E-Book, Deutsch, 205 Seiten
Völker Gerechter Entscheiden
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-039119-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jenseits von Steinzeitgerechtigkeit, Fake News, alten und neuen Dogmen
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-17-039119-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Justice is regarded as being the crucial yardstick for human behaviour. There is consequently an expectation or a demand that decisions should be taken fairly and justly in the widest variety of contexts in professional and private life, as well as in relation to social responsibilities. The same facts should not be measured by different standards; no one should be discriminated against because of natural characteristics such as race, gender or appearance; fundamental human rights should be recognized unreservedly all over the world; and in the spirit of intergenerational justice, we should behave in a sustainable fashion and not live at the expense of later generations. This volume initially demonstrates that we are only able to live up to such requirements to a limited extent, and shows how the contradictions involved come about. Major reasons for this include using standards of justice that go back as far as the Stone Age, inadequate knowledge of economic and social interrelationships, and also one-sided information. In addition, it is only rarely that an individual=s own understanding of justice is concretely articulated, and this stands in the way of consistent argumentation from the outset. In conclusion, on the basis of the available scientific findings, this monograph outlines ways of overcoming the contradictions mentioned and arriving at more just decisions.
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2 Anspruch und Wirklichkeit
2.1 Wir messen mit mehrerlei Maß
Wenn wir über bürgerliche Ungleichheit klagen, so sind alsdann unsere Augen nach oben gerichtet, wir sehen nur diejenigen, die über uns stehen, und deren Vorrechte uns beleidigen; abwärts sehen wir nie bei solchen Klagen.1 (Heinrich Heine, Poet) 2.1.1 Überblick
Die meisten Menschen haben sicherlich den Anspruch unter sonst gleichen Umständen einen bestimmten Sachverhalt oder bestimmte Taten und Eigenschaften von Personen nicht unterschiedlich zu beurteilen. Was im privaten Bereich ein Anspruch ist, ist im beruflichen und vor allem im öffentlichen Bereich ein »Muss«. Mitarbeiter sollen für die gleiche Leistung von ihren Vorgesetzten, Angeklagte für identische Taten von Richtern und Schüler für gleiche Schulleistungen von Lehrern gleich beurteilt werden. Die Realität spricht allerdings eine andere Sprache. Bekannt sollte sein, dass wir tendenziell eigene Fehler weniger gewichten als die, welche andere begangen haben. Wir monieren, wenn andere bei ähnlicher Leistung mehr als wir verdienen. Im gegenteiligen Fall versuchen wir eher Argumente für den »gerechten« Lohn- oder Gehaltsabstand zu finden. Im Sport war unsere Lieblingsmannschaft meist die bessere und/ oder hat unverdient verloren. Die meisten Menschen werden das Verhalten von Menschen, die Mitglied in einer kriminellen Vereinigung sind, sexistisch agieren und Drogen nehmen, ablehnen, eventuell anprangern und sicher nicht bewundern. Interessanterweise ist dies kaum der Fall bei von uns verehrten Künstlern oder anderen Prominenten, die unter Umständen besagte Taten begangen haben. Schon Frank Sinatra und Dean Martin lag das Publikum zu Füßen, obwohl ihre engen Kontakte zu organisierter Kriminalität bekannt waren. Sowohl bei ehemaligen Hip-Hop-Prominenten wie Tupac, Notorious BIG u. a. als auch bei jüngeren Hip-Hoppern und Rappern kam keiner ihrer Bewunderer auf die Idee, diese wegen krimineller Aktivitäten, Sexismus etc. zu verurteilen. Die meisten von uns würden es nicht gutheißen, wenn jemand ohne offizielle Anmeldung und Genehmigung mitten in einer Stadt hoch über einer zentralen Kreuzung zwischen zwei Hochhäusern ein Seil spannt und versucht, darüber hinweg zu balancieren. Der Aufschrei wäre groß und die Stadtverwaltung würde Anzeige erstatten. Dieser Effekt ist jedoch nicht zwangsläufig. Zwischen den beiden damals noch bestehenden Twin Towers in New York hat unerlaubterweise ein Artist eben ein solches Seil gespannt und die Strecke unbeschadet zurückgelegt. Er wurde angeklagt, aber freigesprochen und in aller Welt bewundert.2 Wäre etwas passiert (z. B. wenn sich das Seil aus der Verankerung gelöst hätte und er abgestürzt wäre) – so darf man mutmaßen – dann wäre kein Freispruch erfolgt und Bewunderung hätte sich nicht eingestellt. Die bislang genannten Widersprüche dürften vielerorts als »harmlos« oder »allzu menschlich« und »ohne schlimme Konsequenzen für andere« eingestuft werden. Ohne in eine diesbezügliche Diskussion einzutreten wollen, wir im Folgenden lieber Beispiele aufzeigen, die ohne Zweifel erhebliche Auswirkungen haben können. In Studien zeigt sich, dass besonders gepflegte und elegant gekleidete Menschen deutlich seltener vom Arzt unterbrochen wurden als andere. Bei weniger gepflegten Menschen oder auf andere Weise vernachlässigt wirkenden