E-Book, Deutsch, 476 Seiten
Völler Tulpengold
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7325-5598-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 476 Seiten
ISBN: 978-3-7325-5598-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Amsterdam, 1636. Pieter, der neue Lehrling von Rembrandt van Rijn, ist ein Sonderling. Vor allem seine Begeisterung für höhere Mathematik weckt Befremden. Seine Begabung kann er indessen unverhofft anwenden, als auf einmal die Preise für Tulpenzwiebeln in schwindelnde Höhen steigen und Pieter gewisse Gesetzmäßigkeiten erkennt. Doch dann werden mehrere Tulpenhändler tot aufgefunden, und Pieters Meister gerät selbst in den Sog dieser rätselhaften Mordserie. Denn alle Opfer wurden von Rembrandt porträtiert ...
Eva Völler war Richterin und Rechtsanwältin, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Sie hat mit all ihren Romanen Leser und Kritiker begeistert. In Tulpengold entführt sie uns in eine der spannendsten Epochen der Niederlande. Eva Völler lebt am Rande der Rhön in Hessen.
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Pieter verbrachte den ersten Monat seiner Lehrzeit ohne besondere Vorkommnisse. Meistens war er stumm wie ein Fisch, und wenn er doch einmal ein paar Worte von sich gab, musste man ihm schon eine Frage gestellt haben, wobei jedoch seine Antworten stets ausgesprochen einsilbig ausfielen. Bald hielten ihn alle im Hause van Rijn für einen Sonderling. Gegen Ende des Monats Oktober 1636, rund vier Wochen nach Pieters Ankunft, traf – nebst einem Federbett für Pieter – ein Brief seines Vormunds ein, dem offenbar die Absicht zugrunde lag, Pieters Verhalten zu erklären. Der Junge sei, so schrieb Joost Heertgens, zuweilen ein Eigenbrötler, und sollte er vielleicht einmal einen renitenten oder besserwisserischen Eindruck machen, dürfe man ihm das nicht verargen, da er unter ungewöhnlichen Umständen aufgewachsen sei. Über die genaue Art dieser Umstände ließ sich Pieters Vormund in dem Brief nicht aus, aber Meister Rembrandt und seine Gattin focht das nicht an. Sie vermochten den Sinn dieser vorweggenommenen Entschuldigung in Heertgens Schreiben nicht zu erkennen, denn sie hatten keinen Grund, sich über den Jungen zu beklagen. Wenn er ihnen überhaupt auffiel, dann nur durch seine ungewöhnliche Schweigsamkeit und bemerkenswerte Pünktlichkeit. Zu den Mahlzeiten erschien er immer auf die Minute genau mit dem Glockenschlag, und seit seiner Ankunft kam es nie mehr vor, dass jemand vergaß, im Haus die großen Sanduhren umzudrehen, die den Tag in Stunden teilten. Meist war er schon eine Minute vorher zur Stelle. Seine Arbeit erledigte er ebenso zuverlässig. In den ersten Tagen hatte Rembrandt ihm nichts weiter zu tun gegeben, als abends die Werkstatt im Obergeschoss des Hauses auszufegen, die Leinwände mit Tüchern abzuhängen und Pinsel und Paletten zu reinigen. All das hatte er nach eingehender Unterweisung durch Rembrandts ältesten Lehrling Cornelis zufriedenstellend erledigt. Doch Rembrandt steckte bis über beide Ohren in Arbeit, und so war es ihm entgangen, dass der Schwerpunkt von Pieters Tätigkeit sich nach und nach in andere Bereiche des Hauses verlagert hatte. Die ältere Magd – ihr Name war Geertruyd – hatte rasch herausgefunden, dass Pieter sich auch für gröbere Arbeiten im Haushalt gut eignete, und da es in der Werkstatt des Meisters ohnehin tagsüber von Schülern nur so