E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Völker Ein Weltall des Kapitals
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-3044-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Überwindung der terrestrischen Vernunft
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7518-3044-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach langer Stille um die staatlichen Raumfahrtprogramme erlebt die Weltraumfahrt eine Renaissance unter dem Vorzeichen der Privatisierung. Touristen werden ins All befördert, Pläne zum Bergbau auf Asteroiden ins Auge gefasst, neue Stätten der Menschheit gesucht – so beginnt die Kolonisation des Weltalls. Einher geht damit die Verfertigung eines neuen Menschenbildes, in dem die Realität vollkommen störungsfrei mit der Imagination übereinkommen soll. Ein Bild, wie Jan Völker anekdotenreich, zugleich mit bestechender Stringenz darlegt, aus dem das Unbewusste ausgeschieden ist. Es trachtet nicht nur danach, die Grenzen der mit Kant begründeten Vernunft zu überwinden, sondern auch das von den Apollo-Missionen geschaffene Bild der Erde, das diese als Umwelt des Menschen zeigte und zur Sorge um den Planeten drängte. Im Blick des Kapitals erweist sich die Erde so nur noch als ein zukünftig verlassener Ort, als Ausgangspunkt für eine neue Wirklichkeit des Menschen – der kommenden Apokalypse überlassen.
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2. Foto-Grafien der Erde
Am 21. Juli 1969 landeten die Astronauten der Mission Apollo 11 auf dem Mond. Der berühmte kleine Schritt für einen Menschen, mit dem Neil Armstrong den Mond betrat, wurde live im Fernsehen übertragen und so zu einem großen Schritt für die Menschheit. 500 bis 600 Millionen Fernsehzuschauer weltweit verfolgten das Spektakel, die Hälfte aller Fernsehgeräte war eingeschaltet. Die symbolische Bedeutung der aufgepflanzten amerikanischen Fahne war immens: Der Mondlandung vorausgegangen war der Wettlauf der beiden großen Mächte des Kalten Kriegs, der Sowjetunion und der USA, um die Vorherrschaft im All. Ein neues Kapitel dieser Auseinandersetzung war eröffnet, aber keine weitere Aktion im All entfaltete eine ähnliche Kraft. Nach weiteren Landungen bis in die Siebzigerjahre hinein wurden die Programme zurückgefahren, und die bemannte Raumfahrt schien an ein Ende gekommen. So wie der Kampf um die Vorherrschaft im All in die binäre Logik der Auseinandersetzung der Großmächte eingeschrieben war, so schien sich mit dem Wegfall der Auseinandersetzung die symbolische Bedeutung der Mondlandungen endgültig zu verflüchtigen. Die kostenintensiven Bestrebungen der Monderkundungen kamen zum Erliegen, nur kurze Zeit später gefolgt von dem jähen Anschein eines Endes der Geschichte, als die Sowjetunion unterging. Seitdem wird gemeinsam auf Stationen gearbeitet, historische Händedrucke getauscht, aber alle Gemeinsamkeit beschränkt sich auf erdnahe Umlaufbahnen – den Mond betreten hat seit 1972 niemand mehr.
In den letzten Jahren aber hat das Vorhaben einer Mondlandung wieder Konjunktur. Vor dem Hintergrund einer Weltpolitik, der die binäre Ordnung abhandengekommen ist, treten nun verschiedene Mächte auf den Plan, die sich die Mondlandung zum Ziel gesetzt haben. Die USA wollen im Jahr 2025 eine erste vorbereitende Mission starten, ein Jahr später dann auf dem Mond landen und die Infrastruktur für regelmäßige Erkundungen errichten. Es gibt auch Pläne der Russen, der Inder und der Chinesen, also jenen drei anderen Nationen, denen es bislang gelungen ist, einen Roboter auf dem Mond zu landen. Auch sie streben jetzt danach, eigene Astronauten auf dem Mond absetzen zu können.
