E-Book, Deutsch, Band 2, 390 Seiten
Reihe: Weißer Wolf
Vogltanz Wolfswut
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-6951-3905-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 390 Seiten
Reihe: Weißer Wolf
ISBN: 978-3-6951-3905-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren und hat ihren Magister in Deutscher Philologie, Anglistik und Lehrer*innenbildung an der Universität Wien gemacht. Sie hat als Lehrerin, Regaleinräumerin, Spielzeugverkäuferin und Hundefutterträgerin gearbeitet. Aktuell ist sie selbstständige Lektorin und macht gute Worte mit großartigen Menschen und Verlagen. 2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem »Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausgezeichnet. Ihr Roman »Shape Me« wurde für den Deutschen Science Fiction-Preis und den Kurd Laßwitz-Preis nominiert. Mehr Informationen auf: www.melanievogltanz.com und www.lektoratvogltanz.com
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II.
In New Orleans musste man keine weiten Strecken zurücklegen, um die ersten tückischen Sümpfe zu erreichen, die mit einem Dickicht robuster Vegetation überwachsen waren. Mit der letzten Stadtbahn fuhr Alfio an die Peripherie der Stadt, anschließend ging er zu Fuß weiter. Schon nach einigen Stunden hatte er das Gefühl, sich durch menschenverlassene Wildnis zu bewegen. Er orientierte sich am Bayou St. John und folgte dem Strom tief in den Sumpf. Nachdem er ein im Schilf liegendes Boot im Wasser gefunden hatte, dessen abgeblätterter Lack ebenso wie die verschimmelten Decken im Heck davon zeugten, dass sein Besitzer es vergessen oder aufgegeben hatte, ging er an Bord und stakte damit den Bayou entlang. Nach einer Weile mündete der Fluss über einen Kanal in den breiteren Mississippi River. Alfio manövrierte das Boot durch den reißenden Fluss, ließ sich von ihm tiefer und tiefer in unberührtes Sumpfgebiet tragen.
Ringsum zeugte ein Rascheln und Knacken und Wispern und Schleifen im Gebüsch von der Anwesenheit kleiner und großer Tiere, die seine Ankunft mit Skepsis oder sogar Furcht verfolgten. In das gleichmäßige Plätschern des Mississippi mischte sich gelegentlich ein lautes Platschen, wenn etwas die Flucht ergriff, das sich bislang am Ufer gerekelt hatte. Gefährlicher jedoch waren die Tiere, die fast lautlos durch das trübe Wasser oder über Laub und Farne glitten. Tiere im Schuppenkleid, deren geschlitzte Pupillen Alfio taxierten, um einzuschätzen, ob es sich bei diesem Neuankömmling um Beute oder Rivale handelte.
Diese Einschätzung würde ihnen schon sehr bald leichter fallen. Selbst die großen Reptilien des Sumpfes hatten seiner Schnelligkeit und seiner Körperkraft nichts entgegenzusetzen, sobald er jede Kontrolle fahren ließ. Bestimmt würde ihr kaltes Blut hochinteressant schmecken.
Der Morgen dämmerte bereits, als Alfio schließlich aus dem Boot ans Ufer kletterte. Nun sollte er tief genug in den Sumpf vorgedrungen sein, um keiner Menschenseele mehr zu begegnen. Obwohl er nur wenige kurze Pausen eingelegt hatte, fühlte er sich nicht erschöpft. Seine Sinne sangen wie gespannte Drahtseile.
Während sich der Horizont zwischen den dichten Baumkronen violett färbte, ein Farbton, der den Blutergüssen auf seiner Brust vor wenigen Stunden auf unheimliche Weise glich, legte Alfio seine Kleider ab. Es war Frühling, und ihm fröstelte, als er Hemd, Hose und Mantel sorgsam zusammenlegte und in einem umgestürzten, hohlen Baumstamm versteckte, dessen Wurzeln wie haltsuchende Finger aus dem aufgeschwemmten Sumpfboden ragten. Seine Stiefel und sein Hut folgten. Nackt wie vor dem Sündenfall stand er inmitten ungezähmter Wildnis. Nackt, doch nicht schutzlos.
Die Vögel, die eben noch den neuen Tag begrüßt hatten, waren verstummt.
Alfio zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor Anspannung. Er witterte das Leben ringsum, hörte den Puls zahlreicher Tiere, spürte das Pochen ihrer kleinen Herzen bis in seine Fingerspitzen, als wären sie lediglich Verlängerungen seines eigenen Körpers.
Alles war Beute.
Seine Kopfhaut kribbelte, die Härchen an seinen Armen und seinem Nacken richteten sich auf. Seine Knie zitterten. Alfio suchte Halt an einem der umstehenden Bäume. Seine Nägel waren lang, schwarz und scharf. Als Alfio die Hand zur Faust ballte, hinterließen sie tiefe Wunden in der alten Borke.
Der Wolf knurrte.
»Ich habe keine Angst vor dir«, flüsterte Alfio. »Ich werde wiederkehren. Nichts wird mich davon abhalten, zurückzukommen.«
Er überstreckte den Nacken. Sank auf alle viere, als sein Rückgrat sich bog und den aufrechten Gang unmöglich machte. Seine krallenartigen Finger wühlten den schlammigen Boden auf.
»Ich. Habe. Keine. Angst.«
Wieder knurrte der Wolf.
Alfio knurrte mit ihm.
Schmerz.
Seine erste bewusste Empfindung war Schmerz.
Ein Reißen, Brennen und Kreischen in seiner Brust. Das Klopfen seines Pulses in seinen Fingern und an seinem Hals. Er kannte dieses Gefühl. Sein Herz wollte mehr Blut pumpen, als seine Venen fassten.