wimmelte, war der Junge ihrer Auffassung nach dort jederzeit entbehrlich. Dies galt umso mehr, als die jüngeren Lehrbuben, allesamt Knaben von zwölf, dreizehn Jahren, Pieter wegen seiner stillen Art oft hänselten, weshalb es aus Geertruyds Sicht nur folgerichtig war, den Jungen anderweitig zu beschäftigen. Bald war er ausschließlich damit befasst, Hühner zu rupfen, Fische zu schuppen, Torfballen und Feuerholz in Küche, Waschküche und Stube zu schleppen und die Abfälle in den Fluss zu kippen. Gelegentlich musste er auch Kohlköpfe klein schneiden, Möhren schrappen, Bratenstücke parieren und den Boden scheuern. Eine Menge Zeit verbrachte er zudem damit, bei der Wäsche zu helfen. Als Joost Heertgens Brief eintraf, machte sich Rembrandt zum ersten Mal seit Wochen bewusst, wie selten er Pieter in der Werkstatt zu Gesicht bekam. Am Nachmittag desselben Tages wandte er sich daher an seinen Gesellen Laurens, der sich mit Pieter die Dachkammer über der Werkstatt teilte und seine Frage am besten beantworten konnte. »Wo treibt sich eigentlich Pieter den ganzen Tag immer herum? Ich sehe ihn kaum noch.« Laurens verzog verächtlich das Gesicht. »Er hilft Geertruyd in der Küche oder Anneke bei der Wäsche.« »Warum?« Laurens, dem der unerwünschte Kammergenosse von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war, nutzte gern die Gelegenheit, dem Jungen eins auszuwischen. »Weil er lieber Weiberarbeit macht, statt das Malen zu erlernen.« »Wirklich?« Rembrandt runzelte die Stirn. »Hat er das gesagt?« »Nein«, räumte Laurens ein. »Aber ich finde, es ist die einzige Erklärung.« Rembrandt hielt mit seiner Skepsis nicht hinterm Berg. Dass einer seiner Lehrlinge lieber Frauenarbeit verrichtete, statt sich der Kunst zu widmen, erschien ihm schlechterdings grotesk. Dahinter musste mehr stecken. Er befahl Laurens, ihm Pieter zu rufen, weil er unter vier Augen mit dem Jungen reden wollte. Pieter erschien umgehend in der Werkstatt. Er kam ganz offensichtlich aus der Küche, denn er hatte eine große Schürze umgebunden, die von Flecken übersät war und nach Bratenfett stank. »Was hast du denn da um Himmels willen an?«, wollte Rembrandt von ihm wissen. Der Junge schien im Kopf kurz etwas zu überschlagen, denn seine Lippen bewegten sich stumm. Doch dann kam seine Antwort flüssig und ohne zu stocken heraus. »Hose, Hemd, Weste, Strümpfe, Schuhe, Gürtel, Halstuch, Kappe, Schürze.« »Willst du dich über mich lustig machen, Bursche?« »Nein.« »Warum zählst du dann alles auf, was du anhast?« »Weil Ihr mich danach fragtet.« Befremden erfasste Rembrandt, und er begriff, dass dem Brief von Pieters Vormund eine Bedeutung innewohnte, die ihm bisher entgangen war. »Pieter, warum bist du so selten hier oben in der Werkstatt?« Der Junge dachte kurz nach. »Weil ich Geertruyd und Anneke bei der Arbeit helfe.« »Tust du diese Arbeit denn gern?« »Nur, wenn Anneke dabei ist.« Rembrandt gewann den Eindruck, der Sache allmählich näher zu kommen, denn Anneke war wirklich eine Augenweide, das mochte eine Erklärung dafür sein, dass Pieter sich im Haushalt betätigte. Doch das konnte unmöglich der alleinige Grund sein. Gleichwohl fand er es zusehends mühselig, Pieter jede Auskunft einzeln aus der Nase ziehen zu müssen. Hätte Rembrandt nicht gewusst, dass Pieter die Lateinschule in Leiden besucht hatte (dieselbe Schule hatte Rembrandt in seiner Jugend auch absolviert), wäre wohl die Annahme berechtigt gewesen, dass es um die Geisteskräfte des Jungen traurig bestellt war. Er widerstand der Anwandlung, Pieters Mitteilungsfreude durch eine kräftige Ohrfeige anzuregen. »Hilfst du lieber Anneke bei der Arbeit als mir?