Nicht allein Mondlandungen sind wieder im Gespräch, sondern die Weltraumfahrt überhaupt erlebt eine unerwartete, mächtige Renaissance. Allerdings haben sich die Vorzeichen gewandelt. Die grundlegenden Parameter, innerhalb der die neuen Weltraumfahrten seit den frühen 2000er-Jahren geplant und ausgeführt werden, haben sich verschoben: Die heutige Weltraumfahrt wird nicht mehr ausschließlich staatlich gelenkt, die entscheidenden Impulse gehen vielmehr von privatwirtschaftlichem Kapital aus. Es sind vor allem privatwirtschaftliche Unternehmen, die die alten, teils verwaisten Raumbasen übernommen haben, neue Raketensysteme testen, Satelliten ins All schießen und schließlich auch den staatlichen Raumfahrtprogrammen ihre Unterstützung offerieren. Die Raumfahrt-Renaissance legt so Zeichen ab von der Ersetzung staatlicher Programme durch Vorhaben börsennotierter Firmen und Start-ups – der Flug in den Weltraum ist zum Signum einer Welt geworden, die die große Politik hinter sich gelassen hat und nun in ein neues symbolisches Koordinatensystem eingesponnen wird.
Um den Kontrast, die Ausmaße der Verschiebung symbolischer Bedeutung zu erkennen, gilt es, sich nicht nur das entscheidende Ereignis der Raumfahrt, die Mondlandung von 1969, die alle vorigen Unterfangen in ihren Schatten stellte, in Erinnerung zu rufen, sondern die gesamte Serie von Flügen, deren Höhepunkt die Mondlandung von 1969 bildet, zu betrachten, da sie nicht nur die Bilder vom Mond hervorbrachten, sondern auch die nicht minder spektakulären, sogar weitaus einflussreicheren Bilder vom »blauen Planeten«. Zwar waren in verschiedenen Auflösungen und mit verschiedenen Ausschnitten bereits seit den 1940er-Jahren Teilaufnahmen der Erde gelungen, aber die einprägsamen Farbaufnahmen, die bis heute unser Bild der Erde prägen – das ikonische Bild wurde 1972 aufgenommen –, entstanden im Rahmen der Apollo-Missionen.
Diese Bilder eröffneten dem Menschen erstmalig eine Außensicht auf sein Habitat. Der Mensch schaut auf sich und seinen Lebensraum hinab, und die Erde, die zuvor in ihrer Gesamtheit nur komplexen, abstrakten Darstellungen zugänglich war, leuchtet in einer für jeden nachvollziehbaren Sichtbarkeit auf. Dabei verweist die Eindrücklichkeit des blauen Planeten auch auf einen Menschen, der in seiner Existenz mit dem Planeten verwoben ist, dessen Fragilität und Abhängigkeit zugleich sichtbar werden zu scheint. Wenig verwunderlich also, dass die Bilder mit dem Beginn des Umweltschutzes – der erste Earth Day fand 1970 statt – historisch koinzidieren und das Bild von 1972 zum ikonischen Zeichen der Umweltschutzbewegung weltweit wurde. Alles scheint so, als wäre die Sichtbarkeit notwendig gewesen, um einen Begriff der Zusammenhänge zu gewinnen.