Alfio stöhnte. Wie immer nach der Jagd wusste er nicht, wie lange er weggetreten gewesen war oder was er getan hatte. Verschwommene Bilder von aufgesperrten Alligatorenrachen, davonhuschenden Opossums und um sich schlagenden Schlangenleibern schwappten durch seinen Kopf. In seinem Rachen saß der Geschmack von salzigem Fleisch. Der Wolf hatte gefressen. Hatte getötet.
Alfio richtete sich auf, fand jedoch keinen Halt im morastigen Boden. Er rutschte weg und klatschte geräuschvoll in den Schmutz zurück. Schlamm spritzte. Das Reißen in seiner Brust nahm zu. Alfio blickte an sich hinunter. Aus seinem nackten Oberkörper, der von einer dicken Schicht Blut und Schmutz verkrustet war, ragte der Griff einer Waffe.
Alfio presste die Augen zu. Waffen bedeuteten Menschen. Dabei war er so sicher gewesen, dass sich niemand so tief in den Sumpf wagen würde. Offensichtlich hatte er sich getäuscht. Der Wolf hatte einen Menschen attackiert – vermutlich sogar mehr als einen. Und dann, als irgendjemand einen glücklichen Stich gegen das Tier geführt hatte und es nicht in der Lage gewesen war, den Schmerz zu beseitigen, hatte es sich feige zurückgezogen und Alfio in diesem beschädigten Körper zurückgelassen. Der Wolf war noch nie gut darin gewesen, Probleme zu lösen.
Alfio schnaubte unwillig. Mit einer Hand, die taub vom Blutverlust war, fasste er nach dem Messergriff zwischen seinen Rippen. Er brauchte einige Anläufe, ehe er die Finger fest genug um das raue Leder des Hefts geschlossen hatte, um die Waffe aus seinem Fleisch zu ziehen.
Überrascht sog er die Luft zwischen den Zähnen ein. Die Klinge saß fest. Er konnte sie keinen Fingerbreit bewegen. Da sein Körper bei der Rückverwandlung eilfertig jegliche Fremdkörper überwucherte, die sich noch in ihm befanden, hatte Alfio mit einem gewissen Widerstand gerechnet, doch das war absurd. Was sein Gewebe in die eine Richtung hatte teilen können, musste es schließlich auch in der anderen Richtung teilen können.
Er nahm die zweite Hand hinzu, und unter großer Kraftanstrengung gelang es ihm, die Klinge ein Stück weit hervorzuzerren; allerdings nur, indem er sie ruckartig hin- und herbewegte und die Einstichwunde großzügig ausweitete. Dabei musste er sich auf die Lippen beißen, um einen Schmerzlaut zu unterdrücken.
Er erkannte das Problem bereits, als er den feucht glänzenden Stahl wenige Fingerbreit aus seinem Torso befreit hatte. Offensichtlich hatte er es nicht mit einer herkömmlich geschliffenen Klinge zu tun. Diese hier war mit zahlreichen hässlichen Widerhaken versehen, die sich tief in sein Fleisch gegraben und dort verankert hatten. Welcher Schmied produzierte eine so sinnlos grausame Waffe? Ein solches Messer konnte nur einem einzigen Zweck dienen: Schmerzen zu bereiten. Zugegeben, Pfeile mit Widerhaken waren keine absolute Seltenheit, wenn auch nicht unbedingt die feine Art, aber ein Messer war noch einmal eine gänzlich andere Dimension. Etwas Vergleichbares hatte Alfio noch nie zuvor gesehen, nicht einmal im Folterarsenal der Genuinità.
, dachte Alfio grimmig. Der Gedanke hätte ihn mit Schadenfreude erfüllt, wäre da nicht sein Blut gewesen, das in Strömen über seine Finger lief, während er am glitschig gewordenen Messerheft herumzerrte.
Endlich kam die Klinge mit einem Ruck frei. Sie rutschte ihm aus den Fingern und versank ein Stück weit im Schlamm.
Alfio atmete schwer. Seine Arme fielen herab. Aus dem ausgefransten Loch zwischen seinen Rippen quoll Blut und vermischte sich mit dem Schlamm unter seinem Körper. Sein Kopf fühlte sich leicht an, und jedes Gefühl war aus seinen Fingern gewichen. Innerlich zählte er seine Herzschläge, wartete darauf, dass der Blutfluss versiegen würde.
Wartete.
Und wartete.
Es geschah nicht.
Wenn er noch einen Funken Energie in sich gehabt hätte, hätte Alfio gelacht. Hatte er dem Wolf nicht die Führung überlassen, um neue Kraft zu tanken? Hatte er ihn nicht auf die Jagd geschickt, um seinen Heilkräften neuen Auftrieb zu geben? Und nun lag er ausblutend, frierend und missgelaunt in der Wildnis und war offensichtlich genauso geschwächt wie zuvor. Wenn nicht sogar noch mehr. Der Wolf hätte sich wenigstens sattfressen können, bevor er wie ein unerfahrener Straßenköter in ein Messer gelaufen war.
»Er wird wohl alt«, murmelte Alfio mit tauben Lippen und musste grinsen. Vielleicht war es auch bloß ein Zähnefletschen, er spürte sein Gesicht kaum. »Nach dreihundert Jahren wäre das … wohl das Mindeste.«
Seine eigene Stimme klang weit entfernt, als hätte jemand seine Ohren mit Holzwolle verstopft. Obwohl seine Augen weiterhin geöffnet waren, hatte Schwärze sein Sichtfeld gefressen. Er glaubte zwar, dass sein Blick in den Himmel gerichtet sein musste, doch er konnte ihn nicht sehen. Immerhin ebbte der Schmerz in seiner Brust endlich ab. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass die...