« »Nein.« »Warum tust du es dann?« Wieder schien der Junge im Geiste etwas abzuzählen. »Weil Geertruyd es befiehlt und weil ich Anweisungen gehorchen muss.« »Pieter, warum zögerst du vor manchen Antworten?« »Weil ich die Wörter zähle.« »Wessen Wörter?« »Meine.« Der Junge war zweifellos gestört, doch so schnell gab Rembrandt nicht auf. »Wer hat dich geheißen, deine Wörter zu zählen? Und warum?« Der Junge wand sich, von erkennbarer Unruhe erfüllt. »Ich erwarte eine Erklärung«, insistierte Rembrandt. Pieter starrte ihn hilflos an. Schließlich platzte er heraus: »Ich kann nicht antworten.« »Warum nicht?« »Es waren zwei Fragen auf einmal.« »Beantworte zunächst die erste.« Pieter war sichtlich erleichtert. »Mein Onkel Joost befahl mir das Zählen.« »Warum tat er das?« »Das weiß ich nicht.« »Pieter, ich bin dein Lehrherr. Meine Befehle stehen über denen deines Paten. Du musst meinen Anweisungen folgen.« »Ich weiß. Das ist die goldene Regel Nummer drei.« »Wie bitte?« »Die goldene Regel Nummer drei.« »Zähl mir die goldenen Regeln auf«, verlangte Rembrandt. Er hatte das Gefühl, durch zähen Schlamm zu waten. »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Die Antwort hätte mehr als zehn Wörter.« Rembrandt frohlockte innerlich. Damit war er endlich zum Kern des Problems vorgestoßen! »Als Allererstes befehle ich dir, sofort mit diesem albernen Zählen aufzuhören. Wenn ich dich etwas frage, erwarte ich schlüssige, ausformulierte und kluge Antworten. Sie dürfen länger sein als zehn Wörter. Und jetzt zähl mir besagte Regeln auf.« Pieter betete sie allesamt in Windeseile und ohne zu stocken herunter, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Vor Rembrandts innerem Auge tauchte kurz das Bild eines unter Wasserfluten berstenden Deichs auf. Mit grimmiger Anteilnahme versuchte er, den Sinn dieser Regeln zu erfassen, vor allem der goldenen. Welches Ziel hatte Pieters Patenonkel mit dieser himmelschreienden Unterdrückung verfolgt? Es war ihm ein Rätsel. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass der Junge ein armes, geknechtetes Wesen war, dem geholfen werden müsse. »Pieter«, sagte er mit ernster Stimme. »Hiermit setze ich alle von deinem Paten aufgestellten Regeln außer Kraft. Für dich gilt ab sofort keine mehr davon.« Er besann sich. »Außer natürlich, dass du meine Anweisungen befolgen musst, denn ich bin ja dein Lehrherr. Ah, und die meiner Frau. Aber die anderen haben dir nichts mehr zu sagen.« »Auch Laurens und Geertruyd nicht?« »Vor allem Laurens und Geertruyd nicht. Alles Weitere wird sich schon fügen. Verhalte dich einfach wie ein anständiger Christenmensch, und befolge anstelle dieser seltsamen Regeln deines Paten nur getreulich die Zehn Gebote. Sei immer ehrlich, strebsam und gottesfürchtig, dann kann nicht viel schiefgehen. Hast du das verstanden?« »Ja.« »Gut. Ach, und ich erwarte ab sofort zu allen Arbeitszeiten deine regelmäßige Anwesenheit hier in der Werkstatt. Ich werde Geertruyd und Anneke klarmachen, dass sie dir keine Aufgaben im Haushalt mehr aufhalsen dürfen, denn dafür bist du nicht zuständig. Du willst doch ein guter Maler werden, oder nicht?« »Mein Vater wollte es.« »Du denn nicht?« »Ich weiß nicht, was ich...