Die Welt wird Bild, und das Bild als ein unhintergehbarer Imperativ befiehlt Sorge an. Somit schließt sich eine Entwicklung, die Martin Heidegger bereits 1938 unter dem Titel der »Zeit des Weltbildes« gefasst hatte. Die Bildwerdung der Welt stellte für Heidegger eine Entwicklung der Neuzeit dar, in der sich eine doppelläufige Bewegung vollzieht. Zum einen verändert sich die Wissenschaft zu einer Forschung, die ihre Gegenstände vorstellbar macht, sie vergegenständlicht. Sie holt ihre Gegenstände in einen Raum des Rechnens und Kalkulierens, in dem sie dem experimentellen Nachvollzug und dem Wissen verfügbar gemacht werden. Zum anderen entwickelt sich parallel zu dieser Objektivierung der Welt das Bewusstsein vom Menschen als Subjekt, der zur »Bezugsmitte des Seienden als solchen« erhoben wird.31 Der Mensch, dessen Gestalt dann von der Anthropologie erforscht wird, begründet und bezieht also die Dinge der Welt auf sich. Diese doppelte Bewegung lässt die Welt zum Bild werden, einem Bild, das der Mensch sich vor-stellt:
Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. […] Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen.32
Weil es der Mensch ist, der das Seiende so einrichtet, dass es ihm verfügbar ist, wird in den Überlegungen Heideggers auch eine Sorge und Verantwortlichkeit des Menschen für das so Eingerichtete ersichtlich. Der Mensch steht der Welt nicht einfach gegenüber, sondern er trägt eine Verantwortung für seine Welt, wobei Heideggers Diagnose nicht vollkommene Machbarkeit ist. Er attestiert der scheinbar grenzenlosen Berechenbarkeit vielmehr auch einen Umschlag in eine neue Unberechenbarkeit. Im eingerichteten Weltbild erscheint erneut etwas Unbegreifliches, gerade in Form der durchgängigen Berechnung. Nirgends wird dieses Zusammenspiel von Einrichtung der Welt, Sorge um die Welt und Unberechenbarkeit sichtbarer als im berühmten Bild des blauen Planeten, der die Welt als Bild und als fragile Umwelt des Menschen zeigt.
Heidegger selbst hat die Mondlandung nicht ausdrücklich als einen Abschluss der Bildwerdung der Erde hervorgehoben, aber er hat deutlich gemacht, dass sie Ausdruck einer Technik ist, die sich einen Gegenstand wie den nächsten unterwirft. Entsprechend stellte er sie 1969, im Seminar in Le Thor, dem griechischen Staunen vor der Überfülle des Seienden entgegen: »Im äußersten Gegensatz dazu kann man sagen, daß wenn die Astronauten den Mond betreten, der Mond als Mond verschwindet. Er geht nicht mehr auf noch unter. Er ist nur noch eine Rechnungsgröße der technischen Unternehmungen des Menschen.«33
Für Heidegger ist es eine Verselbstständigung der Technik, die die terrestrische Vernunft zu ihrem Ende bringt. Allerdings sind das keine guten Nachrichten. Im 1966 geführten, aber erst 1976 nach seinem Tod veröffentlichten Spiegel-Interview heißt es:
Ich weiß nicht, ob Sie erschrocken sind, ich bin jedenfalls erschrocken, als ich jetzt die Aufnahmen vom Mond zur Erde sah. Wir brauchen gar keine Atombombe, die Entwurzelung des Menschen ist schon da. Wir haben nur noch rein technische Verhältnisse. Das ist keine Erde mehr, auf der der Mensch heute lebt.34
In dem Interview bezieht Heidegger sich vermutlich auf Bilder, die vom unbemannten Lunar Orbiter 1 aufgenommen wurden. Hätte er Aufnahmen gesehen, für die ein Astronaut den Auslöser betätigte, hätte sich seine Einschätzung sicherlich nicht verändert, doch der Schock wäre wohl noch umfangreicher ausgefallen, denn was sich für Heidegger bereits abzeichnete, ist die Auflösung der terrestrischen Vernunft – und damit der Vernunft überhaupt – in technischen Verhältnissen.
Anders der Heidegger-Schüler Emmanuel Levinas. Ein paar Jahre zuvor, 1961, hatte er sich in einem kleinen Text mit dem schönen Titel »Heidegger, Gagarin und wir« gegen Heideggers Idee der Verwurzelung gestellt. Die Technik, so Levinas gegen Heidegger, befreie uns von den Wurzeln, die den Menschen allein an den Ort binden und so die Unterscheidung von Einheimischen und Fremden ermöglichten.35 Gagarins »Großtat« habe darin bestanden, den »Ort verlassen zu haben«.36 Die Bindung an den Ort, deren Verlust Heidegger erschreckt, ist für Levinas eine Erleichterung. Allerdings, so sehr man sich an Heideggers Rede von der Verwurzelung stoßen mag, so muss man ihm doch zugestehen, dass der Beginn des...