Patienten erfragten die Mediziner weniger Details und gaben seltener Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ein Mediziner, der einen Patienten weniger sympathisch findet, tendiert dazu, diesen nicht ausreden zu lassen und sich schnell auf eine unter Umständen »bequeme« Diagnose einzulassen.3 Sympathie und Antipathie in der Arztpraxis haben Bedeutung für die Sorgfalt der Untersuchung, Diagnose und Therapie; sie haben im Zweifel Einfluss auf Krankheit oder Gesundheit, Leben oder Tod. Das Phänomen, dass wir an und für sich gleiche Sachveralte, Situationen oder Verhaltensweisen mit mehrerlei Maßstäben beurteilen, finden wir in allen Lebensbereichen. In Abschnitt 2.1 werden wir eine breite »Palette« solcher Fälle aufzeigen. Viele davon sind uns vielleicht nicht bewusst. Wir greifen dazu verschiedene Themen aus der »kleinen und großen« Politik auf: Über die Umbenennung von Straßennamen, die Grenzlinien für Satire, den Umgang mit Menschenrechten usw. bis hin zu militärischen Interventionen in anderen Staaten wird dargestellt, wie wir mit mehrerlei Maß messen. Vom Ursprung her ist die Political Correctness-Bewegung ebenfalls ein Ansatz, um dem »Prinzip des mehrerlei Maßes« entgegenzuwirken. In nicht wenigen Fällen – insbesondere, wenn Personengruppen von vornherein zu Opfer- und Tätergruppen zusammengefasst werden – können neue Widersprüche geschaffen werden. Wir wollen nicht diskriminieren. Antidiskriminierungsgesetze wurden entsprechend geschaffen. Wir diskriminieren aber viel mehr als wir denken. Die Rechtsprechung ist ebenfalls nicht frei von inkonsistenten Beurteilungen; auch diese Ungerechtigkeiten wollen wir beispielhaft belegen. Wir messen zudem menschlichem Leben unterschiedlichen Wert bei. Egal, ob es sich um persönliche Spenden, staatliche Entwicklungshilfe oder um militärische Hilfe geht – unsere Hilfeleistungen für bestimmte Länder, Volksgruppen oder einzelne Personen sind sehr unterschiedlich. Je nachdem wie Katastrophen auf der Welt medial zu uns gelangen und/ oder ob bestimmte machtpolitische Interessen dahinterstehen, wird Menschenleben verschiedene Bedeutung beigemessen. Wegen seiner Bedeutung wollen wir in Abschnitt 2.2 das Thema Wert des menschlichen Lebens nochmals gesondert aufgreifen. Woher rühren die Widersprüche, die wir im Folgenden skizzieren? Unwissenheit, bewusste und unbewusste Sympathien oder mediale Beeinflussung gehören unter anderem zu den Faktoren. Evolutionäre Muster wie Stereotypen sind ebenfalls ursächlich. Eine Eigenschaft, die wir im folgenden Steinzeitgerechtigkeit nennen wollen – die eigene »Gruppe«, die eigene Gesellschaft sind uns näher und wichtiger als entfernte Menschen und Kulturen in verschiedenen Teilen der Welt – spielt eine Rolle. In Kapitel 3 werden wir alle Faktoren, die uns zum Messen mit mehrerlei Maß veranlassen, im Detail erläutern. 2.1.2 Straßennamen, Satire und Filme – Beispiele aus dem gesellschaftlichen Diskurs
In den letzten Jahren findet verstärkt eine Diskussion über Straßennamen, Inhalte von Büchern und Filmen sowie über Denkmäler statt. Im Lichte heutiger Auffassungen über Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Chauvinismus, Sexismus oder Kolonialismus werden diese einer kritischen Analyse unterzogen. Bei diesen Untersuchungen sind recht häufig Inkonsistenzen in der Beurteilung zu erkennen. Beispielsweise findet man beim Thema Vergabe von Straßennamen in Deutschland allein schon je nach Region und Stadt unterschiedliche Vorgehensweisen. In Gegenden, die früher zur DDR gehörten, findet man nach wie vor Ernst-Thälmann-Straßen, im ehemaligen Westen war und ist diese Straßenbezeichnung nicht denkbar. Manche Städte und Gemeinden haben schlichtweg keine Mittel, um teure Untersuchungen von Historikern durchführen zu lassen; die alten Schilder bleiben dann einfach. Hat man das Geld für solche Aktionen, kann folgendes passieren: Selbst in derselben Stadt werden unterschiedliche Personen, deren Namen auf den Schildern stehen, nicht konsistent nach den vorgeblichen Kriterien beurteilt. Das übliche Vorgehen bei der »Überarbeitung« der Straßennamen sieht grob eine Einteilung in folgende Kategorien vor.4 Es gibt Schilder, die ohne Kommentar bleiben können. Wenn eine Person ein Fehlverhalten im Sinne der definierten Kriterien vorgeworfen wird, dieses Fehlverhalten aber als weniger bedeutungsvoll eingestuft wird, dann soll ein Schild zum Straßenschild mit entsprechenden Hinweisen angebracht werden. Bei eklatantem Fehlverhalten in einer oder mehreren Kategorien soll ein Austausch der Namensgebung stattfinden. Offensichtich ist eine trennscharfe Einleitung in Kategorien sowie eine entsprechende »Einsortierung« keine leichte Aufgabe und es steht zu vermuten, dass man trefflich darüber Dispute führen kann – aber nicht nur das. In manchen Fällen wird schlicht mit mindestens zweierlei Maß gemessen. Prominente Beispiele, die durch die Medien verbreitet wurden, sind unter anderem Luther, Kant oder Marx. Diese sind allesamt als »Judenhasser« in verschiedenen Ausprägungen bekannt. Ganz eklatant findet sich diese Attitüde bei Martin Luther. In den wenigsten Fällen wurde in...