus den Räumen hallten, legte sich eine bleierne Stille über unser Haus. Der Duft frisch gebackener Vanillekipferl, ich lernte ihn erst kennen, als meine Tante Francis dem Trauerspuk ein Ende setzte und mich zu sich holte. Bei ihr verbrachte ich zehn Jahre hintereinander Heilig Abend. Meine Mutter lehnte die Einladungen ab. Ich glaube, sie war froh, sich in diesen Tagen ganz ihrer Trauer hingeben zu können, ohne Rücksicht auf mich nehmen zu müssen. Meine Kindheit drohte zu einem Desaster zu werden. Mein Vater war der Nachsichtigere, der Verständnisvollere. Ich dachte immer, er hätte das Trauma besser verarbeitet als meine Mutter. Leider war es ein Trugschluss – er bezahlte es gar mit seinem Leben. Höhepunkt und Wende in meinem jugendlichen Dilemma war ein Samstag im Herbst. Meine Mutter hatte mir wieder einmal verboten, zu einer Party zu gehen. Erbost hatte ich ihr entgegengeschrien, dass ich mir wünschte, ebenfalls vom Erdboden zu verschwinden, so wie meine Schwester – ungeachtet dessen, dass Hanne als vier Wochen alter Säugling sicherlich nicht freiwillig aus unserem Leben geschieden war. Meine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Nach einem zehnwöchigen Klinikaufenthalt verbesserte sich unsere Mutter-Tochter-Beziehung. Unter psychologischer Anleitung lernte sie, ihre Ängste um mich unter Kontrolle zu halten und mir Freiräume zu lassen, sodass ich meine pubertär aufsässigen Phasen allmählich ablegte. Aber es war eine verdammt harte Zeit. Heute schäme ich mich für mein bockiges Verhalten. Ich hatte ihnen das Leben unnötig schwer gemacht. Und nachempfinden, diesen vernichtenden Schmerz wirklich nachempfinden, kann ich erst jetzt, wo ich selbst ein hilfloses Würmchen im Arm halte. Rückgängig kann ich nichts machen, aber gäbe es eine winzige Aussicht auf ein gutes Ende, ich könnte viel wieder gutmachen. *** Kurz bevor ich mit dem Kinderwagen um die Ecke des Seniorenheims biege, bleibe ich stehen und verharre einen Moment. Ich atme tief durch. Es ist jeden Morgen dasselbe Bild. Ich sehe meine Mutter am Fenster, die Gardine ein wenig zur Seite geschoben, ihr Blick sehnsüchtig auf die Straße gerichtet. Sie hebt die Hand und winkt mir zu. Ich winke zurück. Sie freut sich, mich zu sehen. Und ich streite ihr die Liebe nicht ab, die sie bei meinem Anblick empfindet. Aber letztendlich bin nicht ich es, auf die sie wartet. Wenn ich nach einer Stunde weg bin, wird sie weiter aus dem Fenster schauen. Manchmal gelingt es dem Pflegepersonal, sie ein wenig abzulenken und zu Aktivitäten mit anderen Heimbewohnern zu motivieren. Wenn sie gut zurecht ist, geht sie mit Mia und mir ein paar Schritte durch den Park – die Hand fest am Kinderwagen, als könne er sich jeden Moment in Luft auflösen. Ich habe es aufgegeben, sie vom Fenster wegzulocken und ihr die gemütliche Sofaecke schmackhaft zu machen. «Von dort kann ich die Straße nicht einsehen, Luca», erklärt sie mir jedes Mal mit Engelsgeduld. Über mein vorwurfsvolles Seufzen sieht sie hinweg. «Ich spüre, dass sie wiederkommen wird. Eine Mutter spürt das.» Seit Mias Geburt fügt sie noch den Satz an, dass ich dieses Gefühl doch nun als Mutter verstehen müsse. Ich verstehe ihren Wunsch danach. Heute mehr denn je. Aber kann man fühlen, dass ein Kind noch lebt und wiederkommen wird? Nach drei Jahrzehnten? Ich höre keine Hoffnung heraus, wenn sie mit dem Kommissar einmal jährlich telefoniert; nur Trost und Bedauern. Geht es um dieses Thema, habe ich meine Bedenken, dass sie aus dem ewigen Kreisel noch mal herauskommen wird. Es ist festgebrannt in ihrem Herzen. Carsten, der Mann meiner Freundin und Nachbar zur anderen Seite, hat es als Informatiker recht passend formuliert: «Sie kriegt es nicht von ihrer Festplatte gelöscht.» Es gibt zum Glück aber auch Tage, an denen ich mich mit ihr über Gott und die Welt unterhalten kann. Diese Momente genieße ich. Dann nämlich blitzt ihr Humor auf und ich erkenne die Frau und Mutter, die sie eigentlich ist, wäre ihr Leben nicht an jenem Tag im Dezember 1987, kurz vor Weihnachten, jäh zerstört worden. Heute wird ein solcher Tag nicht sein. Aber ich habe mir vorgenommen, mich nicht wieder in diese Melancholie hinabreißen zu lassen. Im Gegenteil, eigentlich ist der Zeitpunkt gut, um die Fesseln ein wenig zu lockern. Meine Mutter wird zum ersten Mal ihren jährlichen Ritualen zum Tag des Verschwindens nicht nachkommen können. Sie wird Kommissar Gruber, den damals ermittelnden Beamten, nicht wie in den vergangenen drei Jahrzehnten anrufen und nach einem neuen Erkenntnisstand fragen können. Der Mann hat kurz nach seiner Pensionierung einen Schlaganfall erlitten und ist seitdem kränklich. Seine Frau hat meine Mutter am Telefon zwar höflich, aber in bestimmtem Ton gebeten, von weiteren jährlichen Nachfragen abzusehen. Ihr Gatte hatte all seine Kraft in die Ermittlung gelegt, um das Wohl eines kleinen Kindes und seiner Familie zum Guten zu wenden. An manchen Tagen hatte die Frau befürchtet, er würde selbst daran zerbrechen. So sehr sie meine Mutter verstehe, aber es sei sinnlos, ihn weiter zu bedrängen. Auch eine andere Tradition wird sie in diesem Jahr nicht fortsetzen können. Sie wird keine Rose auf die Fensterbank der alten Bäckerei legen. Dafür ist Frankfurt zu weit weg und sie ist auch nicht mehr in der Lage, das alte Stolperpflaster in der Schustergasse zu bewältigen, bei Schnee und Eis schon gar nicht. Einmal hatte ich sie zu diesem Ritual begleitet, kurz nachdem sie aus der Klinik entlassen worden war. Ich hatte meinen guten Willen zeigen wollen. Es war ein seltsames Gefühl gewesen. Als stünden wir vor einem unsichtbaren Grab. Schneeflocken hatten in der Luft getanzt. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, hatte ich zum Himmel aufgeschaut. Ich hatte mich gefragt, ob Hanne uns wohl sehen kann und – falls ja – um ein Zeichen gebeten, damit meine Mutter endlich die Sinnlosigkeit des Wartens einsieht. Jahr für Jahr standen meine Eltern vor diesem Fenster. Später, als mein Vater tot war, setzte meine Mutter allein das Ritual fort. Hier war es geschehen, hier durchlebte sie die letzten gemeinsamen Minuten mit ihrer Tochter. Das kleine Geschäft gibt es schon lange nicht mehr. Nur ein verwittertes Schild über dem Eingang weist darauf hin, dass sich hinter dem Schaufenster einmal herrlich duftende Backwaren in den Auslagen befunden haben. Heute kauft man Brot und Kuchen draußen auf der grünen Wiese, zwischen Aldi und Lidl. Aber das Haus steht noch. Und ich bin sicher, dass manch alter Anwohner im Vorübergehen auf die Stelle deutet, an der der Kinderwagen stand, und seinem Enkel vom schlimmsten Tag in der Geschichte Neudorfs erzählt. Die Bewohner des kleinen Vororts von Frankfurt hatten großen Anteil am Leid unserer Familie, besonders die Menschen in der Schustergasse. Direkt unterhalb ihrer Fenster hatte ein Fremder die Hand nach dem schlummernden Kind ausgestreckt. Dass es ein Fremder gewesen sein musste, war für sie so sicher wie das Amen in der Kirche. Niemand aus ihrer Mitte wäre zu solch einer Tat fähig, auch wenn die Polizei zunächst jeden, der in unmittelbarer Nähe der Bäckerei wohnte, genau unter die Lupe nahm. Kommissar Gruber hatte mit einer Lösegeldforderung gerechnet. Da meine Mutter seit zwei Wochen zur selben Zeit den Kinderwagen vor der Bäckerei abstellte, war er davon ausgegangen, dass sie dabei beobachtet worden war. Es war ein Samstagmorgen. Wochenende, die Menschen hatten ausschlafen können. Anstatt...